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»Die Menschenwürde zu verteidigen ist kein Luxus, sondern eine menschliche Pflicht«

Efi Latsoudi setzt sich in ihrer täglichen Arbeit für Refugee Support Aegean (RSA) auf Lesvos für die Rechte von Schutzsuchenden ein. Sie ist Mitunterzeichnerin der Mytilini Erklärung für einen würdevollen Umgang mit allen vermissten & verstorbenen Migrant*innen und ihren Familien. Im Interview berichtet sie über den traurigsten Teil ihrer Arbeit.
Efi, Schiffbrüche sind traurige Realität der Flüchtlingsarbeit auf Lesvos. Wie gehst du persönlich mit diesen dramatischen Erlebnissen um?
Wenn es zu Schiffsbrüchen kommt stehen alle unter Schock. Jedes Mal, wenn wir davon hören, hoffen wir, dass es das letzte Mal sein wird. Jeder Vorfall ist für alle Beteiligten sehr traumatisch. Es sind Vorfälle voller Schmerz und Frustration, denen wir versuchen mit Solidarität zu begegnen. Immer geht mir durch den Kopf, dass das nicht passieren darf. Ich kann nicht verstehen, warum Menschen auf der Suche nach einem sicheren Ort unter solchen Bedingungen sterben müssen.
Wie erfahrt ihr, dass wieder Menschen bei der Überfahrt ums Leben gekommen sind oder vermisst werden?
Das ist von Fall zu Fall unterschiedlich: Manchmal bitten uns Flüchtlinge um Hilfe, die Freunde oder Verwandte vermissen, manchmal werden wir von Solidaritätsgruppen informiert. Es gab Fälle, bei denen wir von Kolleg*innen auf der türkischen Seite der Ägäis kontaktiert worden sind oder sogar von griechischen Behörden, zu Zeiten als wir sehr stark involviert waren.
Was sind die nächsten Schritte?
Es ist zunächst sehr wichtig zu verstehen, was genau passiert ist. Wer ist involviert, was ist erforderlich, welche Art von Unterstützung wird benötigt? Oft stehen die Überlebenden und ihre Angehörigen unter Schock oder sind traumatisiert. Ihre Bedürfnisse stehen an erster Stelle. Wir können dabei keinem Standardverfahren folgen, weil jede Situation unterschiedlich ist und jeder Mensch anders reagiert. Es ist das Wichtigste zunächst zuzuhören. Und – wenn dies möglich ist – einen Raum für die Überlebenden und die Angehörigen zu schaffen, an dem sie trauern können. Das ist leider schwerer als es klingt.
»Eine Situation ist mir besonders in Erinnerung geblieben: Wir sind als RSA-Team zum Krankenhaus gegangen. Dort trafen wir eine Mutter, die drei Kinder verloren hatte. So etwas überwältigt dich – der Schmerz und der Verlust.«
In den Jahren 2015/ 2016 wart Ihr mit besonders vielen Unglücken konfrontiert. Gibt es rückblickend Erfahrungen, die dich besonders geprägt haben?
Die gesamte Zeit hat mich nachhaltig beeinflusst. Besonders im Sommer 2015, etwa bis Oktober, sind sehr viele Menschen bei Überfahrten ertrunken. Wir mussten viele Beerdigungen bewältigen und unterstützten zahlreiche Menschen, die ihre Angehörigen verloren hatten oder Familienmitglieder vermissten. Eine Situation ist mir besonders in Erinnerung geblieben: Wir sind als RSA-Team zum Krankenhaus gegangen. Dort trafen wir eine Mutter, die drei Kinder verloren hatte. Ich konnte mir das nicht vorstellen. So etwas überwältigt dich – der Schmerz und der Verlust.
Menschen so kurz nach dem Unglück zu begegnen war eine unglaublich schwierige Erfahrung für uns. Wir haben viel Zeit mit ihnen verbracht. Wir waren nicht sicher, ob Menschen eine solche Erfahrung verarbeiten können und ob wir Ihnen dabei zur Seite stehen können. Auch wir hatten damals kaum Zeit das Erlebte zu verarbeiten. Es sind Situationen, in denen deine eigenen Bedürfnisse an Bedeutung verlieren. Anfangs hat uns das vielleicht geholfen. Umso professioneller jedoch unsere Arbeit wurde, desto mehr hätten wir auch unser eigenes Limit berücksichtigen müssen, das ist zu spät passiert. Wenn du an der Frontlinie arbeitest, wo Versorgungslücken oft sehr groß sind, hast du das Gefühl, dass, wenn du nicht da bist, die Dinge noch viel schlimmer werden können. Das ist vermutlich wahr, aber die Kosten eines Burnouts sind auch sehr hoch. Es haben sich viele traumatische Erfahrungen ansammeln, ohne dass wir ihnen Raum geben konnten.
Auch mit türkischen Organisation und Aktivist*innen seid ihr gut vernetzt, um Menschenrechtsverletzungen an Flüchtlingen entgegenzutreten.
Die Zusammenarbeit mit unseren Kolleg*innen auf der türkischen Seite der Ägäis, die wir seit Jahren kennen und denen wir vertrauen, ist etwas sehr wichtiges für unsere Arbeit. Manchmal retten sich Überlebende eines Unglücks auf beide Seiten der Ägäis und auch die Toten können an unterschiedlichen Orten angeschwemmt werden. Kontakte auf der türkischen Seite sind essentiell für die Suche nach Opfern und Überlebenden und um Personen zu identifizieren.
Was sind aus deiner Sicht die dringlichsten Forderungen zum Schutz der Hinterbliebenen?
Es gibt viele. Fast alle sind auf die Diskriminierung der Opfer zurückzuführen. Was fehlt ist die einfache Akzeptanz, dass alle Hinterbliebenen und Überlebenden in dieser Situation geschützt, unterstützt und respektiert werden müssen. Ihr Schutz muss an erster Stelle stehen. Was wir brauchen ist ein Rahmen, der es erlaubt zu Trauern und mit dem Schmerz umgehen zu lernen. Aber das Gegenteilige ist der Fall.
Wir müssen uns für eigentlich selbstverständliche Dinge einsetzen, etwa dass eine Mutter, die ihre Kinder vor ein paar Stunden hat ertrinken sehen, nicht unmittelbar registriert und befragt wird.
Derzeit erleben wir die Retraumatisierung Betroffener in den bürokratischen Prozessen nach der Bergung und ihre Kriminalisierung innerhalb der unmittelbar folgenden Befragungen. Wir müssen uns für eigentlich selbstverständliche Dinge einsetzen, etwa dass eine Mutter, die ihre Kinder vor ein paar Stunden hat ertrinken sehen, nicht unmittelbar registriert und befragt wird. Wir müssen die Bedürfnisse, die die Betroffenen artikulieren, respektieren. Meistens wissen sie am besten, was sie brauchen.
Interview: Judith Kopp