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Asyl im Zeichen des Regenbogens?
Homosexuelle und queere Menschen haben es schwer, in Deutschland Asyl zu erhalten. Behörden oder Gerichte argumentieren häufig, ein Schutzstatus sei unnötig, weil sie ihre Sexualität im Herkunftsland ja heimlich leben könnten. Das stürzt viele Betroffene in eine Krise. Das Bundesinnenministerium hat nun zum 1. Oktober Verbesserungen angekündigt.
Abdelkarim Bendjeriou-Sedjerari hat Angst – große Angst. Er ist schwul, stammt aus Algerien und lebt seit rund drei Jahren in Hessen. Doch nun droht ihm die Abschiebung, weil seine Homosexualität vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und dem Frankfurter Verwaltungsgericht nicht als Schutzgrund anerkannt wird. »Ich habe Angst um mein Leben, weiß nicht, was passiert. Ich kann wieder verfolgt werden. Ich kann ermordet werden, das geht ganz leicht«, sagt er gegenüber dem Hessischen Rundfunk. In Algerien werden Homosexuelle verfolgt und drangsaliert, die Gesellschaft ist sehr homophob. Ein Student aus Algier ist 2019 getötet worden, weiß Abdelkarim von einem Freund. »Er war schwul«, habe man mit seinem Blut an die Wand geschrieben.
In Deutschland lebt der angehende Elektriker Abdelkarim so offen schwul, wie es nur möglich ist: Er hat sich in großen Medien deutlich positioniert und an einer Datingshow teilgenommen, er setzt sich als Aktivist für die Rechte von LSBTIQ-Geflüchteten ein und hat 2019 in Frankfurt auf der CSD-Bühne gestanden und über die Situation von Homosexuellen in Algerien gesprochen. Doch all das reicht dem Richter am Frankfurter Verwaltungsgericht nicht aus. Im März 2020 bestätigte er die Ablehnung von Abdelkarims Asylantrag durch das BAMF. Abdelkarim, der seinen Freund mit zur Verhandlung brachte, stellte einen Asylfolgeantrag, den das BAMF am 12. Februar 2021 als unzulässig ablehnte. Auch dagegen klagte der Mittdreißiger. Vor wenigen Wochen, am 23. August, hat das Verwaltungsgericht Frankfurt die Klage abgewiesen und zur Begründung unter anderem ausgeführt, die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens lägen nicht vor. Entschieden hat das derselbe Richter, der bereits im vorherigen Verfahren für seinen Fall zuständig war – und der dafür bekannt ist, so gut wie nie positive asylrechtliche Entscheidungen zu treffen. Politisch mag es fragwürdig sein, dass derselbe Richter ein zweites Mal über einen Fall entscheidet, rechtlich aber ist es korrekt.
Abdelkarims Fall steht beispielhaft für eine europarechtswidrige Praxis des BAMF
Der Richter zweifelt nicht die Homosexualität des Algeriers an sich an, sondern lehnt den Asylantrag ab mit der Begründung, Abdelkarim könne seine geschlechtliche Identität in Algerien ja heimlich leben und würde so einer möglichen Verfolgung entgehen. Das BAMF und deutsche Gerichte verweisen immer wieder auf ein solch »diskretes Verhalten« im Herkunftsland, bekannt als Diskretionsgebot. Dass damit ein gefährliches, lebenslanges Versteckspiel einhergeht, wird ignoriert. Der Fall des 35-Jährigen steht damit stellvertretend für eine Praxis, mit der das BAMF und Gerichte seit Jahren ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) unterlaufen. Der EuGH stellte schon 2013 klar, dass die zuständigen Behörden »vernünftigerweise nicht erwarten [können], dass der Asylbewerber seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden.« Doch bislang wurde das von deutschen Behörden und Gerichten missachtet.
»Dieses Rumgesuche nach Gründen, weswegen eine Person doch womöglich nicht homosexuell ist, führt zu massiven Fehlern in den Entscheidungen [des BAMF]«
Anstatt der Rechtsprechung des höchsten europäischen Gerichts zu folgen, haben sie Wege gefunden, das Diskretionsgebot weiterhin anzuwenden und so Asylanträge von LSBTIQ-Asylsuchenden abzulehnen. »Um das erwartete Verhalten der geflüchteten Person zu ermitteln, stellen sie eine kaum untermauerte ‚Prognose des zukünftigen Verhaltens‘ an, anhand dessen sie eine fiktive Verfolgungswahrscheinlichkeit bei Rückkehr ins Herkunftsland konstruieren«, erklärt der Lesben- und Schwulenverband (LSVD). Salopp formuliert prognostizieren deutsche Institutionen einfach, dass der Asylbewerber im Herkunftsland wohl diskret leben würde und deshalb nicht gefährdet sei. Diese Praxis ist als Diskretionsprognose bekannt.
Zu diesen rechtlich äußerst fragwürdigen Konstruktionen kommt hinzu, dass die Entscheidungen des BAMF mit Blick auf queere Geflüchtete häufig falsch sind. Ein Großteil derjenigen, die gegen ihre Asylablehnung klagen, bekommt vor Gericht Recht. Das hat unter anderem die Beratungsstelle Rainbow Refugee Support dokumentiert, die bei der Aidshilfe Hessen angesiedelt ist. »Dieses Rumgesuche nach Gründen, weswegen eine Person doch womöglich nicht homosexuell ist, führt zu massiven Fehlern in den Entscheidungen [des BAMF]«, sagt Knud Wechterstein von Rainbow Refugees in einem Interview. »Das sehen wir vor allem in Entscheidungen aus den Jahren 2015 bis 2017, in denen die Bescheide keine gute Qualität hatten und sie reihenweise von den Verwaltungsgerichten kassiert wurden.«
Es ist immer wieder zu absurden Situationen gekommen, verbunden auch mit der Unterbringung von queeren Geflüchteten in regulären Erstaufnahmeeinrichtungen. Outen sie sich dort, setzen sie sich der Gefahr von Diskriminierung, Mobbing oder gar Gewalt durch andere Flüchtlinge aus. Selbst Fälle von Vergewaltigungen wurden schon bekannt. Probleme beim Thema Gewaltschutz gibt es laut dem LSVD bundesweit. So ist es nicht verwunderlich, dass die meisten queeren Geflüchteten in deutschen Massenunterkünften ihre Sexualität nicht zur Schau stellen. Genau das erweist sich aber später als nachteilig für sie, wenn nämlich das BAMF und Gerichte, die über ihren Asylantrag entscheiden, damit argumentieren, ihnen sei es offenkundig nicht wichtig, ihre Sexualität offen zu leben, schließlich hätten sie das bislang auch nicht getan. Berichtet ein Asylbewerber bei seiner Anhörung, dass er nicht jedem sagt, dass er homosexuell ist, wird ihm ein Strick daraus gedreht und vom BAMF die Konsequenz gezogen, dass er folglich in sein Herkunftsland zurückgeschickt werden könne – entgegen der Rechtsprechung des EuGH.
Bei der Bearbeitung der Asylanträge von LSBTIQ-Geflüchteten kam es in der Vergangenheit immer wieder zu schwerwiegenden Fehlern. So berichtete etwa das Nachrichtenmagazin Spiegel im Juni vergangenen Jahres von einem Nigerianer, dessen Asylantrag mit einer rechtlich unzulässigen Begründung abgelehnt wurde und der zudem aufgrund der »Überprüfung« seiner Geschichte vonseiten deutscher Behörden in seiner Heimat zwangsgeoutet wurde. Auch der LSVD erzählt von Situationen, die fassungslos machen: Da wurde beispielsweise einem Syrer, der in seiner Asylanhörung zu Protokoll gab, hier gerne heiraten und Kinder adoptieren zu wollen, mitgeteilt, er würde seine Sexualität gar nicht offen leben wollen, da er das in Syrien auch nicht getan habe. Einem schwulen Altenpfleger aus dem Iran, über dessen ungewöhnliche Wohngemeinschaft mit einer 101-Jährigen auch ARTE berichtete, drohte die Abschiebung. Und selbst bei Fällen von gleichgeschlechtlichen verheirateten Paaren argumentierten Behörden schon, die Hochzeit sei Sache des Ausländerrechts und habe mit dem Asylverfahren nichts zu tun. Dem LSVD sind fast 100 derartige Fälle bekannt. So trennte beispielsweise ein bayerisches Gericht in diesem Jahr ein schwules Paar, das seit über sieben Jahren zusammen ist. Einer der Männer durfte bleiben, der andere wurde abgeschoben, obwohl Homosexualität in seinem Herkunftsland mit der Todesstrafe geahndet wird. Wie viele Menschen aufgrund von Verfolgung wegen ihrer geschlechtlichen Identität nach Deutschland fliehen, ist nicht bekannt, weil das BAMF in seiner Statistik keine Fluchtgründe erhebt.
Längst überfällige Änderungen zum 1. Oktober: Ein Hoffnungsschimmer für queere Geflüchtete
Das soll sich nun ändern: Das Bundesinnenministerium (BMI) hat eine Dienstanweisung herausgegeben, die vorsieht, dass deutsche Behörden ab dem 1. Oktober nicht mehr mit Diskretion argumentieren dürfen. Es hat klargestellt, »dass LSBTIQ-Schutzsuchende in keinem Fall auf ein diskretes Leben im Herkunftsland verwiesen werden dürfen«. Auch die beschriebene Praxis der »Diskretionsprognosen«, mit der das BAMF bisher die EuGH-Rechtsprechung unterlaufen hat, soll nicht mehr zur Anwendung kommen. Im Vorfeld hatten bereits vier Verwaltungsgerichte diese Prognoseentscheidungen bei queeren Geflüchteten als unzulässig befunden. In der Praxis bedeutet die Änderung nun: Es muss immer davon ausgegangen werden, dass es den Menschen wichtig ist, ihre Sexualität und somit einen Teil ihrer Identität offen zu leben, sofern sie ihre Identität glaubhaft vortragen können. Auch wenn die Person in Deutschland ihre queere Identität geheim hält, muss bei der Gefährdungsbeurteilung ein geoutetes Leben als Maßstab genommen werden. Das BAMF muss also künftig prüfen, was es heißt, als offen schwuler Mann in Pakistan zu leben oder als Transfrau im Iran – und ob es eine Abschiebung dorthin wirklich verantworten kann, was in der Regel zu verneinen sein dürfte. Das ist ein bedeutsamer Schritt nach vorne.
Daneben bestehen noch weitere Hürden für homosexuelle und queere Menschen, insbesondere wenn es um den Familiennachzug geht. Geflüchtete haben einen Rechtsanspruch darauf, dass ihre Ehepartner*in und minderjährige Kinder nach Deutschland nachkommen und zu dem Part nachziehen, der hier einen Schutzstatus erhalten hat. Das gilt jedoch nur für verheiratete Paare. Homosexuelle Geflüchtete fallen hier durchs Raster, da sie in den meisten Folgen aufgrund von staatlicher oder gesellschaftlicher Verfolgung im Herkunftsland gar nicht heiraten konnten. Der LSVD weist darauf hin, »dass dies den zurückgebliebenen Partnern nicht entgegengehalten werden darf, wenn die Eheschließung nur wegen der Verfolgung unterblieben ist, die zur Anerkennung des in Deutschland lebenden Partners als Asylberechtigten geführt hat.«
Homosexuelle Geflüchtete sind also doppelt diskriminiert: Wegen Repressionen bis hin zur Todesstrafe dürfen sie ihre Sexualität in ihrer jeweiligen Heimat nicht offen leben – und werden dann von Deutschland gegenüber heterosexuellen Paaren beim Familiennachzug benachteiligt. Die Verweigerung des Familiennachzugs für unverheiratete homosexuelle Paare verstößt gegen Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz und gegen Art. 8 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Denn ein familiäres Zusammenleben ist bei diesen Paaren, von denen einer nach Deutschland geflüchtet ist, eben nicht im Herkunftsland möglich, sondern nur in Deutschland. »Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im Februar 2016 und im Juni 2016 entschieden, dass die Verweigerung einer Aufenthaltsgenehmigung zur Familienzusammenführung gegen das Recht auf Achtung des Familienlebens verstößt, wenn sie allein deshalb abgelehnt wird, weil die Partner in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung leben«, erklärt Patrick Dörr vom LSVD. Hier besteht in Deutschland auf gesetzgeberischer und auf verwaltungstechnischer Ebene deutlich Nachholbedarf.
Homosexuelle Geflüchtete stehen also im deutschen Asylverfahren weiterhin vor besonderen Schwierigkeiten, die sie meist nur mit guter Beratung und Unterstützung bewältigen können. Hinzu kommt: Papier ist geduldig – nun kommt es darauf an, dass der Dienstanweisung auch gewissenhaft Folge geleistet wird. Offen ist noch, was mit denjenigen geschieht, die erst kürzlich abgeschoben worden sind oder die bereits einen Ablehnungsbescheid erhalten haben.
Für Menschen wie Abdelkarim bedeuten die Änderungen ab dem 1. Oktober eine Quelle der Hoffnung. Laut LSVD müsste das Bundesinnenministerium seinen Ablehnungsbescheid aufheben, wenn es die eigene Dienstanweisung ernst nimmt und sie in diesem Fall auch rückwirkend gilt. Die Erteilung eines Abschiebeverbots für den schwulen Algerier wäre das Mindeste. Geschieht das nicht, so sind Abdelkarim und sein Anwalt bereit, weiter zu kämpfen – und dabei bis zum Bundesverfassungsgericht zu ziehen.
(er)