11.11.2020
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Straßenbild aus Kabul - zum Elend kommt in Afghanistan nun noch die Pandemie. Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Rahmat Gul

Am kommenden Montag, den 16. November, soll nach dem Willen der Bundesregierung wieder ein Sammelabschiebungsflug nach Kabul starten. Nach achtmonatiger, pandemiebedingter Pause – aber mitten in der zweiten Coronawelle sowohl in Deutschland als auch in Afghanistan und trotz der dortigen desaströsen Sicherheitslage

Von Dezem­ber 2016 – dem Beginn der Sam­mel­ab­schie­bun­gen – bis März 2020 wur­den ins­ge­samt 907 Afgha­nen in das seit nahe­zu vier Jahr­zehn­ten von Krieg und Bür­ger­krieg zer­rüt­te­te Land abge­scho­ben. Seit der letz­ten Sam­mel­ab­schie­bung am 11. März 2020 waren in Fol­ge der Coro­na-Pan­de­mie Abschie­bun­gen auf Bit­ten der afgha­ni­schen Regie­rung aus­ge­setzt. Nun droht am 16. Novem­ber deren Wiederaufnahme.

UPDATE 17.11.2020: Der für den 16.11. geplan­te Abschie­be­flie­ger wur­de letzt­lich kurz vor­her abge­sagt, offen­bar auf­grund von Beden­ken von afgha­ni­scher Sei­te wegen der Coro­na-Pan­de­mie. In den Tagen zuvor waren schon eini­ge Afgha­nen in Deutsch­land in Abschie­be­haft genom­men wor­den – es ist also nicht davon aus­zu­ge­hen, dass die deut­schen Behör­den ihre Abschie­be­be­mü­hun­gen ein­stel­len wer­den, egal wie absurd und gefähr­lich das Vor­ge­hen in die­sen Zei­ten ist.

Hohe Covid-19 Fallzahlen in Afghanistan 

Abschie­bun­gen nach Afgha­ni­stan sind und blei­ben – gera­de auch ange­sichts der gras­sie­ren­den Coro­na-Pan­de­mie – unver­ant­wort­lich. Bei jeder Abschie­bung ist  mit einer Gefahr für Leib und Leben der Betrof­fe­nen und der Wei­ter­ver­brei­tung des Virus zu rechnen.

Das afgha­ni­sche Gesund­heits­mi­nis­te­ri­um bestä­tigt der­zeit wie­der einen Anstieg der Covid-19-Fäl­le. Expert*innen gehen davon aus, dass eine zwei­te Wel­le bevor­steht oder bereits begon­nen hat, wie auch das BAMF am 02. Novem­ber berich­te­te. Wie hoch die Infek­ti­ons­zah­len wirk­lich sind, lässt sich man­gels flä­chen­de­cken­der Tests und chao­ti­scher Lage im Land kaum fest­stel­len.  Einer Hoch­rech­nung des afgha­ni­schen Gesund­heits­mi­nis­te­ri­ums zufol­ge könn­te knapp ein Drit­tel der Bevöl­ke­rung – etwa 31,5 % der etwa 30 Mil­lio­nen Ein­woh­ner Afgha­ni­stans – infi­ziert sein. In der Haupt­stadt Kabul – wo die Abge­scho­be­nen lan­den und sich in aller Regel auch im Anschluss auf­hal­ten – liegt die Infek­ti­ons­ra­te laut die­ser Hoch­rech­nung gar bei mehr als 50 %.

Auch die ohne­hin schon desas­trö­se wirt­schaft­li­che Situa­ti­on in Afgha­ni­stan ver­schärft sich durch die Covid-19-Pan­de­mie dras­tisch: höhe­re Lebens­mit­tel­kos­ten, erschwer­ter Zugang zu Arbeit und Wohn­raum, stei­gen­de Rückkehrer*innenzahlen, ins­be­son­de­re aus dem vom Coro­na-Virus schwer betrof­fe­nen Iran, mit denen Afgha­ni­stan kaum fer­tig wird. Selbst das Aus­wär­ti­ge Amt bestä­tigt die­se Ent­wick­lung in sei­nem aktu­el­len Asyl­la­ge­be­richt zu Afghanistan.

Verwaltungsgerichte: Abschiebungsverbot auch für junge Männer

Die Linie des Bun­des­am­tes für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) ist, dass bei jun­gen, gesun­den und arbeits­fä­hi­gen Män­nern grund­sätz­lich davon aus­zu­ge­hen sein soll, dass die­se allei­ne in der Lage wären, ihre Exis­tenz zu sichern. Wäh­rend Gerich­te die­sem Grund­satz bis­lang oft folg­ten, hat sich die huma­ni­tä­re Lage in Afgha­ni­stan auf­grund der Coro­na-Pan­de­mie aus Sicht zahl­rei­cher Ver­wal­tungs­ge­rich­te nun der­art ver­schlech­tert, dass nun­mehr auch bei die­ser Per­so­nen­grup­pe ein Abschie­bungs­ver­bot nach § 60 Abs. 5 Auf­enthG anzu­neh­men ist.

Es sei davon aus­zu­ge­hen, dass sie nicht in der Lage wären, auf lega­lem Wege ihre ele­men­tars­ten Bedürf­nis­se nach Nah­rung und Unter­kunft zu befrie­di­gen, wenn sie weder über ein leis­tungs­fä­hi­ges und ‑berei­tes Netz­werk in Afgha­ni­stan noch über nach­hal­ti­ge Unter­stüt­zung aus dem Aus­land oder nen­nens­wer­tes Ver­mö­gen ver­füg­ten (vgl. VG Kas­sel, VG Karls­ru­he, VG Arns­berg, VG Han­no­ver, VG Sig­ma­rin­gen, Urteil vom 24.06.2020, A 6 K 4893/17, VG Wies­ba­den).

Afghanistan gefährlichstes Land der Welt

Die Sicher­heits­la­ge im Land ist eben­falls unge­bro­chen desas­trös. Das Insti­tu­te for Eco­no­mics & Peace  hat Afgha­ni­stan in sei­nem Glo­bal Peace Index 2020 das zwei­te Jahr in Fol­ge als das gefähr­lichs­te Land der Welt ein­ge­stuft. Welt­weit ster­ben dem­nach dort die meis­ten Men­schen in Fol­ge krie­ge­ri­scher Aus­ein­an­der­set­zun­gen. Im ers­ten Halb­jahr 2020 doku­men­tier­te die UNAMA 3.458 zivi­le Opfer (1.282 Tote und 2.176 Verletzte).

Im Glo­bal Peace Index wur­de Afgha­ni­stan das zwei­te Jahr in Fol­ge als das gefähr­lichs­te Land der Welt eingestuft.

Ende Okto­ber berich­te­te der US-Son­der­ge­ne­ral­inspek­tor für den Wie­der­auf­bau Afgha­ni­stans (SIGAR), dass die Zahl der Angrif­fe von Auf­stän­di­schen zwi­schen Juli und Sep­tem­ber 2020 im Ver­gleich zum Quar­tal davor um 50 % gestie­gen  ist. Die Zahl zivi­ler Opfer stieg in die­sem Zeit­raum um 43 %, 876 Men­schen wur­den getö­tet und 1.685 ver­letzt. Der US-Beauf­trag­te berief sich dabei auf Zah­len der NATO-geführ­ten Reso­lu­te Sup­port Mis­si­on und der US-Streit­kräf­te am Hindukusch.

Erst Anfang Novem­ber kamen bei einem schwe­ren Anschlag der Ter­ror­grup­pe Isla­mi­scher Staat (IS) auf die Uni­ver­si­tät in Kabul min­des­tens 35 Men­schen ums Leben, 22 wur­den ver­letzt. Zuvor griff der IS eine Schu­le in Kabul an, mehr als 20 Schüler*innen starben.

Geld gegen Abschiebung? Afghanische Regierung unter Druck

Die Regie­rung Afgha­ni­stans steht jedoch unter Druck, Abge­scho­be­ne auch in der noch so unzu­mut­ba­ren Lage zurück­zu­neh­men. Der Afgha­ni­stan-Exper­te Tho­mas Rut­tig ver­mu­tet, dass die Zustim­mung Afgha­ni­stans zur Wie­der­auf­nah­me von Sam­mel­ab­schie­bun­gen dar­auf zurück­zu­füh­ren ist, dass am 23./24. Novem­ber eine Geber­kon­fe­renz statt­fin­den wird, bei der kon­kre­te Geld­zu­sa­gen für Afgha­ni­stans Ent­wick­lungs­fi­nan­zie­rung für den Zeit­raum 2021–2024 ver­han­delt werden.

Schon in der Ver­gan­gen­heit hat es laut Rut­tig Anzei­chen dafür gege­ben, dass von den Geber­län­dern Druck auf die afgha­ni­sche Regie­rung aus­ge­übt wur­de, Sam­mel­ab­schie­bun­gen zuzu­stim­men. Dies könn­te nun erneut der Fall sein. Die Bun­des­re­gie­rung muss auf­hö­ren, die afgha­ni­sche Regie­rung mit der­ar­ti­gen Mit­teln unter Druck zu set­zen – und viel­mehr die Abschie­be­plä­ne, gera­de in Zei­ten einer Pan­de­mie, stoppen!

(pva)