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Viele militärdienstpflichtige Männer aus Russland, Belarus und der Ukraine fliehen, um sich dem Krieg zu entziehen. Foto: Diego Gonzalez/ Unsplash

Im Herbst 2022 waren sich viele deutsche Politiker*innen einig, dass russische Deserteure, Militärdienstentzieher und Verweigerer geschützt werden sollen. Doch das BAMF schafft andere Fakten. PRO ASYL und Connection e.V fordern deutliche Verbesserungen für Verweigerer aller Seiten, die nicht in diesem Krieg kämpfen wollen.

Ende Janu­ar 2023 lehn­te das Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) den Asyl­an­trag eines rus­si­schen Ver­wei­ge­rers ab, der sich einer mög­li­chen Rekru­tie­rung ent­zo­gen hat­te, und schrieb in dem Bescheid: »Es ist nicht mit beacht­li­cher Wahr­schein­lich­keit davon aus­zu­ge­hen, dass der Antrag­stel­ler gegen sei­nen Wil­len zwangs­wei­se zu den Streit­kräf­ten ein­ge­zo­gen würde.«

Wie kann das sein? Noch im Sep­tem­ber 2022 gab es in Deutsch­land eine sel­te­ne par­tei­über­grei­fen­de Einig­keit, dass rus­si­sche Mili­tär­dienst­ent­zie­her, Ver­wei­ge­rer und Deser­teu­re geschützt wer­den sol­len. Das BAMF aber schafft Fak­ten, lehnt einen Ver­wei­ge­rer ab ­und bezieht sich dabei auf längst über­hol­te Argu­men­te. Es stellt sich die Fra­ge, wie vie­le der­ar­ti­ge Beschei­de vom Bun­des­amt für Migra­ti­on aus­ge­stellt wur­den, die in so ekla­tan­ter Wei­se die Rech­te der Antrag­stel­ler verletzen.

Veraltete Argumentation

Aus­führ­lich lau­tet die Begrün­dung des Bun­des­am­tes: »Aller­dings ist nicht mit beacht­li­cher Wahr­schein­lich­keit davon aus­zu­ge­hen, dass der Antrag­stel­ler, ein (über 40-jäh­ri­ger) Staats­an­ge­hö­ri­ger der Rus­si­schen Föde­ra­ti­on, der nach sei­nen Anga­ben kei­nen Wehr­dienst abge­leis­tet hat und damit nicht über mili­tä­ri­sche Vor­kennt­nis­se und auch sonst nicht über (mili­tä­risch rele­van­te) Spe­zi­al­kennt­nis­se ver­fügt, über­haupt gegen sei­nen Wil­len zwangs­wei­se zu den Streit­kräf­ten ein­ge­zo­gen wür­de. Gemäß § 22 des föde­ra­len Geset­zes »Über die Wehr­pflicht und den Mili­tär­dienst« wer­den alle männ­li­chen rus­si­schen Staats­an­ge­hö­ri­gen im Alter zwi­schen 18 und 27 Jah­ren zur Stel­lung für den Pflicht­dienst in der rus­si­schen Armee ein­be­ru­fen. Aus den vor­lie­gen­den Erkennt­nis­mit­teln ergibt sich nicht, dass die Rus­si­sche Föde­ra­ti­on aus Anlass des Krie­ges mit der Ukrai­ne über die genann­te Alters­grup­pe hin­aus im Rah­men einer Teil- oder Gene­ral­mo­bil­ma­chung wei­te­re Jahr­gän­ge zu den Streit­kräf­ten ein­zie­hen wür­de oder eine sol­che Mobil­ma­chung in abseh­ba­rer Zeit bevor­ste­hen wür­de. Eine sol­che Mobil­ma­chung wird auch sonst für unwahr­schein­lich gehal­ten, ins­be­son­de­re, da sie nicht mit dem rus­si­schen Nar­ra­tiv einer nach Plan ver­lau­fen­den, begrenz­ten »Spe­zi­al­ope­ra­ti­on« zu ver­ein­ba­ren und innen­po­li­tisch kaum zu ver­mit­teln wäre.« Die­ser Bescheid erging im Janu­ar 2023, also vier Mona­te nach der Ver­kün­dung der Teil­mo­bil­ma­chung in Russland.

Auch die wei­te­re Fak­ten­la­ge wird von Orga­ni­sa­tio­nen, die sich seit vie­len Jah­ren mit die­sen The­men beschäf­ti­gen, ganz anders ein­ge­schätzt. Der Inter­na­tio­na­le Ver­söh­nungs­bund führ­te Mit­te Okto­ber 2022 in einer Exper­ti­se für die Ver­ein­ten Natio­nen aus: »In der Pra­xis wer­den Vor­la­dun­gen an Wehr­pflich­ti­ge ohne Unter­schrift in den Brief­kas­ten gesteckt. Das Datum des Erschei­nens kann außer­halb der Ein­be­ru­fungs­fris­ten ange­ge­ben wer­den. Und anstel­le des spe­zi­fi­schen Zwecks des Auf­rufs ent­hält die Vor­la­dung die all­ge­mei­ne For­mu­lie­rung »Klä­rung von Daten«. Wenn ein Wehr­pflich­ti­ger in einer sol­chen Situa­ti­on ein Mili­tär­kom­mis­sa­ri­at auf­sucht, kann er sofort am Tag des Besuchs zum Mili­tär­dienst ein­be­ru­fen werden.«

Anders als vom BAMF behaup­tet, ist eine Rekru­tie­rung auch über das 27. Lebens­jahr hin­aus möglich.

For­mal, dem Gesetz nach, sind für Erfas­sung, Mus­te­rung und Ein­be­ru­fung amt­li­che per­sön­lich zuge­stell­te Schrei­ben not­wen­dig. Der Wehr­pflich­ti­ge muss den Emp­fang mit sei­ner Unter­schrift bestä­ti­gen. Die­ser for­ma­le Weg wird aber in Russ­land nicht mehr ein­ge­hal­ten. Anders als vom BAMF behaup­tet, ist eine Rekru­tie­rung auch über das 27. Lebens­jahr hin­aus mög­lich. Am 25. Mai 2022 ver­ab­schie­de­te die Duma ein Gesetz, womit auch Män­ner bis zu 65 Jah­ren zur Armee ein­ge­zo­gen wer­den können.

Razzien und Straßenkontrollen zur Rekrutierung

Wäh­rend der Teil­mo­bil­ma­chung im Sep­tem­ber und Okto­ber 2022 gab es Raz­zi­en und Stra­ßen­kon­trol­len zur Rekru­tie­rung, wie die Exper­ti­se wei­ter aus­führt: »Seit Beginn der Mobi­li­sie­rung ist es in den Groß­städ­ten eine weit ver­brei­te­te Pra­xis, dass Poli­zei­be­am­te Män­ner auf der Stra­ße anhal­ten, ihre Papie­re über­prü­fen und ver­su­chen, ihnen eine Vor­la­dung aus­zu­hän­di­gen. In letz­ter Zeit wur­de eine wei­te­re Pra­xis in Form von Raz­zi­en ein­ge­führt. Am 9. Okto­ber kam die Poli­zei in das ‚Auf­wärm­zen­trum‘ für Obdach­lo­se in Mos­kau und nahm meh­re­re Dut­zend Per­so­nen fest. Auch in Arbei­ter­wohn­hei­men gab es Raz­zi­en. In St. Peters­burg blo­ckier­ten Poli­zei­be­am­te die Aus­gän­ge meh­re­rer Wohn­ge­bäu­de und ver­teil­ten Vor­la­dun­gen.« Zudem lagen bei den Rekru­tie­run­gen den Behör­den kei­ne Infor­ma­tio­nen über Aus­mus­te­run­gen oder Zurück­stel­lun­gen vor. Dadurch ist zu erklä­ren, war­um selbst von offi­zi­el­len rus­si­schen Stel­len die Zahl von 9.000 zu Unrecht rekru­tier­ten Per­so­nen im Zuge der Teil­mo­bil­ma­chung zuge­stan­den wur­den. Die tat­säch­li­che Zahl ist unbekannt.

EU-Länder müssen auch Lösungen für Militärdienstentzieher finden

Somit müs­sen die EU-Län­der mit Blick auf Asyl oder einen ande­ren Auf­ent­halts­sta­tus nicht nur neue Kri­te­ri­en für Deser­teu­re ent­wi­ckeln, wie es zum Bei­spiel die deut­sche Bun­des­re­gie­rung gemacht hat. Es geht auch dar­um, Lösun­gen für die gro­ße Zahl der Mili­tär­dienst­ent­zie­her zu fin­den. Denn wenn sie nach Russ­land zurück­keh­ren müs­sen, sind sie einer Rekru­tie­rung für einen völ­ker­rechts­wid­ri­gen Krieg unterworfen.

Im Rah­men des von PRO ASYL geför­der­ten Pro­jek­tes #Object­War­Cam­paign hat Con­nec­tion e.V. zahl­rei­che Fak­ten gesam­melt und dar­aus gemein­sam mit PRO ASYL Schluss­fol­ge­run­gen gezo­gen und For­de­run­gen entwickelt.

Zum Ver­ständ­nis und zur Ein­schät­zung über recht­li­che Hin­ter­grün­de und asyl­recht­li­che Mög­lich­kei­ten ist es wich­tig, die Bezeich­nun­gen zu definieren:

Die meis­ten flüch­ti­gen Mili­tär­dienst­pflich­ti­gen sind Mili­tär­dienst­ent­zie­her. Sie haben sich vor einer mög­li­chen Rekru­tie­rung dem Zugriff des Mili­tärs ent­zo­gen. Zum Teil wer­den sie auch als Wehr­dienst­flücht­lin­ge bezeichnet.

Zah­len­mä­ßig deut­lich weni­ger sind Deser­teu­re. Sie haben zumin­dest eine Ein­be­ru­fung erhal­ten und wer­den daher als Sol­da­ten ange­se­hen. Deser­teu­re flüch­ten nach Erhalt einer Ein­be­ru­fung oder wäh­rend des Militärdienstes.

Die Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rung ist eine per­sön­li­che Ent­schei­dung, nicht zum Mili­tär zu gehen. Sie wird oft gegen­über den Behör­den oder dem Mili­tär erklärt. Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rung ist 2011 vom Euro­päi­schen Gerichts­hof für Men­schen­rech­te als Men­schen­recht aner­kannt worden.

Hunderttausende fliehen auf allen Seiten

Con­nec­tion e.V. hat­te im Sep­tem­ber 2022 eine aus­führ­li­che Ana­ly­se vor­ge­legt, wie vie­le mili­tär­dienst­pflich­ti­ge Män­ner aus Russ­land, Bela­rus und der Ukrai­ne geflo­hen sind. Sol­che Zah­len kön­nen nur Schät­zun­gen sein. Es gibt kei­ne ein­deu­ti­gen Sta­tis­ti­ken über die Zahl der Men­schen, die das jewei­li­ge Land ver­las­sen haben. Es ist nicht wirk­lich bekannt, ob die Flucht vor einer Rekru­tie­rung der ein­zi­ge oder der aus­schlag­ge­ben­de Grund ist.

Unbe­kannt ist auch, wie vie­le der Flücht­lin­ge im Her­kunfts­land Aus­nah­me­re­ge­lun­gen in Anspruch neh­men kön­nen. Den­noch kam Con­nec­tion e.V. nach vor­sich­ti­ger Schät­zung im Sep­tem­ber 2022 zu dem Ergeb­nis, dass mehr als 150.000 mili­tär­dienst­pflich­ti­ge Män­ner Russ­land, über 145.000 mili­tär­dienst­pflich­ti­ge Män­ner die Ukrai­ne und mehr als 22.000 mili­tär­dienst­pflich­ti­ge Män­ner Bela­rus ver­las­sen haben.

Unter den glei­chen Vor­aus­set­zun­gen gibt es für Febru­ar 2023 fol­gen­des Ergeb­nis: Für Russ­land lie­gen kei­ne neu­en Zah­len vor, so dass es bei der Schät­zung von mehr als 150.000 mili­tär­dienst­pflich­ti­gen Män­nern bleibt, die das Land ver­las­sen haben. Für die Ukrai­ne steigt die Zahl der mili­tär­dienst­pflich­ti­gen Män­ner, die nach West­eu­ro­pa gekom­men sind, auf 175.000. Für Bela­rus lie­gen kei­ne neu­en Zah­len vor, es bleibt bei geschätzt 22.000 mili­tär­dienst­pflich­ti­gen Män­ner, die das Land ver­las­sen haben.

Zahl der Asylanträge von russischen Verweigerern steigt auf niedrigem Niveau an

Deut­lich gestie­gen ist in Deutsch­land die Zahl der Asy­l­erst­an­trä­ge von rus­si­schen Ver­wei­ge­rern. Russ­land ist im Dezem­ber 2022 in die Top 10 der Asyl­su­chen­den für das gesam­te Jahr auf­ge­stie­gen, das heißt, die Zah­len haben sich im Lauf des Jah­res 2022 signi­fi­kant erhöht. Laut BAMF haben im Novem­ber und Dezem­ber 2022 jeweils mehr als 500 Men­schen aus Russ­land einen ers­ten Asyl­an­trag gestellt, zuvor waren es 150 bis 250 im Monat. Es ist anzu­neh­men, dass hier ein Zusam­men­hang mit der Teil­mo­bil­ma­chung in Russ­land im Sep­tem­ber 2022 besteht. Ins­ge­samt haben von März bis Dezem­ber 2022 schät­zungs­wei­se 600 mili­tär­dienst­pflich­ti­ge Män­ner im Alter zwi­schen 18 und 60 Jah­ren einen Erst­asyl­an­trag in Deutsch­land gestellt.

Für West­eu­ro­pa lie­fert Euro­stat Daten über die Asy­l­erst­an­trä­ge. Dem­nach hat­ten von Janu­ar bis Juni 2022 schät­zungs­wei­se 1.200 mili­tär­dienst­pflich­ti­ge Män­ner einen Asyl­an­trag in einem der 27 west­eu­ro­päi­schen Län­der gestellt. Die­se Zahl dürf­te sich ein Jahr nach Beginn des Krie­ges im Febru­ar 2023 auf 2.800 erhöht haben. Die Asy­l­erst­an­trä­ge von bela­rus­si­schen Staats­bür­gern haben sich laut Euro­stat in den letz­ten Mona­ten kaum ver­än­dert und lie­gen euro­pa­weit bei 300 bis 500 pro Monat.

Dublin III Verordnung

In der Dub­lin-III-Ver­ord­nung ist gere­gelt, wel­ches west­eu­ro­päi­sche Land des Schen­gen-Rau­mes für das Asyl­ver­fah­ren zustän­dig ist. Häu­fig rei­sen rus­si­sche oder bela­rus­si­sche Mili­tär­dienst­ent­zie­her oder Deser­teu­re mit einem Visum eines ande­ren Lan­des, zum Bei­spiel aus Finn­land, Polen, Tsche­chi­en, Kroa­ti­en, Ita­li­en oder Spa­ni­en, ein. Auf­grund von Dub­lin-III ist dann in der Regel die­ses Land für die Bear­bei­tung des Asyl­an­tra­ges zustän­dig, selbst in den Fäl­len, in denen sie hier in Deutsch­land durch ent­fern­te­re Ver­wand­te oder Freun­de umfang­rei­che Unter­stüt­zung erhal­ten würden

Zu den Hauptfluchtländern gehören Kasachstan, Georgien und die Türkei

Doch nur die wenigs­ten Mili­tär­dienst­ent­zie­her und Deser­teu­re aus Russ­land und Bela­rus sind in Län­der West­eu­ro­pas geflo­hen. Haupt­flucht­län­der sind hin­ge­gen Kasach­stan, Geor­gi­en, Arme­ni­en, Tür­kei, auch Ser­bi­en oder Isra­el. Grund dafür ist vor allem eine sehr restrik­ti­ve Hand­ha­bung der Visa­ver­ga­be durch die Län­der des Schen­gen-Raums. Die Situa­ti­on in den Haupt­flucht­län­dern ist zum Teil pre­kär. Die Tür­kei – und seit Ende Janu­ar auch Kasach­stan – gewährt rus­si­schen Staatsbürger*innen nur einen begrenz­ten Auf­ent­halts­sta­tus von drei Mona­ten, der nicht belie­big ver­län­ger­bar ist.

Anders stellt sich dies für ukrai­ni­sche Ver­wei­ge­rer dar. Wie alle ande­ren ukrai­ni­schen Staats­bür­ger haben sie das Recht, ohne Visum in die Euro­päi­sche Uni­on ein­zu­rei­sen und erhal­ten hier zumin­dest einen befris­te­ten huma­ni­tä­ren Auf­ent­halts­sta­tus nach Para­graf 24 Auf­ent­halts­ge­setz. Aller­dings hat die Ukrai­ne mit Beginn des Krie­ges die Gren­ze für mili­tär­dienst­pflich­ti­ge Män­ner geschlos­sen. Ende 2022 wur­de berich­tet, dass im Jahr 2022 fast 12.000 mut­maß­li­che Ver­wei­ge­rer an den Gren­zen auf­ge­grif­fen wurden.

In allen drei Län­dern gibt es eine Wehr­pflicht, der alle Män­ner zwi­schen 18 und 27 Jah­ren unter­lie­gen. Russ­land hat das Alter für eine mög­li­che Ein­be­ru­fung auf 65 Jah­re erhöht, die Ukrai­ne auf 60 Jah­re. Jede Per­son müss­te das Recht haben, jeder­zeit einen Antrag auf Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rung stel­len zu kön­nen. Das wird in kei­nem der drei Län­der gewährleistet.

In Russ­land und Bela­rus ist ein Antrag nur bis zur Ein­be­ru­fung mög­lich. Es gibt kein Recht für Reser­vis­ten und Sol­da­ten, einen Antrag zu stel­len. Wenn Anträ­ge über­prüft wer­den, müss­te dies durch ein unab­hän­gi­ges Gre­mi­um erfol­gen. Tat­säch­lich aber ist in Russ­land und Bela­rus das Mili­tär an den Ent­schei­dun­gen betei­ligt. In Bela­rus wird das Recht zudem beschränkt auf reli­giö­se Kriegsdienstverweigerer.

Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rer müss­ten die Mög­lich­keit haben, einen Dienst unab­hän­gig vom Mili­tär­dienst abzu­leis­ten. Bela­rus sieht hier nur einen unbe­waff­ne­ten Dienst im Mili­tär vor. Auch in Russ­land ist durch eine Geset­zes­än­de­rung der Ein­satz von Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rern inner­halb des Mili­tärs mög­lich geworden.

Wer nicht zum Mili­tär geht, dem droht eine Bestra­fung von meh­re­ren Jah­re Haft. Schär­fer ver­folgt wird eine Deser­ti­on, ins­be­son­de­re wäh­rend eines Krieges.

In den Sepa­ra­tis­ten­ge­bie­ten wird zwangs­re­kru­tiert. Es gibt kein Recht auf Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rung. Ver­wei­ge­rer wer­den an die Front geschickt oder inhaftiert.

Die Ukrai­ne hat das bestehen­de Gesetz zur Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rung mit dem Kriegs­recht am 24. Febru­ar 2022 aus­ge­setzt. Zuvor konn­ten Ange­hö­ri­ge von zehn klei­nen reli­giö­sen Gemein­schaf­ten einen Antrag stel­len. Durch die Aus­set­zung ist ihnen die­ses Recht genom­men. Eini­ge Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rer wur­den zu

Asyl: Nur wenige Türen öffnen sich

Grund­sätz­lich ist fest­zu­stel­len, dass die Ver­fol­gung von Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rung und Deser­ti­on im All­ge­mei­nen nicht als Asyl­grund gewer­tet wird. Die ober­ge­richt­li­che Recht­spre­chung ver­weist dar­auf, dass es sich bei der Wehr­pflicht um eine all­ge­mei­ne staat­li­che Pflicht han­delt, die alle Bür­ger (oder jeden­falls alle Bür­ger im wehr­fä­hi­gen Alter und gege­be­nen­falls männ­li­chen Geschlechts) glei­cher­ma­ßen trifft; Straf­ver­fol­gung und Bestra­fung für eine Ver­wei­ge­rung wird daher als legi­ti­mes staat­li­ches Han­deln ein­ge­stuft. Die Ver­fol­gung von Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rung wird nach dem Urteil des Euro­päi­schen Gerichts­ho­fes für Men­schen­rech­te von Gerich­ten nur in Ein­zel­fäl­len als Ver­stoß gegen die Euro­päi­sche Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on gewer­tet, womit ledig­lich ein Abschie­be­schutz in Fra­ge kommt.

Allein im Fal­le rus­si­scher Deser­teu­re sieht das Bun­des­inn­mi­nis­te­ri­um dies anders, weil es davon aus­geht, dass die­sen Ver­fol­gungs­hand­lun­gen aus poli­ti­schen Grün­den dro­hen. Wört­lich heißt es in einer Mit­tei­lung des Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­ums vom Mai 2022 dazu, es kön­ne »davon aus­ge­gan­gen wer­den, dass dro­hen­de Ver­fol­gungs­hand­lun­gen in der Regel in Anknüp­fung an einen Ver­fol­gungs­grund (§ 3b AsylG) erfol­gen. Da bereits die Bezeich­nung „Krieg“, bezo­gen auf den Angriff auf die Ukrai­ne, in der Rus­si­schen Föde­ra­ti­on als oppo­si­tio­nel­le poli­ti­sche Dar­stel­lung geahn­det wer­den kann, kann eine Deser­ti­on – als akti­ves Bekun­den gegen die Kriegs­füh­rung – als Aus­druck einer oppo­si­tio­nel­len Über­zeu­gung gewer­tet werden.«

In der Mit­tei­lung des Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­ums wird jedoch aus­drück­lich wei­ter aus­ge­führt, dass rus­si­sche »Wehr­dienst­flücht­lin­ge von den Aus­füh­run­gen nicht umfasst« sind. PRO ASYL und Con­nec­tion e.V. kri­ti­sie­ren das seit Monaten.

Verweigerung der Teilnahme an einem völkerrechtswidrigen Krieges

In den Asyl­ver­fah­ren von rus­si­schen Deser­teu­ren und Ver­wei­ge­rern fin­det eine Rege­lung der euro­päi­schen Gesetz­ge­bung Anwen­dung, die soge­nann­te Qua­li­fi­ka­ti­ons­richt­li­nie. Sie regelt in Arti­kel 9, wer als Flücht­ling in der Euro­päi­schen Uni­on aner­kannt wer­den kann. Hier fin­det sich ein Pas­sus, der besagt, dass dies bei dro­hen­der Straf­ver­fol­gung wegen Ver­wei­ge­rung der Teil­nah­me an völ­ker­rechts­wid­ri­gen Krie­gen der Fall ist. Rus­si­sche Ver­wei­ge­rer, Mili­tär­dienst­ent­zie­her und Deser­teu­re sehen sich einer sol­chen Straf­ver­fol­gung aus­ge­setzt. Das könn­te auch der Fall sein, wenn, wie von bela­rus­si­schen Orga­ni­sa­tio­nen schon seit Mona­ten befürch­tet, auch Bela­rus in den Krieg ein­tritt und eige­ne Trup­pen in die Ukrai­ne ent­sen­det. In der Recht­spre­chung wird aber die Fra­ge auf­ge­wor­fen, unter wel­chen Umstän­den die­se Rege­lung greift.

Hier­über hat der Euro­päi­sche Gerichts­hof, das höchs­te Gericht der Euro­päi­schen Uni­on, bereits zwei Mal ver­han­delt. Damit wur­den eini­ge Vor­aus­set­zun­gen defi­niert, die es lei­der ange­sichts der aktu­el­len Situa­ti­on wenig wahr­schein­lich machen, dass dar­über für die Betrof­fe­nen tat­säch­lich ein Schutz erreicht wer­den kann. Denn die Betrof­fe­nen müss­ten zuvor in ihrem Land einen förm­li­chen Antrag auf Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rung gestellt haben, der abge­lehnt wur­de oder sie zumin­dest nicht davor bewahrt, als Teil der kämp­fen­den Trup­pe ins Kriegs­ge­biet ent­sen­det zu wer­den. Sie müss­ten nach­wei­sen, dass sie wirk­lich rekru­tiert wur­den und ein Ein­satz im Krieg ernst­haft droht. Kaum jemand wird die­se Kri­te­ri­en erfül­len können.

Flüchtlingsschutz bei politischer Verfolgung oder übermäßiger Bestrafung

In der Asyl­recht­spre­chung wird die Ver­fol­gung von Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rung und Deser­ti­on nur dann als rele­vant ange­se­hen, wenn die Hand­lung vom Ver­fol­ger­staat als ein poli­ti­scher Akt ange­se­hen wird oder eine über­mä­ßi­ge Bestra­fung erfolgt. Ers­te­res hat das Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um wie oben dar­ge­legt in der Stel­lung­nah­me vom Mai 2022 in Bezug auf Deser­teu­re aus Russ­land als gege­ben qua­li­fi­ziert. Wenn dies wirk­lich so umge­setzt wird, dann müss­ten zumin­dest die­je­ni­gen, die eine Ein­be­ru­fung oder eine Deser­ti­on nach­wei­sen kön­nen, Flücht­lings­schutz erhalten.

Die Mili­tär­dienst­ent­zie­hung hin­ge­gen wird nicht in die­ser Wei­se inter­pre­tiert. Die Furcht vor einer mög­li­chen Rekru­tie­rung für einen völ­ker­rechts­wid­ri­gen Krieg, wenn der Betrof­fe­ne zwangs­wei­se zurück­keh­ren muss, wird offen­sicht­lich nicht als schutz­wür­dig ange­se­hen. Auch eine mög­li­che Bestra­fung – wenn auch in gerin­ge­rem Maße – führt bis­lang zu kei­ner ande­ren Ein­schät­zung der deut­schen Behörden.

Zur Praxis des Bundesamtes für Migration

Bis­lang lie­gen Con­nec­tion e.V. nur zwei Beschei­de vor, die Asyl­an­trä­ge von Mili­tär­dienst­ent­zie­hern aus Russ­land behan­deln. In einem Fall wur­de der Antrag­stel­ler aner­kannt, aber nicht wegen der Mili­tär­dienst­ent­zie­hung, son­dern wegen sei­ner öffent­li­chen poli­ti­schen Aktivitäten.

Der ande­re, ein über 40-jäh­ri­ger Mili­tär­dienst­ent­zie­her, wur­de abge­lehnt, aus dem Bescheid wur­de zu Beginn die­ses Tex­tes zitiert. Die Kern­the­se dar­in lau­tet: »Es ist nicht mit beacht­li­cher Wahr­schein­lich­keit davon aus­zu­ge­hen, dass der Antrag­stel­ler gegen sei­nen Wil­len zwangs­wei­se zu den Streit­kräf­ten ein­ge­zo­gen wür­de.« Oben ist aus­ge­führt, war­um PRO ASYL und Con­nec­tion e.V. die­se Ent­schei­dung für grob fahr­läs­sig halten.

»Beachtliche Wahrscheinlichkeit« wird entscheidend

Ein ent­schei­den­der Punkt in den Asyl­ver­fah­ren wird die Fra­ge sein, mit wel­cher beacht­li­chen Wahr­schein­lich­keit dem Betrof­fe­nen in Russ­land eine Rekru­tie­rung droht. Bis­lang ist davon aus­zu­ge­hen, dass dies von den deut­schen Behör­den in aller Regel ver­neint wer­den wird, selbst ange­sichts von Berich­ten, die zei­gen, dass die Teil­mo­bil­ma­chung im Okto­ber 2022 auf will­kür­li­cher Basis erfolg­te und es meh­re­re Tau­send Fäl­le gab, in denen Män­ner zu Unrecht rekru­tiert wur­den. Auch die Wehr­pflich­ti­gen wer­den auf will­kür­li­cher Basis rekru­tiert. Die Betrof­fe­nen wer­den in jedem Ein­zel­fall nach­zu­wei­sen haben, dass gera­de sie mit sehr hoher Wahr­schein­lich­keit ein­be­ru­fen wor­den wären.

Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung auch für Ukrainer

Noch spricht nie­mand davon, aber in Zukunft wer­den die­se Fra­gen auch Män­ner aus der Ukrai­ne betref­fen. In zwei Jah­ren wird nach der­zei­ti­gem Stand der Din­ge der huma­ni­tä­re Sta­tus für ukrai­ni­sche Flücht­lin­ge aus­lau­fen. Das kann bedeu­ten, dass dann die ukrai­ni­schen Flücht­lin­ge – und mit ihnen mili­tär­dienst­pflich­ti­ge Män­ner – in die Ukrai­ne zurück­keh­ren müssen.

Im Fal­le einer mög­li­chen Straf­ver­fol­gung könn­ten sie sich nur dar­auf beru­fen, dass es für sie in der Ukrai­ne kei­ne Mög­lich­keit gab, die Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rung zu erklä­ren. Bereits 2014 und 2015, als eini­ge Tau­send aus der Ukrai­ne nach Deutsch­land kamen, wur­de von deut­schen Behör­den und Gerich­ten fest­ge­stellt, dass dies kein aus­rei­chen­der Grund sei, einen Schutz zu bean­spru­chen, wel­cher Art auch immer.

Forderungen an die Politik

Die Pra­xis des BAMF ent­spricht nicht der dra­ma­ti­schen und lebens­be­droh­li­chen Situa­ti­on, in der sich die Schutz­su­chen­den befin­den. Mit Blick auf die aktu­el­len Flucht­be­we­gun­gen aus Russ­land, Bela­rus und der Ukrai­ne for­dern PRO ASYL und Con­nec­tion e.V. deshalb:

- Rus­si­sche Staatsbürger*innen soll­ten auch von Län­dern außer­halb Russ­lands Anträ­ge zur Auf­nah­me in die Euro­päi­sche Uni­on stel­len kön­nen. Hier ist eine unbü­ro­kra­ti­sche Lösung nötig, die sie vor einer Abschie­bung aus einem ande­ren Land zurück nach Russ­land schützt. Huma­ni­tä­re Visa sind eine Mög­lich­keit, die die Bun­des­re­gie­rung und die ande­ren EU-Staa­ten ver­stärkt nut­zen soll­ten. Nur so erhal­ten die Men­schen die Chan­ce, auf lega­lem Weg nach Deutsch­land zu kom­men und hier um Schutz zu bit­ten. Das muss eben­so für Geflüch­te­te ande­rer Natio­na­li­tä­ten gelten.

- Die Gren­zen müs­sen geöff­net wer­den! Flücht­lin­ge müs­sen die Mög­lich­keit haben, Län­der zu errei­chen, die ihnen einen siche­ren Auf­ent­halt gewäh­ren kön­nen. Die der­zeit gül­ti­gen Rege­lun­gen für eine Visa­ver­ga­be hin­dern vie­le dar­an, siche­re Län­der zu errei­chen. Eine Auf­nah­me Schutz­su­chen­der kann nur gelin­gen, wenn die ille­ga­len Push­backs gestoppt wer­den und die Men­schen Zugang zu einem fai­ren Asyl­ver­fah­ren erhalten.

- Mit Blick auf Asyl oder einen ande­ren Auf­ent­halts­sta­tus müs­sen die EU-Län­der nicht nur Kri­te­ri­en für Deser­teu­re ent­wi­ckeln, son­dern vor allem Lösun­gen für die gro­ße Zahl der Mili­tär­dienst­ent­zie­her fin­den. Sie wären bei einer zwangs­wei­sen Rück­kehr nach Russ­land einer Rekru­tie­rung für einen völ­ker­rechts­wid­ri­gen Krieg unterworfen.

- Die EU soll­te ein Auf­nah­me­pro­gramm beschlie­ßen, damit die­je­ni­gen rus­si­schen Staatsbürger*innen, die sich unter gro­ßem Risi­ko von der Regie­rung ihres Lan­des abge­wandt haben, Mög­lich­kei­ten der Aus­bil­dung und Beschäf­ti­gung erhalten.

- Ukrai­ni­sche Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rer, die auf­grund ihrer Ent­schei­dung mehr­jäh­ri­ge Haft­stra­fen befürch­ten müs­sen, wenn sie ein­mal in die Ukrai­ne zurück­keh­ren, ver­die­nen eben­falls die Unter­stüt­zung der EU und müs­sen hier die Chan­ce auf Schutz erhal­ten. Die Ukrai­ne ist auf­zu­for­dern, das Men­schen­recht auf Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rung umzusetzen.

Wer sich einem Krieg ent­zieht, ver­dient Schutz. Aus die­ser Über­zeu­gung her­aus unter­stützt und finan­ziert PRO ASYL das Pro­jekt #Object­War­Cam­paign des Ver­eins Con­nec­tion e.V..

Rudi Fried­rich, Con­nec­tion e.V.