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»Der Ausnahmezustand wird zur Normalität«
Die Stiftung PRO ASYL verleiht ihren diesjährigen Menschenrechtspreis der polnischen Anwältin Marta Górczyńska und der Helsinki Foundation for Human Rights in Polen. Im Vorfeld der Preisverleihung haben wir mit ihr über ihre Arbeit gesprochen. Marta Górczyńska berichtet trotz aller Rückschläge auch über mutmachende Entwicklungen.
Marta, als Anwältin der Helsinki Foundation for Human Rights in Warschau hast du ein Jahr des permanenten Ausnahmezustands hinter dir. Warum waren die vergangenen zwölf Monate besonders anstrengend für dich?
Es war mit Blick auf Migration das wohl aufreibendste Jahr in der polnischen Geschichte. Wir haben unmittelbar ein solches Ausmaß an Leid miterlebt, wie ich es mir nicht hätte vorstellen können. Das trifft auf alle Aktivist*innen zu und vor allen Dingen auf die lokale Bevölkerung, die im polnisch-belarussischen Grenzgebiet lebt. Als Anwältin war ich viel vor Ort, konnte aber immer wieder zurückfahren nach Warschau. Doch die Menschen, die in der Region leben, wurden und werden damit konfrontiert, dass Schutzsuchende an der Grenze frieren und hungern, dehydriert und krank aufgefunden werden, verängstigt und traumatisiert sind – darunter Kinder, Schwangere, behinderte Menschen.
Alle, die sich entschlossen haben, nicht wegzusehen, sind mit diesem Leid konfrontiert, und das war ein Schock. Denn schlimmste Menschenrechtsverletzungen geschehen plötzlich nicht mehr weit weg, sondern in den Dörfern im Osten Polens, wo auf einmal Menschen aus dem Irak, Syrien, ja sogar aus Kuba an die Türen klopften und um etwas Brot und Wasser baten. Gleichzeitig habe ich eine große Hilfsbereitschaft und Solidarität erlebt, und das waren wundervolle Momente der Menschlichkeit. Für mich glich das vergangene Jahr daher einer Achterbahnfahrt der Gefühle.
In einem Interview mit PRO ASYL im November letzten Jahres sagtest du: »Es ist eine humanitäre Katastrophe auf allen Ebenen, die sich hier mitten in Europa abspielt. Menschen sterben. Nicht weil wir keine Möglichkeiten hätten, sie zu retten. Sondern weil wir, weil Europa, sie sterben lässt. Es ist ein Albtraum. « Ist es das heute immer noch?
Leider ja. Die Gräueltaten, die an der Grenze geschehen, dauern an. Das ist nicht vorüber, im Gegenteil: Uns erreichen täglich Anfragen von verzweifelten Menschen. Es ist ein trauriger Jahrestag, denn vor einem Jahr um diese Zeit saß die erste Gruppe geflüchteter Afghanen im Grenzgebiet fest. Sie wurden von den Grenzbeamten hin- und hergeschoben zwischen Polen und Belarus, und keine Seite wollte Verantwortung übernehmen. Das ganze Land bekam mit, wie diese Menschen gezwungen wurden, dort auszuharren – ohne ein Dach über dem Kopf, ohne Perspektive, ohne ausreichend Nahrungsmittel. Und als der Winter nahte, wurde es schlimmer: Die Temperaturen sanken, und ganze Familien saßen im Wald fest. Das droht nun erneut. Die Regierung spricht über »feindliche Invasoren«, aber es handelt sich schlicht und einfach um notleidende Menschen.
»Es geht hier nicht nur um das Recht auf Asyl, sondern um das Recht auf Würde und das Recht, frei von Folter und unmenschlicher Behandlung leben zu dürfen.«
Der Bau einer 180 km langen Mauer zur Abwehr von Geflüchteten wurde im Juli fertiggestellt. Was bedeutet das für hilfesuchende Männer, Frauen und Kinder auf der Flucht?
Es kommen nach wie vor viele Menschen in Polen an, und immer mehr von ihnen sind verletzt, schleppen sich mit Knochenbrüchen über die Grenze und tiefen Wunden, verursacht vom Stacheldraht des Grenzzaunes. Wenn sie in Polen sind, haben sie meist große Angst, entdeckt und zurückgeschickt zu werden, deshalb verstecken sie sich lieber, was medizinisch oft fatal ist. Die einzige Chance sind dann die Ärzt*innen, die aus privater Initiative heraus in die Wälder gehen und helfen. Es gibt auch immer wieder Flüchtlinge, die mit behinderten Kindern Zuflucht in Europa suchen, weil ihre Kinder in den Heimatländern nicht behandelt werden können. Ein Mal wurde sogar ein zwanzigjähriger Mann, der querschnittsgelähmt war, von seinen Eltern den ganzen Weg auf einer Trage geschleppt.
Ich habe keine große Hoffnung, dass sich die Lage auf absehbare Zeit zum Besseren wendet. Deshalb sind wir dabei, ein tragfähiges Netzwerk aufzubauen, das langfristig hilft, bestehend aus Anwält*innen, Ärzt*innen und Aktivist*innen. Wir übernehmen damit quasi staatliche Aufgaben, weil unsere Regierung darin versagt, grundlegende erste Hilfe bereitzustellen. Es geht hier nicht nur um das Recht auf Asyl, sondern um das Recht auf Würde und das Recht, frei von Folter und unmenschlicher Behandlung leben zu dürfen – es geht um ganz grundlegende Menschenrechte, die wir schützen und deren Einhaltung wir sicherstellen wollen.
Was hat sich im Vergleich zur Situation im Sommer 2021 verändert?
Während es im vergangenen Jahr ein totaler Ausnahmezustand war, der uns zutiefst schockiert hat, haben wir uns mittlerweile an die schrecklichen Zustände gewöhnt – an Pushbacks, Misshandlungen und einen Umgang, den kein Mensch verdient. Das Erschreckende ist: Der Ausnahmezustand wird zur Normalität. Die EU kümmert sich nicht darum, sie nimmt all das hin. Auch der Opposition in Polen ist die Lage der Geflüchteten ziemlich egal. Es ist ein sensibles Thema, mit dem man politisch keinen Blumentopf gewinnen kann, also wird darüber größtenteils geschwiegen. Wer die menschenverachtenden Zustände für Flüchtlinge öffentlich anprangert, muss Mut haben.
Und mit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine ist noch ein zweites riesiges Betätigungsfeld für die Helsinki Foundation in Polen hinzugekommen…
Absolut! Unsere Menschenrechtsorganisation ist groß, aber im Migrationsteam sind wir bloß zu Acht. Es ist mir immer noch ein Rätsel, wie wir das überhaupt stemmen. Zu Beginn des Krieges in der Ukraine haben wir einen Schwerpunkt darauf gesetzt, Menschenhandel aufzudecken und zu bekämpfen. Mittlerweile beschäftigen wir uns viel mit der Dokumentation von Kriegsverbrechen. Und unsere Arbeit an der Grenze zu Belarus läuft ja weiter. Das ist extrem zeit- und arbeitsintensiv. Am Anfang habe ich versucht, überall gleichzeitig zu sein und alles auf einmal zu machen: Ich war in den Wäldern bei den Geflüchteten vor Ort, habe telefonische Anfragen beantwortet, nebenbei Rechtsgutachten geschrieben und Eilanträge an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Ich war so voller Adrenalin, dass das eine Weile gut ging. Aber auf Dauer ist das unmöglich. Wir legen daher den Fokus auf juristische Beratung, Begleitung und Intervention.
»Wir können uns auf die Gerichte verlassen. Sie erkennen in den meisten Fällen an, dass das, was an der Grenze passiert, falsch ist und gegen das Recht verstößt. Es ist die Regierung, die die nationalen Urteile immer wieder missachtet.«
Der EGMR hat Polen bereits vor zwei Jahren wegen der Zurückweisung von Asylsuchenden an der Grenze zu Belarus verurteilt. Geändert hat die polnische Regierung ihre Praxis aber damals nicht. Du reichst gemeinsam mit Kolleg*innen dennoch weiterhin Klagen vor dem EGMR ein. Was bringt das, wenn Polen die Urteile einfach ignoriert?
Erstaunlicherweise erleben wir hier einen Umschwung. Das Netzwerk Grupa Granica, zu dem auch die Helsinki Foundation gehört, hat in den vergangenen Monaten rund achtzig Eilanträge beim EGMR in Straßburg eingereicht mit der Bitte, sogenannte vorläufige Maßnahmen zu ergreifen. In so gut wie allen Fällen ist der EGMR dem nachgekommen – und überraschenderweise akzeptiert die polnische Regierung das bislang und verzichtet in diesen Fällen auf Abschiebungen beziehungsweise Pushbacks. Das hat auch uns überrascht, damit hatten wir nicht gerechnet. Aber es sind besonders dramatische und gut dokumentierte Fälle, etwa von drei queeren Irakern, die sich im polnischen Urwald versteckt hatten.
Der EGMR wies Polen an, sie nicht zurückzuschicken, sollten sie aufgefunden werden. Und so ist es gekommen. Ich denke dieser Kurswechsel der polnischen Regierung hat damit zu tun, dass diese Fälle auch dank uns öffentlich sehr präsent sind. Aktivist*innen und Anwält*innen sind vor Ort, Journalist*innen berichten. Da denkt sich die Politik wohl: »Dann lassen wir diese Menschen eben hier – und schieben alle anderen ab.« Denn leider Gottes können wir nicht allen helfen.
Das hört sich so an, als ob das polnische Rechtssystem immerhin noch funktioniert.
Ja. Auch ein Großteil der Fälle, die vor nationalen Gerichten verhandelt wurden, sind in unserem Sinne entschieden worden. Das macht Mut und zeigt, dass das Recht auf unserer Seite ist. Bedenken zur Unabhängigkeit der polnischen Justiz sind zwar nicht von der Hand zu weisen, aber bislang funktioniert das System. Wir können uns auf die Gerichte verlassen. Sie erkennen in den meisten Fällen an, dass das, was an der Grenze passiert, falsch ist und gegen das Recht verstößt. Es ist die Regierung, die die nationalen Urteile immer wieder missachtet.
Welcher Fall, welche Begegnung, ist dir besonders in Erinnerung geblieben?
Im März dieses Jahres war ich in Kontakt mit zwei Familien aus dem Irak, die beide kleine Kinder dabei hatten, darunter ein behinderter 10-jähriger Junge sowie ein kleines Mädchen mit Epilepsie. Sie wurden mehrfach gepushbackt und mussten monatelang auf dem nackten Waldboden schlafen, zum Teil ohne ausreichend Nahrung und Trinkwasser. Zu der Zeit lag noch Schnee im Wald, und die Kinder wurden krank. Auch in diesem Fall haben wir den EGMR um eine einstweilige Verfügung gebeten und zudem kleinere Demonstrationen organisiert, auf denen wir Fotos der Kinder gezeigt haben und an Politik und Öffentlichkeit gewandt gefragt haben:
»Wollen wir, dass Kinder in der Kälte krank im Wald schlafen? Können wir als Gesellschaft solche Zustände akzeptieren?« Wir waren erfolgreich, der Gerichtshof hat verfügt, dass die Familien in Polen vorerst aufgenommen werden. Leider sind sie dann in eines der Haftlager gekommen, sodass aufs Neue ein Kampf begann, sie dort rauszubekommen, denn die Lage dort ist schlimm. Inzwischen ist eine der Familien in Deutschland.
Wie gehst du emotional mit dieser enormen Belastung um – und was gibt dir die Kraft, trotz aller Rückschläge weiterzumachen?
Es ist ein Auf und Ab. Es war und ist eine enorm schwierige Zeit für mich und für viele andere Menschen. Aber so viele Leute nehmen Anteil, kümmern sich, helfen, öffnen ihre Häuser und ihre Herzen. Im vergangenen Jahr haben Polinnen und Polen aus dem ganzen Land Decken, Rucksäcke, Lebensmittelspenden und vieles mehr gesammelt, Promis sind in die Grenzregion gefahren, um auf die katastrophale Lage aufmerksam zu machen, Demonstrationen wurden organisiert, alte Damen haben Suppe für die Geflüchteten gekocht.
All das lässt mich hoffen. Meine Hoffnung in die Regierung und eine bessere Politik habe ich verloren, aber ich setze meine Hoffnung in die Herzen der Menschen. Denn die ganz normalen Bürger*innen sind es, die helfen – nicht nur bei uns in Polen, sondern an allen europäischen Außengrenzen.
»Dass wir den PRO ASYL-Menschenrechtspreis erhalten, ist daher nicht nur ein Signal nach innen, sondern auch nach außen, in Richtung der polnischen Regierung. Es macht unmissverständlich klar: Wer sich für den Schutz der Menschenrechte einsetzt, darf nicht kriminalisiert werden.«
Am 3. September verleiht die Stiftung PRO ASYL dir stellvertretend für die Helsinki Foundation ihren Menschenrechtspreis. Was bedeutet diese Auszeichnung für dich?
Diese internationale Anerkennung stärkt unsere gesamte Organisation. Uns hilft es dabei, nicht die Hoffnung zu verlieren, sondern weiterhin dafür zu arbeiten, dass grundlegende Menschenrechte gewahrt oder wiederhergestellt werden. Es zeigt uns, dass über die polnische Grenze hinaus wahrgenommen und wertgeschätzt wird, dass wir trotz Einschüchterungsversuchen unserer Regierung weitermachen.
Die Auszeichnung erinnert uns daran, dass das, was wir tun, richtig ist. In Zeiten, in denen der polnische Präsident höchstpersönlich all jene, die an der polnisch-belarussischen Grenze Geflüchteten helfen, als »Landesverräter« bezeichnet, ist dies eine wichtige Anerkennung. Dass wir den PRO ASYL-Menschenrechtspreis erhalten, ist daher nicht nur ein Signal nach innen, sondern auch nach außen, in Richtung der polnischen Regierung. Es macht unmissverständlich klar: Wer sich für den Schutz der Menschenrechte einsetzt, darf nicht kriminalisiert werden.
(er)
Die Preisverleihung findet am Samstag, 3. September, um 14.00 im Haus am Dom statt, Domplatz 3 in 60311 Frankfurt am Main. Die Laudatio auf die Preisträgerin hält Luise Amtsberg, Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung (digital zugeschaltet).