Hintergrund
Menschen in Lebensgefahr: Rechte Hetze und Gewalt gegen Flüchtlinge nehmen weiter zu
Jeden dritten Tag wird in Deutschland eine Flüchtlingsunterkunft angezündet. Auch kommt es immer häufiger zu persönlichen Attacken auf Flüchtlinge – doch der öffentliche Aufschrei bleibt aus.
Am 4. April 2015 brannte in Tröglitz (Sachsen-Anhalt) der Dachstuhl einer geplanten Flüchtlingsunterkunft. Zuvor hatte es mehrere Demonstrationen gegen die Unterbringung von Geflüchteten im Ort gegeben. Die Öffentlichkeit war schockiert, bundesweit wurde über den Vorfall berichtet. Der kurz vor dem Brand aufgrund der Proteste zurückgetretene Bürgermeister befürchtete, Tröglitz würde künftig in einem Atemzug mit Mölln und Hoyerswerda genannt. Er sollte sich irren – es blieb ein kurzer Aufschrei. Sogar die Tatsache, dass das Gebäude auch ein Jahr später nicht fertig saniert war und ein sechs Monate nach dem Brand festgenommener tatverdächtiger NPD-Sympathisant wieder freigelassen wurde, wurde von Medien kaum mehr kommentiert.
Freitaler Parolen: Zuerst belächelt, jetzt gesellschaftlich akzeptiert
Im sächsischen Freital kam es Ende Juni 2015 zu einer Reihe von Demonstrationen gegen die Flüchtlingsunterkunft. Begleitet von großen Gegendemonstrationen und Willkommensfesten amüsierte sich die Öffentlichkeit über die »besorgten Bürger« und ihre rechtsextremen Parolen.
Ein paar Monate später hat sich die Aggression zum Normalzustand entwickelt: Flüchtlinge in Freital werden, öffentlich weitgehend unbeachtet, immer wieder zum Ziel von Attacken. Forderungen wie »kriminelle Ausländer raus« oder »Wer Deutschland nicht liebt, muss Deutschland verlassen« sind längst auch anderswo zur Gewohnheit geworden.
Die Kanzlerin zeigt sich – und erntet Zorn
Ende August 2015 gerieten die Ausschreitungen in Heidenau in die bundesweiten Schlagzeilen. Mehrere Nächte lang wurde die neu bezogene Unterkunft belagert, dabei kam es zu teils gewalttätigen Auseinandersetzungen. Nun bezog sogar die Bundeskanzlerin öffentlich Stellung und besuchte erstmals eine Flüchtlingsunterkunft. Vor Ort wurde sie von rechten Demonstranten übel beschimpft.
Ein, zwei, viele Tröglitze: Es brennt bundesweit
PRO ASYL und die Amadeu Antonio Stiftung führen eine fortlaufende Statistik zu rechter Gewalt. Dort sind für 2015 insgesamt 1.072 Straftaten an Flüchtlingsunterkünften detailliert protokolliert, davon 136 Brandanschläge. Auch das Bundeskriminalamt spricht von über 1.000 Übergriffen. Man kann von Glück sagen, dass in den letzten Monaten – Stand Frühjahr 2016 – niemand in einem brennenden Asylheim zu Tode gekommen ist. Auch persönliche Angriffe nehmen in ganz Deutschland zu: Die Chronik zählte 2015 insgesamt 183 tätliche Übergriffe, bei denen 267 Flüchtlinge verletzt wurden.
Die Attacken gegen Flüchtlinge geschehen dabei keineswegs nur versteckt oder verschämt. Denn auch die Zahl der fremdenfeindlichen Demonstrationen wächst: 288 im Jahr 2015, ab 2016 schoss die Zahl noch einmal in die Höhe. Offenbar können sich die rechten Stimmungsmacher mit ihren menschenfeindlichen Parolen zunehmend akzeptiert fühlen.
Die Öffentlichkeit stumpft ab
Nachdem die Vorfälle in der zweiten Jahreshälfte 2015 massiv zugenommen hatten, geriet das Thema »Gewalt gegen Flüchtlinge« allerdings nur noch bei besonders auffälligen Attacken in die überregionalen Schlagzeilen, beispielsweise bei den Schüssen auf eine Unterkunft im hessischen Hofheim oder den Vorfällen in Clausnitz im Februar 2016: Dort konnte man per Videoaufnahme miterleben, wie ein grölender Mob einen Bus mit Flüchtlingen blockiert. Kurz darauf brannte in Bautzen eine Flüchtlingsunterkunft – und schaulustige Bürger klatschen johlend Beifall. Erinnerungen an Rostock-Lichtenhagen wurden wach.
Die Öffentlichkeit scheint sich an brennende Flüchtlingsunterkünfte und an Angriffe auf Flüchtlinge und Migrant*innen gewöhnt zu haben.
Die alltägliche Gewalt gegen Flüchtlinge bleibt jedoch eine Randnotiz. Nur in einem Bruchteil der Fälle regt sich – oft durch die sozialen Medien verbreitet – breite Empörung. Die Öffentlichkeit scheint sich daran gewöhnt zu haben, dass in Deutschland Flüchtlingsunterkünfte angezündet und Flüchtlinge und Migrant*innen attackiert werden. Der dringend notwendige Aufschrei bleibt zumeist aus. Das ist besonders gefährlich, weil die Aufklärungsquote von solchen Taten erschreckend gering ist.
Nachlässige Strafverfolgung
Nur in einem Bruchteil der Fälle konnten Tatverdächtige ermittelt werden, wie unter anderem eine Recherche der ZEIT vom 3.12.2015 ergab. Die Aufklärungsquote liegt deutlich unter der beispielsweise bei Brandanschlägen üblichen. Erschreckend gering ist auch die Anzahl der tatsächlich ergangenen Urteile.
Die zunehmende Sicherheit der rechten Szene hängt wesentlich mit der nachlässigen Strafverfolgung von rassistisch motivierten Straftaten zusammen. Geschichte wiederholt sich: Schon nach den Pogromen in den 90er-Jahren konnte sich die rechte Szene vor Strafverfolgung weitgehend sicher fühlen.
Staatliche Akteure erkennen rechten Terror nicht
Die wenigen Ermittlungserfolge nach Angriffen auf Asylunterkünfte werden bisweilen damit begründet, dass viele Täter*innen nicht zur rechten Szene zu zählen seien – häufig erweist sich diese Aussage bei näherem Hinschauen aber als falsch. Hinzu kommt: Auch unorganisierte Täter*innen bewegen sich in einem sozialen Umfeld, mit dem sie sich austauschen, das sie in rassistischen Einstellungen bestätigt oder gar zur Tat ermutigt. Oft geschieht dies sogar sehr offen in sozialen Netzwerken – die Ermittlungsbehörden stellen mitunter aber keine entsprechenden Nachforschungen an.
Hunderte Haftbefehle gegen Neonazis werden nicht vollstreckt – allein diese Tatsache sollte Anlass genug für flächendeckende Untersuchungen sein.
Auch eine Einordnung der unzähligen fremdenfeindlichen Straftaten in mögliche rechtsterroristische Strukturen erfolgt überhaupt nicht. Das erinnert fatal an das jahrelange Versagen der Ermittlungsbehörden, die vom NSU verübten Taten in einen solchen Zusammenhang zu bringen. Allein die Erkenntnis, dass hunderte Haftbefehle gegen Neonazis nicht vollstreckt werden und möglicherweise manche von ihnen im Untergrund agieren, sollte Anlass genug für flächendeckende Untersuchungen sein.
Keinen weiteren Rückfall in die dunklen Tage zulassen!
Neben bundesweiter Zusammenarbeit der Ermittlungsbehörden, konsequenter Strafverfolgung der Täter und wirksamem Schutz von Flüchtlingen und ihren Unterkünften braucht es auch eine kritische Öffentlichkeit, die fremdenfeindliche Straftaten nicht als alltäglich hinnimmt, sondern fortwährend darüber berichtet und Versäumnisse bei den Ermittlungen anprangert. Politik und Zivilgesellschaft dürfen nicht zulassen, dass wir einen Rückfall in die dunklen Tage zu Beginn der 1990er-Jahre erleben!
Dafür ist es dringend notwendig, dass rechte Hetze und Gewalt konsequent bekämpft wird. Was es trotz aller situativen Empörung aber bislang nicht gibt, ist eine zielgerichtete, breite gesellschaftliche und politische Debatte, wie man der zunehmenden Erosion des Anstands und der Ausbreitung rechter Gewalt auch langfristig begegnet. Die Integration rassistischer und fremdenfeindlicher Positionen in die Gesellschaft durch ihre achselzuckende oder gar ausgesprochene Akzeptanz ist ebenso gefährlich wie Verschärfungen des Asylrechts in der trügerischen Hoffnung, den rechten Mob damit zu befrieden.
Max Klöckner
(Dieser Beitrag erschien im Juni 2016 im Heft zum Tag des Flüchtlings 2016.)