Hintergrund
Rechte Gewalt gegen Aslysuchende: Es hört nicht auf!
Die Zahlen sind alarmierend: Die »Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle« dokumentiert 3.729 Fälle rassistisch motivierter Gewalt gegen Asylsuchende im Jahr 2016. Die Angaben der Sicherheitsbehörden hingegen sind oft fehlerhaft. Eine Bestandsaufnahme der Gewalt.
Es wird geschlagen und getreten, gehetzt, geschossen und gesprengt, mit Steinen und Molotov-Cocktails geworfen. Tausende Menschen, die in Deutschland Schutz suchen, werden Opfer rechter Gewalt. Der Kampf gegen Geflüchtete und ihre Unterstützer ist eindeutig das dominierende Thema der organisierten Rechten. Eine weitverbreitete Annahme lautet: Seit weniger Geflüchtete nach Deutschland kommen, nehme auch die Zahl rassistisch motivierter Übergriffe ab. Ein Trugschluss, wie ein Blick in die »Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle« zeigt.
In der Chronik dokumentiert PRO ASYL gemeinsam mit der Amadeu Antonio Stiftung rechte Übergriffe auf Geflüchtete in Deutschland. Im Schnitt gab es im vergangenen Jahr jeden Tag zehn Übergriffe auf Asylsuchende. Hinzu kommen hunderte rechte Demonstrationen und Kundgebungen, bei denen unverhohlen gegen Geflüchtete gehetzt wird. Die Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle ist im Internet öffentlich einsehbar.
Die Datenbank ist ein Wasserstandsmesser für Hass und Gewalt im Land. Sie erfüllt darüber hinaus eine zivilgesellschaftliche Kontrollfunktion: Die Chronik ist ein notwendiges Korrektiv zu den Angaben der Sicherheitsbehörden. Als einzige Datenbank bietet sie einen bundesweiten Überblick derartiger Übergriffe und ermöglicht somit einen Vergleich zu den Angaben von Polizei, Landes- und Bundesbehörden, welche immer wieder Fehler und Merkwürdigkeiten aufweisen.
Das Schweigen der Behörden
Um eine Vergleichbarkeit der Statistiken zu gewährleisten, orientieren sich PRO ASYL und die Amadeu Antonio Stiftung grundsätzlich an den Erfassungskriterien der Sicherheitsbehörden. Primärquellen sind im Idealfall Polizeimeldungen.
Allerdings werden viele Vorfälle von den zuständigen Ermittlungsstellen nicht per Pressemitteilung öffentlich gemacht. In zwei Bundesländern können wir dieses Problem konkret benennen. Aus den Angaben des Berliner Senats geht hervor, dass das LKA Berlin im Jahr 2016 insgesamt 50 Übergriffe auf Geflüchtete registrierte. Allerdings veröffentlichten die Behörden nur in sieben Fällen eine entsprechende Pressemitteilung.
Kaum besser die Lage in Bayern: Von 415 registrierten Fällen machten die bayerischen Ermittlungsbehörden nur 94 auf eigene Initiative hin öffentlich. Die Dunkelziffer der Übergriffe dürfte deutlich höher liegen. Viele Fälle kommen nie zur Anzeige – teils, weil die Betroffenen Angst vor der Polizei haben, teils, weil sie kein Aufsehen erregen wollen aus Sorge um ihren Aufenthaltsstatus oder ihr laufendes Asylverfahren.
Umso wichtiger ist deshalb die Arbeit der regionalen Opferberatungsstellen, deren Erkenntnisse in die Chronik einfließen. Die Opferberatungsstellen kennen die Strukturen vor Ort und vermitteln Betroffenen rechter Gewalt bei Bedarf juristische oder psychologische Betreuung.
Leider müssen viele Opferberatungsstellen Jahr für Jahr um eine Folgefinanzierung bangen. Die Amadeu Antonio Stiftung fordert seit Langem, dass die Opferberatungsstellen von den Ländern finanziell abgesichert werden, damit sie ihre unersetzliche Arbeit langfristig planen und fortsetzen können.
Insbesondere Lokalredaktionen erhalten oftmals wertvolle Hinweise auf Vorfälle, die andernfalls nicht zeitnah öffentlich gemacht würden. Ein Beispiel: Am 23. Februar 2016 warfen Unbekannte mit einem Stein die Scheibe einer Asylunterkunft im sächsischen Moritzburg ein. In dem dahinter liegenden Zimmer befanden sich zum Tatzeitpunkt mehrere Menschen, zum Glück wurde niemand verletzt.
Ein Zeuge hatte die Sächsische Zeitung auf den Vorfall hingewiesen. Erst auf Nachfrage der Redaktion bestätigte die zuständige Ermittlungsstelle den Vorfall, weiterführende Details wurden der Zeitung jedoch verweigert. Nur der Hartnäckigkeit der Redaktion ist es zu verdanken, dass die Öffentlichkeit überhaupt von dem Vorfall erfuhr. So konnten wir den Fall in die Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle aufnehmen. In der Statistik des Bundeskriminalamt (BKA) fehlt dieser Vorfall übrigens bis heute.
Die BKA-Statistik ist mangelhaft
Das BKA ist für die bundesweite Erfassung von Übergriffen auf Asylsuchende verantwortlich. Das BKA beruft sich auf Angaben der Bundesländer (Landeskriminalämter), die sich wiederum auf die einzelnen Polizeidienststellen beziehen. Auch wenn das BKA letztlich nur bündelt, was der Behörde aus den Ländern zugetragen wird, ist offensichtlich: Die BKA-Statistik ist mangelhaft.
Ein Abgleich der Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle von PRO ASYL und der Amadeu Antonio Stiftung mit der Statistik des BKA zeigt, dass die offiziellen Angaben der Ermittlungsbehörden die tatsächliche Dimension rassistischer Gewalt gegen Asylsuchende nicht angemessen wiedergeben. Das BKA verzeichnete laut eigenen Angaben im Jahr 2016 insgesamt 3.533 Übergriffe auf Asylsuchende. Zur Erinnerung: Die Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle zählte im selben Zeitraum 3.729 Fälle – also fast 200 Fälle mehr.
Die Sicherheitsbehörden veröffentlichen ihre Statistiken nicht von selbst. Dies geschieht nur, weil Abgeordnete Druck auf die Behörden ausüben.
Die Sicherheitsbehörden veröffentlichen ihre Statistiken nicht von selbst. Dies geschieht nur, weil Abgeordnete Druck auf die Behörden ausüben. In einzelnen Landtagen und im Bundestag stellen Abgeordnete sogenannte Kleine Anfragen und machen so von ihrem parlamentarischen Auskunftsrecht gegenüber Behörden Gebrauch. Dadurch sind die angefragten Landeskriminalämter sowie das Bundeskriminalamt gezwungen, ihre Erkenntnisse zumindest quartalsweise zu veröffentlichen. Anders sind diese Angaben nicht zu beziehen, obwohl die Zahlen laufend aktualisiert vorliegen. Auf Presseanfragen etwa liefert das BKA durchaus wöchentlich aktualisierte Zahlen, jedoch ohne weitere Details zu den einzelnen Vorfällen zu nennen.
Für genauere Informationen bleiben also nur die Antworten auf die parlamentarischen Anfragen. Diese bestehen aus ellenlangen Listen, deren Aussagekraft dennoch dürftig ist: Beantwortet wird im Wesentlichen, wann und wo es zu welchem Delikt zum Nachteil von Asylsuchenden kam und ob die Ermittlungsbehörden den jeweiligen Vorfall als rechtsmotiviert einstufen. Immerhin lassen sich diese Angaben mit der Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle von PRO ASYL und der Amadeu Antonio Stiftung abgleichen.
Dennoch bereiten die Angaben der Behörden etliche Probleme: Für Großstädte wie Köln oder Hamburg bedürfte es einer genaueren Angabe der jeweiligen Tatorte, mindestens eines Ortsteils, besser noch der Straßennamen. Andernfalls ist es nahezu unmöglich einzelne Fälle nachzurecherchieren. Dass den Behörden entsprechend detaillierte Angaben vorliegen, zeigen etwa die umfassenden Antworten auf parlamentarische Anfragen an den Berliner Senat. Die Berliner Sicherheitsbehörden liefern auf Anfrage eine kurze Schilderung des jeweiligen Sachverhalts. Das ist vorbildlich.
Das BKA hingegen führt tausende Fälle von »Sachbeschädigung«, »Körperverletzung« oder anderen verklausulierten Delikten auf, ohne jede Schilderung des Sachverhalts. So bleibt unklar, was in den einzelnen Fällen tatsächlich vorgefallen ist. PRO ASYL und die Amadeu Antonio Stiftung fordern daher mehr Transparenz seitens der Sicherheitsbehörden. Solange keine nennenswerten ermittlungstaktischen Gründe für Verschwiegenheit bestehen, müssen alle Fälle politisch motivierter Gewalt gegen Asylsuchende zeitnah und umfassend und nicht erst auf Anfrage von Abgeordneten öffentlich gemacht werden.
Lesen Sie hier die Beschreibung einiger beispielhafter Fälle, die das Ausmaß der Gewalt deutlich machen, zum Teil aber nicht einmal Eingang in die offizielle BKA-Statistik gefunden haben:
Eine 34-Jährige fährt mittags mit dem Auto an einer Asylunterkunft vorbei. Dabei soll sie mit einer Schreckschusspistole auf zwei Bewohner der Unterkunft geschossen haben. Beide bleiben unverletzt. Wenig später stellt die Polizei die Tatverdächtige und findet im Fahrzeug die Tatwaffe und zwei Messer. Der Vorfall findet sich nicht in der Auflistung des BKA zu Übergriffen auf Geflüchtete.
Unbekannte schütten am Nachmittag eine ätzende Flüssigkeit durch ein auf Kipp gestelltes Fenster in eine Wohnung, in der eine aus Syrien geflüchtete Frau lebt. Die 37-Jährige klagt über Atemnot und wird zur ärztlichen Versorgung in ein Krankenhaus gebracht. Bereits wenige Tage zuvor haben unbekannte Täter einen ähnlichen Anschlag auf eine andere Asylunterkunft in Flensburg verübt.
Unbekannte werfen Steine auf eine Wohnung von Asylsuchenden. Einer der Pflastersteine durchschlägt das Wohnzimmerfenster. Durch die umherfliegenden Glassplitter werden zwei 19 und 36 Jahre alte Asylsuchende verletzt. Zu diesem Zeitpunkt befinden sich zehn weitere Personen in der Wohnung.
Zum dritten Mal innerhalb von zwei Wochen kommt es in Neustadt zu einem tätlichen Angriff auf jugendliche Asylsuchende. Ein 18-jähriger Bewohner einer Unterkunft für unbegleitete minderjährige Geflüchtete soll am Abend von drei Unbekannten im Bereich der Hauptstraße tätlich angegangen worden sein. Wie schon in den beiden vorherigen Fällen wird der Geschädigte von den Tätern zunächst angesprochen und dann unvermittelt attackiert. Während das BKA einen der vorherigen Übergriffe in Neustadt als rechtsmotivierte Körperverletzung einordnet, fehlt dieser Fall in der offiziellen Statistik komplett.
Ein 20-jähriger Tatverdächtiger soll in der Nacht zwei Molotov-Cocktails gegen ein Fenster eines Gebäudes geworfen haben, in dem zwanzig unbegleitete minderjährige Geflüchtete wohnen. Es ist einer der wenigen Brandanschläge, in dem neben schwerer Brandstiftung auch wegen versuchten Mordes ermittelt wird.
Die ganze Milde des Gesetzes
Rechte Gewalt muss konsequent benannt und geahndet werden. Das gilt im Übrigen auch für rassistische, volksverhetzende Hasskommentare im Internet. Zwar droht die Politik rechten Gewalttätern gern die »volle Härte des Gesetzes an«. Doch die Realität sieht anders aus: Die Aufklärungsquote ist erschreckend niedrig. Wie viele Tatverdächtige konnten die Behörden in tausenden Ermittlungsverfahren dingfest machen? Wie viele Verurteilungen gab es? Auch auf diese Fragen liefern weder das Bundesjustizministerium noch das BKA Antworten. Deshalb recherchierte die Amadeu Antonio Stiftung gemeinsam mit dem Magazin »Stern«, welche Strafen die Täter bei besonders schwerwiegenden Delikten wie Körperverletzung oder Brand- und Sprengstoffanschlägen bekamen.
Das ernüchternde Ergebnis: Nur jede vierte Gewalttat gegen Asylsuchende aus den Jahren 2013 und 2014 wurde von deutschen Strafverfolgungsbehörden aufgeklärt. Nur zwei Prozent der ermittelten Straftäter erhielten später eine Gefängnisstrafe (stern Nr. 17/2016). Im Übrigen scheitern Gerichtsprozesse auch daran, dass Opfer und Zeugen nicht aussagen können, weil sie abgeschoben wurden.
Bleiberecht für die Opfer rechter Gewalt
Auch aus diesem Grund fordern PRO ASYL, die Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt und die Amadeu Antonio Stiftung ein bundesweites Bleiberecht für Betroffene rechter Gewalt. Wenn Täter*innen straflos bleiben, weil der Staat ihre Opfer zwischenzeitlich außer Landes gebracht hat, ist dies ein fatales Signal: Rechte Gewalttäter können sich vor Verfolgung und Bestrafung sicher fühlen.
Umgekehrt signalisiert eine Bleiberechtsregelung, dass der Staat sich kompromisslos auf die Seite der Opfer stellt. Der brandenburgische Innenminister hat es per Erlass vorgemacht. Auch Berlin und Thüringen debattieren eine entsprechende Regelung. Das ist erfreulich.
Andererseits ermutigt das gegenwärtige politische Klima die Täter eher. Während Asylunterkünfte brennen, prägen Asylrechtsverschärfungen, Massenabschiebungen und eine um sich greifende Islamfeindlichkeit die politische Debatte. Das ist Wasser auf die Mühlen der Rechten. Dabei wäre es im Vorfeld der Bundestagswahl Aufgabe aller demokratischen Parteien, sich nicht weiter von der AfD und der organisierten Rechten treiben zu lassen. Wer das Grundgesetz ernst nimmt und tatsächlich auf dem Boden der oft zitierten freiheitlich-demokratischen Grundordnung steht, muss sich stattdessen gegen Gewalt und für das Grundrecht auf Asyl einsetzen.
MariusMünstermann/Timo Reinfrank, Amadeu Antonio Stiftung
(Dieser Artikel erschien zuerst im Juni 2017 im Heft zum Tag des Flüchtlings 2017).