10.07.2017
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Kleinkinder in der Notunterkunft im Flughafen Tempelhof, Berlin, Nov. 2015. ©UNHCR/Ivor Prickett

Seit 2015 sind etwa 350.000 Kinder und Jugendliche in Begleitung ihrer Eltern oder einer sorgeberechtigten Person nach Deutschland eingereist, um Asyl zu suchen. Zum Ende des Jahres 2016 zählte die Kinder- und Jugendhilfe zudem 49.786 unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge.

All die­sen Kin­dern und Jugend­li­chen steht nach inter­na­tio­na­ler, euro­päi­scher und deut­scher Rechts­la­ge ein Anspruch auf Gleich­be­hand­lung mit ande­ren Kin­dern und Jugend­li­chen in Deutsch­land zu. Ihr Schutz ist zudem gemäß des Grund­sat­zes der vor­ran­gi­gen Berück­sich­ti­gung des Kin­des­wohls zu garantieren.

Ein Zwei-Klassen-System in der Jugendhilfe?

Unbe­glei­te­te Min­der­jäh­ri­ge wer­den laut Gesetz im Rah­men der Kin­der- und Jugend­hil­fe betreut, ver­sorgt und unter­ge­bracht. Doch der vor­ge­schrie­be­ne gesetz­li­che Schutz wird zum Teil nur unzu­rei­chend umgesetzt.

Seit Herbst 2016 liegt zudem ein Vor­schlag der Län­der Hes­sen, Saar­land, Bay­ern und Sach­sen auf dem Tisch, der ein abge­schwäch­tes Leis­tungs- und Unter­stüt­zungs­sys­tem nach SGB VIII für unbe­glei­te­te, min­der­jäh­ri­ge Flucht­lin­ge (UMF) und damit die Schaf­fung eines Zwei-Klas­sen-Sys­tems in der Jugend­hil­fe zur Fol­ge hätte.

Zudem gibt es Über­le­gun­gen, dass in Zukunft Ord­nungs­be­hör­den wie die Bun­des­po­li­zei im Rah­men einer Alters­ein­schät­zung dar­über ent­schei­den, wer als unbe­glei­te­ter Min­der­jäh­ri­ger gilt. Bis­her erfolgt die­se Prü­fung durch die Jugend­äm­ter. Hier­durch dro­hen UMF, deren Alter falsch ein­ge­schätzt wur­de, dau­er­haft im Ver­sor­gungs­sys­tem für Erwach­se­ne zu verbleiben.

Wenig Aufmerksamkeit für begleitete, minderjährige Flüchtlinge

Doch auch beglei­te­te, min­der­jäh­ri­ge Flucht­lin­ge haben mit dis­kri­mi­nie­ren­der Ungleich­be­hand­lung zu kämp­fen. Kin­der und Jugend­li­che, die mit ihren Eltern ein­ge­reist sind, fal­len unter die benach­tei­li­gen­den Unter­brin­gungs- und Ver­sor­gungs­struk­tu­ren des Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­set­zes. Sie sto­ßen somit auf die vol­le Här­te auf­ent­halts- und asyl­recht­li­cher Bestim­mun­gen. Die Unter­brin­gung erfolgt in Erst­auf­nah­me­ein­rich­tun­gen sowie Not- und Gemein­schafts­un­ter­künf­ten, die expli­zit von der Betriebs­er­laub­nis­pflicht nach dem Kin­der- und Jugend­hil­fe­ge­setz aus­ge­schlos­sen sind. Dort leben­de Kin­der und Jugend­li­che ste­hen somit nicht im Fokus der Kin­der- und Jugendhilfe.

Keine kindgerechte Unterbringung

Im Auf­trag von UNICEF hat der Bun­des­fach­ver­band unbe­glei­te­te min­der­jäh­ri­ge Flücht­lin­ge (BumF) Anfang 2017 die Lebens­si­tua­ti­on von geflüch­te­ten Kin­dern und Jugend­li­chen in Deutsch­land unter­sucht. Die Stu­die (»Kind­heit im War­te­zu­stand – Stu­die zur Situa­ti­on von Kin­dern und Jugend­li­chen in Flücht­lings­un­ter­künf­ten in Deutsch­land«, 2017) zeigt, dass die Unter­brin­gung und Ver­sor­gung in Flücht­lings­un­ter­künf­ten oft­mals ein grund­le­gen­des Pro­blem für vie­le Fami­li­en ist:

»Eine unse­rer größ­ten Schwie­rig­kei­ten ist die, dass wir über­haupt kei­ne Ruhe haben. (…) Man kann selbst in der Nacht nicht rich­tig schla­fen. (…) Nicht nur wir, alle ande­ren Fami­li­en wün­schen sich eine Woh­nung, wo sie auch kochen kön­nen und die Kin­der sich ohne Pro­ble­me frei bewe­gen können. «

Sami­ra, Mut­ter aus Afghanistan

Obwohl Flücht­lings­un­ter­künf­te kein kind­ge­rech­tes Umfeld bie­ten, sind sie für vie­le Kin­der und Jugend­li­che der Lebens­mit­tel­punkt für meh­re­re Mona­te oder Jah­re. Man­geln­de Pri­vat­sphä­re und feh­len­de Ruck­zugs­or­te fuh­ren dazu, dass Kin­der und Jugend­li­che kei­ne Ruhe zum Ler­nen oder Spie­len fin­den und Zeu­gen von Gewalt und Bedro­hung werden.

Auch die gemein­sa­me Unter­brin­gung mit allein­ste­hen­den Män­nern wird von vie­len Fami­li­en als pro­ble­ma­tisch ange­se­hen, da sie das Gefühl haben, ihre Kin­der stän­dig beschüt­zen zu müs­sen. Hin­zu kom­men zum Teil pro­ble­ma­ti­sche hygie­ni­sche Bedin­gun­gen: Sani­tär­an­la­gen wer­den oft­mals von vie­len Per­so­nen benutzt, sind nicht immer abschließ­bar und stel­len ein Risi­ko für die per­sön­li­che Sicher­heit dar.

Auch wenn nicht jede Unter­kunft all die­se Pro­blem­fel­der auf­weist, wir­ken sich die Umstän­de der Unter­brin­gung auch auf das Leben der Kin­der außer­halb der Unter­kunft aus. So berich­ten Jugend­li­che von Han­se­lei­en auf­grund der Unter­brin­gung oder von Schlaf­man­gel wegen des Lärms, der zu Schwie­rig­kei­ten beim Schul­be­such führt. Statt kind­ge­rech­te Frei­rau­me zu haben, müs­sen sich Flücht­lings­kin­der den räum­li­chen Bedin­gun­gen der Unter­kunft und den ande­ren Bewoh­nern anpassen.

Mangelhafte Versorgung

Auch die Ver­sor­gungs­la­ge vie­ler Fami­li­en ist pro­ble­ma­tisch: In den ers­ten 15 Mona­ten gilt im Rah­men des Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­set­zes ein ein­ge­schränk­ter Leis­tungs­an­spruch, der zehn Pro­zent unter den Leis­tun­gen nach SGB II und SGB XII und damit unter »Hartz IV«-Niveau liegt.

Neben feh­len­den finan­zi­el­len Mit­teln für all­täg­li­che Besor­gun­gen wird vor allem die Essens­ver­sor­gung nach dem Sach­leis­tungs­prin­zip als pro­ble­ma­tisch beschrie­ben. Indi­vi­du­el­le Vor­lie­ben, kul­tu­rel­le Gewohn­hei­ten oder gesund­heit­li­che Belan­ge wer­den durch Kan­ti­nen­es­sen oder Essens­pa­ke­te nicht oder nur unzu­rei­chend berück­sich­tigt. Als Fol­ge des­sen berich­ten Fami­li­en von Essens­ver­wei­ge­rung, Gewichts­ver­lust und Ver­dau­ungs­pro­ble­me bei Kin­dern und Jugendlichen.

Kein regulärer Schulbesuch

Kin­der und Jugend­li­che sind von den asyl­recht­li­chen Ände­run­gen seit Herbst 2015 direkt betrof­fen. Beson­ders schwer wiegt die Ver­län­ge­rung der maxi­ma­len Auf­ent­halts­dau­er in Erst­auf­nah­me­ein­rich­tun­gen auf sechs Mona­te. Da die Schul­pflicht in sie­ben Bun­des­län­dern erst mit der Ver­tei­lung aus der Erst­auf­nah­me­ein­rich­tung auf die Kom­mu­nen ein­setzt, ruckt der Schul­be­such für vie­le Kin­der und Jugend­li­che in die Fer­ne. In vie­len Erst­auf­nah­me­ein­rich­tun­gen erfolgt nur eine unter­kunfts­in­ter­ne Beschu­lung  von weni­gen Stun­den pro Tag. Kin­der und Jugend­li­che aus soge­nann­ten »siche­ren Her­kunfts­län­dern« sind in beson­ders gra­vie­ren­der Wei­se hier­von betrof­fen: Sie müs­sen bis zum Abschluss des Asyl­ver­fah­rens bzw. dar­über hin­aus in Erst­auf­nah­me- oder gar »beson­de­ren Auf­nah­me­ein­rich­tun­gen« leben. Die Ungleich­be­hand­lung auf­grund der rein sta­tis­tisch errech­ne­ten Blei­be­per­spek­ti­ve geht nicht unbe­merkt an den Kin­dern und Jugend­li­chen vorbei:

»Und Deutsch­land hilft den Men­schen, aber uns nicht. Aber war­um denn nicht? War­um behan­deln die uns nicht wie Men­schen? Im ande­ren Heim hat­ten wir auch kei­nen Deutsch­kurs, nur für Syrer und Afgha­nen. Sind wir kei­ne Menschen?«

Jugend­li­che aus Albanien 

Das  2017 geplan­te »Gesetz zur bes­se­re Durch­set­zung der Aus­rei­se­pflicht« ermög­licht es den Bun­des­län­dern, zukünf­tig einer noch grö­ße­ren Zahl von geflüch­te­ten Kin­dern und Jugend­li­chen dau­er­haft den Weg aus der Erst­auf­nah­me­ein­rich­tung und damit den Schul­be­such zu ver­wei­gern. PRO ASYL, UNICEF, BumF und wei­te­re Orga­ni­sa­tio­nen haben im Febru­ar 2017 in einer gemein­sa­men Stel­lung­nah­me auf die­se Gefahr und die damit ein­her­ge­hen­de Miss­ach­tung des Kin­des­wohls hingewiesen.

Gleichbehandlung jetzt und für alle!

Eine geeig­ne­te Unter­brin­gung, Ver­sor­gung und der Zugang zu Bil­dung sind für Kin­der, Jugend­li­che und deren Eltern grund­le­gen­de Vor­aus­set­zun­gen, um in Deutsch­land anzu­kom­men. Solan­ge gefluch­te­ten Kin­dern und Jugend­li­chen durch direk­te oder indi­rek­te For­men der Benach­tei­li­gung nicht die­sel­ben Ent­wick­lungs­mög­lich­kei­ten wie ande­ren Gleich­alt­ri­gen ein­ge­räumt wer­den, kann von Gleich­be­hand­lung nicht die Rede sein.

PRO ASYL und BumF e.V. for­dern die Auf­lö­sung bestehen­der Not- und Mas­sen­un­ter­künf­te und die vor­ran­gi­ge Unter­brin­gung in Woh­nun­gen, gera­de für geflüch­te­te Fami­li­en. Deutsch­land muss weg von der ent­mün­di­gen­den Sach­leis­tungs- und Min­der­ver­sor­gung von Flücht­lin­gen, das dis­kri­mi­nie­ren­de Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz gehört abge­schafft! Kin­der und Jugend­li­che müs­sen  unab­hän­gig von ihrem Auf­ent­halts­sta­tus vom ers­ten Tag an zur Schu­le gehen.

Adam Naber, Bun­des­fach­ver­band unbe­glei­te­te min­der­jäh­ri­ge Flüchtlinge
(BumF e.V.)

(Die­ser Arti­kel erschien zuerst im Juni 2017 im Heft zum Tag des Flücht­lings 2017).


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