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Efi Latsoudi ist Trägerin des Nansen-Flüchtlingspreises 2016 und Teil von Refugee Support Aegean (RSA), dem PRO ASYL - Projekt in der Ägäis.

Efi Latsoudi setzt sich in ihrer täglichen Arbeit für Refugee Support Aegean (RSA) auf Lesvos für die Rechte von Schutzsuchenden ein. Sie ist Mitunterzeichnerin der Mytilini Erklärung für einen würdevollen Umgang mit allen vermissten & verstorbenen Migrant*innen und ihren Familien. Im Interview berichtet sie über den traurigsten Teil ihrer Arbeit.

Efi, Schiff­brü­che sind trau­ri­ge Rea­li­tät der Flücht­lings­ar­beit auf Les­vos. Wie gehst du per­sön­lich mit die­sen dra­ma­ti­schen Erleb­nis­sen um?

Wenn es zu Schiffs­brü­chen kommt ste­hen alle unter Schock. Jedes Mal, wenn wir davon hören, hof­fen wir, dass es das letz­te Mal sein wird. Jeder Vor­fall ist für alle Betei­lig­ten sehr trau­ma­tisch. Es sind Vor­fäl­le vol­ler Schmerz und Frus­tra­ti­on, denen wir ver­su­chen mit Soli­da­ri­tät zu begeg­nen. Immer geht mir durch den Kopf, dass das nicht pas­sie­ren darf. Ich kann nicht ver­ste­hen, war­um Men­schen auf der Suche nach einem siche­ren Ort unter sol­chen Bedin­gun­gen ster­ben müssen.

Wie erfahrt ihr, dass wie­der Men­schen bei der Über­fahrt ums Leben gekom­men sind oder ver­misst werden? 

Das ist von Fall zu Fall unter­schied­lich: Manch­mal bit­ten uns Flücht­lin­ge um Hil­fe, die Freun­de oder Ver­wand­te ver­mis­sen, manch­mal wer­den wir von Soli­da­ri­täts­grup­pen infor­miert. Es gab Fäl­le, bei denen wir von Kolleg*innen auf der tür­ki­schen Sei­te der Ägä­is kon­tak­tiert wor­den sind oder sogar von grie­chi­schen Behör­den, zu Zei­ten als wir sehr stark invol­viert waren.

Was sind die nächs­ten Schritte?

Es ist zunächst sehr wich­tig zu ver­ste­hen, was genau pas­siert ist. Wer ist invol­viert, was ist erfor­der­lich, wel­che Art von Unter­stüt­zung wird benö­tigt? Oft ste­hen die Über­le­ben­den und ihre Ange­hö­ri­gen unter Schock oder sind trau­ma­ti­siert. Ihre Bedürf­nis­se ste­hen an ers­ter Stel­le. Wir kön­nen dabei kei­nem Stan­dard­ver­fah­ren fol­gen, weil jede Situa­ti­on unter­schied­lich ist und jeder Mensch anders reagiert. Es ist das Wich­tigs­te zunächst zuzu­hö­ren. Und – wenn dies mög­lich ist – einen Raum für die Über­le­ben­den und die Ange­hö­ri­gen zu schaf­fen, an dem sie trau­ern kön­nen. Das ist lei­der schwe­rer als es klingt.

»Eine Situa­ti­on ist mir beson­ders in Erin­ne­rung geblie­ben: Wir sind als RSA-Team zum Kran­ken­haus gegan­gen. Dort tra­fen wir eine Mut­ter, die drei Kin­der ver­lo­ren hat­te. So etwas über­wäl­tigt dich – der Schmerz und der Verlust.«

Efi Latsou­di

In den Jah­ren 2015/ 2016 wart Ihr mit beson­ders vie­len Unglü­cken kon­fron­tiert. Gibt es rück­bli­ckend Erfah­run­gen, die dich beson­ders geprägt haben? 

Die gesam­te Zeit hat mich nach­hal­tig beein­flusst. Beson­ders im Som­mer 2015, etwa bis Okto­ber, sind sehr vie­le Men­schen bei Über­fahr­ten ertrun­ken. Wir muss­ten vie­le Beer­di­gun­gen bewäl­ti­gen und unter­stütz­ten zahl­rei­che Men­schen, die ihre Ange­hö­ri­gen ver­lo­ren hat­ten oder Fami­li­en­mit­glie­der ver­miss­ten. Eine Situa­ti­on ist mir beson­ders in Erin­ne­rung geblie­ben: Wir sind als RSA-Team zum Kran­ken­haus gegan­gen. Dort tra­fen wir eine Mut­ter, die drei Kin­der ver­lo­ren hat­te. Ich konn­te mir das nicht vor­stel­len. So etwas über­wäl­tigt dich – der Schmerz und der Verlust.

Men­schen so kurz nach dem Unglück zu begeg­nen war eine unglaub­lich schwie­ri­ge Erfah­rung für uns. Wir haben viel Zeit mit ihnen ver­bracht. Wir waren nicht sicher, ob Men­schen eine sol­che Erfah­rung ver­ar­bei­ten kön­nen und ob wir Ihnen dabei zur Sei­te ste­hen kön­nen. Auch wir hat­ten damals kaum Zeit das Erleb­te zu ver­ar­bei­ten. Es sind Situa­tio­nen, in denen dei­ne eige­nen Bedürf­nis­se an Bedeu­tung ver­lie­ren. Anfangs hat uns das viel­leicht gehol­fen. Umso pro­fes­sio­nel­ler jedoch unse­re Arbeit wur­de, des­to mehr hät­ten wir auch unser eige­nes Limit berück­sich­ti­gen müs­sen, das ist zu spät pas­siert. Wenn du an der Front­li­nie arbei­test, wo Ver­sor­gungs­lü­cken oft sehr groß sind, hast du das Gefühl, dass, wenn du nicht da bist, die Din­ge noch viel schlim­mer wer­den kön­nen. Das ist ver­mut­lich wahr, aber die Kos­ten eines Burn­outs sind auch sehr hoch. Es haben sich vie­le trau­ma­ti­sche Erfah­run­gen ansam­meln, ohne dass wir ihnen Raum geben konnten.

Auch mit tür­ki­schen Orga­ni­sa­ti­on und Aktivist*innen seid ihr gut ver­netzt, um Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen an Flücht­lin­gen entgegenzutreten. 

Die Zusam­men­ar­beit mit unse­ren Kolleg*innen auf der tür­ki­schen Sei­te der Ägä­is, die wir seit Jah­ren ken­nen und denen wir ver­trau­en, ist etwas sehr wich­ti­ges für unse­re Arbeit. Manch­mal ret­ten sich Über­le­ben­de eines Unglücks  auf bei­de Sei­ten der Ägä­is und auch die Toten kön­nen an unter­schied­li­chen Orten ange­schwemmt wer­den. Kon­tak­te auf der tür­ki­schen Sei­te sind essen­ti­ell für die Suche nach Opfern und Über­le­ben­den und um Per­so­nen zu identifizieren.

Was sind aus dei­ner Sicht die dring­lichs­ten For­de­run­gen zum Schutz der Hinterbliebenen?

Es gibt vie­le. Fast alle sind auf die Dis­kri­mi­nie­rung der Opfer zurück­zu­füh­ren. Was fehlt ist die ein­fa­che Akzep­tanz, dass alle Hin­ter­blie­be­nen und Über­le­ben­den in die­ser Situa­ti­on geschützt, unter­stützt und respek­tiert wer­den müs­sen. Ihr Schutz muss an ers­ter Stel­le ste­hen. Was wir brau­chen ist ein Rah­men, der es erlaubt zu Trau­ern und mit dem Schmerz umge­hen zu ler­nen. Aber das Gegen­tei­li­ge ist der Fall.

Wir müs­sen uns für eigent­lich selbst­ver­ständ­li­che Din­ge ein­set­zen, etwa dass eine Mut­ter, die ihre Kin­der vor ein paar Stun­den hat ertrin­ken sehen, nicht unmit­tel­bar regis­triert und befragt wird. 

Der­zeit erle­ben wir die Retrau­ma­ti­sie­rung Betrof­fe­ner in den büro­kra­ti­schen Pro­zes­sen nach der Ber­gung und ihre Kri­mi­na­li­sie­rung inner­halb der unmit­tel­bar fol­gen­den Befra­gun­gen. Wir müs­sen uns für eigent­lich selbst­ver­ständ­li­che Din­ge ein­set­zen, etwa dass eine Mut­ter, die ihre Kin­der vor ein paar Stun­den hat ertrin­ken sehen, nicht unmit­tel­bar regis­triert und befragt wird. Wir müs­sen die Bedürf­nis­se, die die Betrof­fe­nen arti­ku­lie­ren, respek­tie­ren. Meis­tens wis­sen sie am bes­ten, was sie brauchen.

Inter­view: Judith Kopp