Hintergrund
Flüchtlingspolitik am Nullpunkt: die Orbanisierung Europas
Gibt es noch ein Tabu in der Europäischen Flüchtlingspolitik? Unterhalb vom »Schießbefehl« an den Grenzen oder der Forderung, Flüchtlingsboote direkt im Mittelmeer zu versenken, scheint fast jeder Vorschlag diskussionswürdig.
Die wenigen Momente der Selbstkritik, etwa nach dem 360-fachen Tod vor Lampedusa im Oktober 2013, sind passe. Es gibt keine offizielle Schweigeminute mehr für ertrunkene Fluchtlinge. Stattdessen: Flüchtlingsdeal mit Erdogan (Marz 2016), mit dem zerfallenen Bürgerkriegsland Libyen (Februar 2017), das EU-Abkommen mit Afghanistan (Oktober 2016), die Endlosdebatte über »Lager in Nordafrika«, »Migrationspartnerschaften« mit diktatorischen Regimen. Es droht die Orbanisierung Europas.
Seit Lampedusa starben über 13.000 Menschen im Mittelmeer. Ohne den unermüdlichen Einsatz von zivilen Seenotrettungsorganisationen waren es noch viel mehr. Ihr Anteil an der Seenotrettung stieg von fünf Prozent im Jahre 2015 auf 40 Prozent im Jahr 2016. Dieser Einsatz ist den Festungsbauern jedoch zunehmend ein Dorn im Auge. Osterreichs Außenminister Kurz hetzt am 24. Marz 2017: »Der NGO-Wahnsinn muss beendet werden«. Die freiwilligen Seenotretter*innen würden sich zu Partnern der Schlepperbanden machen. Der Frontex-Chef Leggeri erhob ähnliche Vorwürfe. Derartige Äußerungen sind alarmierend, da die Hilfsorganisationen zudem die einzigen sind, die auf hoher See das Handeln der EU und ihrer »neuen Partner« zumindest ansatzweise überwachen können.
Rolle rückwärts der EU-Kommission
Laut Angaben des UNHCR vom 28. Februar 2017 sind bislang Zehntausende Schutzsuchende an europäischen Grenzen zurückgedrängt worden, so in Bulgarien, Kroatien, Griechenland, Ungarn, Serbien, Spanien und Mazedonien. In vielen Fällen wurde mutmaßlich Gewalt angewendet, um die Menschen fernzuhalten. Irgendeine signifikante Reaktion der Kommission zu diesen Völkerrechtsverstößen? Fehlanzeige.
Die Brüsseler Blaupausen für ein neues EU-Asylrecht sind nahezu durchgängig ein Programm zur Schwächung von Flüchtlingsrechten.
Im Flüchtlingsrecht erfüllt die EU-Kommission ihre Rolle als Hüterin der Verträge nicht mehr. Um »Handlungsfähigkeit« zu demonstrieren, ist sie inzwischen Teil des Überbietungswettbewerbs der asylrechtlichen Restriktionen. Die Brüsseler Blaupausen für ein neues EU-Asylrecht sind nahezu durchgängig ein Programm zur Schwächung von Flüchtlingsrechten. Deutlich wird dies etwa an den Vorschlägen zur Reform der Dublin-Verordnung.
Dublin revitalisiert und verschärft
Das erbärmliche politische Scheitern der EU bei der Flüchtlingsaufnahme hatte einen Neubeginn, eine grundlegende Reform des unfairen und unmenschlichen Dublin Systems, zur Folge haben müssen. Der Vorschlag für eine veränderte Asylzuständigkeitsregelung (Dublin IV) sieht hingegen eine deutliche Verschärfung vor.
Brüssel will verpflichtend einführen, dass Mitgliedsstaaten noch vor Beginn des eigentlichen Dublin-Verfahrens prüfen sollen, ob Asylsuchende über einen »sicheren Drittstaat« oder »sicheren Herkunftsstaat« eingereist sind – trifft dies zu, so sind die Antrage als unzulässig abzulehnen. Ihre Fluchtgründe können Flüchtlinge dann nicht mehr vorbringen.
Bisher noch vorhandene humanitäre Spielräume der Mitgliedsstaaten sollen durch den Wegfall der Überstellungsfristen und die Aushöhlung des sogenannten Selbsteintrittsrechts massiv eingeschränkt werden. Flüchtlinge drohen zu »refugees in orbit« zu werden, zu Schutzsuchenden, für deren Asylantrag sich kein Staat mehr zuständig fühlt. Zur besseren Durchsetzung der Transfers von Asyl suchenden sollen Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums verweigert werden können.
Die Zivilgesellschaft wehrt sich
In den letzten zwei Jahren haben sich zivilgesellschaftliche Initiativen für den Flüchtlingsschutz stark gemacht wie nie zuvor. Von der Seenotrettung im Mittelmeer, über Hilfe entlang der Fluchtrouten in Europa bis hin zur Unterstützung in den Aufnahmeländern leisten zivilgesellschaftliche Gruppen einen immensen Beitrag, um Leben zu retten, Leid zu mindern und Flüchtlingen zu ihren Rechten zu verhelfen.
Karl Kopp, PRO ASYL
(Dieser Artikel erschien zuerst im Juni 2017 im »Heft zum Tag des Flüchtlings 2017«)