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BMI sorgt mit neuem Strategiepapier für Wirbel – geht aber vollkommen an der Realität vorbei
Das öffentlich diskutierte Seehofer-Papier vom 15. Oktober enthält Vorschläge des Bundesinnenministeriums »zur Beschleunigung des Dublin-Verfahrens«. Für Verwirrung sorgte, dass das Papier von den Medien als »5-Punkte-Plan zur Beschleunigung von Abschiebungen« aufgegriffen wurde. Es folgten Ratespiele zwischen Dementi und Chaos seitens des BMI.
Nimmt man den Titel des Papiers ernst, beschäftigt es sich nicht allgemein mit Abschiebungen, sondern lediglich mit der Abschiebung jener Schutzsuchender, für deren Asylverfahren nach der Dublin-Verordnung ein anderer EU-Mitgliedstaat zuständig ist. Mehr und schnellere sogenannter Dublin-Abschiebungen bedeuten: Griechenland, Bulgarien, Italien sollen mehr Schutzsuchende aufnehmen, ungeachtet dessen, dass in diesen Staaten ein menschenwürdiges Unterbringungs- und Asylprüfungssystem kaum existiert.
Dass die Umsetzung dieser Pläne nicht funktionieren kann, weiß das BMI selbst
Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und die Dublin-Verordnung verlangen entsprechend der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte eine sorgfältige Einzelfallprüfung, die so in den meisten Staaten an den EU-Außengrenzen nicht mehr gegeben ist. Dass die Umsetzung dieser Pläne also nicht funktionieren kann, weiß das Bundesinnenministerium selbst, denn im Papier heißt es: »Für eine positive Entwicklung ist es von essentieller Bedeutung, dass die Mitgliedstaaten ein Asylverfahren entsprechend der Asylverfahrens und der Aufnahme-Richtlinie gewährleisten…« Obwohl diese Gewährleistung europäisches Recht ist, wird die Umsetzung von einigen Staaten weitgehend ignoriert. Wegen der katastrophalen Zustände in Ländern wie Griechenland, Italien und Bulgarien, werden Dublin-Abschiebungen dorthin immer wieder von Gerichten untersagt.
Das Bundesverfassungsgericht und andere deutsche Gerichte haben Überstellungen von Asylsuchenden oder bereits Anerkannten nach Griechenland immer wieder gestoppt haben, vgl. VGH BaWü, Beschluss v. 15.03.2017, A 11 S 2151/17: »Die besten Aufnahmebedingungen während des Anerkennungsverfahrens wären unzureichend, wenn den Betroffenen anschließend nach einer Anerkennung Verelendung droht, und umgekehrt.« (Rn. 25). Auch zahlreiche Verwaltungsgerichte stoppen die Dublin-Überstellungen nach Griechenland.
In Italien sind Asylsuchende regelmäßig von Obdachlosigkeit bedroht. Das kann ein systemischer Mangel sein, so das Verwaltungsgericht Potsdam. Eine Überstellung nach Italien sei daher nur zulässig, wenn die italienischen Behörden eine Unterbringung im Einzelfall garantieren (VG Potsdam, Beschl. v. 19.10.2015 – VG 12 L 816/15.A). Für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge ist die Situation in Italien noch schwieriger. Aufgrund verzögerter Registrierung erhalten sie nicht das, was sie benötigen. Deswegen hatte der EGMR und das Bundesverfassungsgericht im Falle von Familien mit Kleinkindern gefordert, dass die italienischen Behörden vor der Rückführung nach dort eine Erklärung abgeben, dass die ordnungsgemäße Aufnahme und Unterbringung garantiert wird. Das gleiche gilt für schwer kranke Flüchtlinge. Auch hier kann sich eine Versagung der ordnungsgemäßen Aufnahme während des Asylverfahrens als Menschenrechtsverletzung darstellen (VG Potsdam, Beschl. v. 30.06.2015 – VG 6 L 389/15.A).
In Niedersachsen entschied das OVG Lüneburg (Urteil vom 29.01.2018, Az. 10 LB 82/17) keine in Bulgarien anerkannten Flüchtlinge mehr in dieses Land abzuschieben, weil ihnen dort ein Verstoß gegen Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) droht.
Auch das Verwaltungsgericht Hannover urteilte im Oktober zugunsten einer syrischen Familie, die 2017 nach Bulgarien abgeschoben worden war. Allen Familienangehörigen wurde ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Bulgariens zugesprochen. Damit folgt das Verwaltungsgericht Hannover der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts.
Geflüchteten, die nach Bulgarien abgeschoben werden sollen, drohen darüber hinaus Kettenabschiebungen in Länder, wo sie Verfolgung fürchten müssen. Aktuell ist der Fall zweier kurdischer Aktivisten, die am 19. November nach Bulgarien rückgeführt wurden. Freunde und Verwandte befürchten eine weitere Abschiebung von dort in die Türkei. Ähnlich gelagert war auch der Fall Hashmatulla F., der wegen eines Behördenversagens des BAMF im September 2017 erst nach Bulgarien und dann einen Monat später weiter nach Kabul abgeschoben wurde.
In das marode Dublin-System hinein sollen Verwaltungsvereinbarungen und eine Werbung für mehr Dublin-Charterflüge nun der Beitrag des Bundes zur Effektivierung sein. Man muss kein Hellseher sein, um zu prognostizieren, dass das bei den Staaten mit den defizitärsten Zuständen im Asylsystem kaum umsetzbar ist. Aber Bundesinnenminister Seehofer dürfte sich kaum grämen, dass das Papier, im Gegensatz zu den im Titel suggerierten Absichten, in der Öffentlichkeit als Strategiepapier für generell effizientere Abschiebungen wahrgenommen wird. Das verstärkt den Druck auf Bundesländer, die angeblich zu zögerlich sind, generell Verschärfungen im Zusammenhang mit Abschiebungen umzusetzen.
Was nun für Dublin-Abschiebungen geplant ist, könnte Modell für alle sonstigen Abschiebungen werden
Das Papier dient eher einer innenpolitischen Drohkulisse, die Merkels »nationale Kraftanstrengung« für mehr Abschiebungen vorantreiben soll: Was nun für Dublin-Abschiebungen geplant ist, könnte Modell für alle sonstigen Abschiebungen werden.
Der vermehrte Einsatz sogenannter Nachtzeitverfügungen – dass also Ausreisepflichtige anzeigen sollen , wenn sie beabsichtigen, sich zwischen Mitternacht und 6 Uhr nicht in ihrer Unterkunft aufzuhalten – und das elektronische Chipsystem sind erste Schritte Richtung rigoroser Überwachung Ausreisepflichtiger. Mit einem elektronischen Chipsystem zur Information über abzuholende Post soll auch die Zustellung von Post »gegen Empfangsbekenntnis konsequenter und tagesaktuell erfolgen«. Verzögerungen bei der Zustellung amtlicher Post gibt es durchaus, allerdings nicht nur wegen zeitweiliger Abwesenheiten der Adressaten. Hier wirkt das Argument vorgeschoben und wie die Vorbereitung eines weiteren Schrittes zur vollständigen Überwachung. Schon im Papier ist ein Hintertürchen in Bezug auf die Nutzung eingebaut: Nur »unter anderem« dient das Chipsystem zur Information über erhaltene Post. Neben der Zugangskontrolle wird auch das Verlassen des Gebäudes elektronisch erfasst. In Verbindung mit möglichen weiteren Speichersachverhalten ergeben sich Fragen des Datenschutzes. Wer darf mit welcher Zweckbindung auf die Daten zugreifen? Wie lange werden welche Daten gespeichert? Wie werden die Untergebrachten über Ihre Rechte im Rahmen des Datenschutzes informiert? Inwiefern werden die Daten anderweitig genutzt?
Von den »Vorschlägen zur Beschleunigung des Dublin-Verfahrens« zum »5‑Punkte-Plan zur Beschleunigung von Abschiebungen« ist es auch in der Praxis ein kurzer Weg
Auch die Zentralisierungsbemühungen weißen in Richtung Überwachung und erweiterter Anwendbarkeit. Das Papier schlägt eine bundesweite, onlinebasierte Überstellungsplattform vor, auf die alle beteiligten Behörden Zugriff haben, um beispielsweise Überstellungstermine effizienter zu nutzen. Auch zentrale Überstellungsbehörden sollen in jedem Bundesland eingeführt werden, dem bayerischen Vorbild folgend. Überstellungen sollen so vereinfacht werden. Diese gemeinsame Datenbank und zentralen Einrichtungen dann für alle Abschiebungen generell zu nutzen wäre ein Leichtes. Von den »Vorschlägen zur Beschleunigung des Dublin-Verfahrens« zum »5‑Punkte-Plan zur Beschleunigung von Abschiebungen« ist es auch in der Praxis ein kurzer Weg.
Problematisiert wird im Papier zum Schluss die bislang meist stunden- oder tageweise Beschäftigung von Ärzten in den Einrichtungen vor Ort. Vorgeschlagen wird die Festanstellung von ärztlichem Personal in Unterkünften und AnkER-Einrichtungen. Qualifizierte Ärzte allerdings haben ein geringes Interesse an der Beschäftigung in solchen Einrichtungen, wo der Erwartungsdruck von Behördenseite groß ist, sich als »Abschiebearzt« instrumentalisieren zu lassen. Die durch die Festanstellung gewonnene Zeit wird wahrscheinlich nicht selten dazu verwendet werden, vorgelegte fachärztliche Stellungnahmen, beispielsweise zur Reisefähigkeit, argumentativ vom Tisch zu wischen, sodass die jeweiligen Patienten abgeschoben werden können. Zusätzlich sind die Anforderungen an ärztliche Atteste durch die Gesetzesänderungen der letzten Jahre so verschärft worden, dass niedergelassene Fachärzte im regulären Praxisbetrieb umfangreiche Stellungnahmen kaum abfassen können. Damit sitzt der in der Einrichtung vollbeschäftigte Arzt am längeren Hebel. Abschiebungen kranker Menschen haben bereits in jüngster Zeit zugenommen. Mit der Umsetzung dieses Punktes könnten es noch mehr werden.
Seehofers Plan wird Dublin-Abschiebungen nicht effizienter machen können, viele Aspekte werden an Realitäten scheitern. Das größte Abschiebehindernis ist nach wie vor nicht widerständiges Verhalten von Ausreisepflichtigen oder ihr Untertauchen, sondern die mangelnde Rückübernahmebereitschaft vieler Herkunfts- und Dublin-Länder. Trotzdem versucht man hier, Überwachungsinstrumente zu etablieren und mit verschiedenen Strategien auf Biegen und Brechen die Abschiebezahlen zu erhöhen.
(bm, tz)