08.03.2023
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Afghanische Frauen demonstrieren in Kabul gegen die Taliban. Foto: picture alliance / abaca | Zerah Oriane/ABACA

Sie fühlen sich und ihr Land vergessen – und wehren sich: Zum Internationalen Frauentag veröffentlichen 80 Afghaninnen mit Hilfe von PRO ASYL einen eindringlichen Appell an die Bundesregierung, ihre Versprechen für Afghanistan endlich einzulösen. Darunter ist auch die afghanische Künstlerin Sara Nabil.

»Wir ver­zwei­feln über unse­ren Han­dys, auf denen wir tag­täg­lich die grau­sams­ten Nach­rich­ten und Bil­der von einem Afgha­ni­stan erhal­ten, in dem es kei­ne Men­schen­wür­de mehr gibt. Wir kön­nen die Hil­fe­ru­fe unse­rer Fami­li­en, Freund*innen und Kolleg*innen kaum ertragen.«

So for­mu­lie­ren afgha­ni­sche Frau­en, die in Deutsch­land und in den Nie­der­lan­de leben, ihre Gefüh­le mit Blick auf ihre Fami­li­en und Freun­de in Afgha­ni­stan. Mit Unter­stüt­zung der Afgha­ni­stan-Refe­ren­tin von PRO ASYL, Dr. Ale­ma, haben sie zum Inter­na­tio­na­len Frau­en­tag 2023 eine Ber­li­ner Erklä­rung ver­fasst. Dar­in for­dern mehr als 80 Frau­en aus Afgha­ni­stan und meh­re­re Frau­en­grup­pen die Bun­des­re­gie­rung auf, sich an ihre Ver­spre­chen aus dem Koali­ti­ons­ver­trag und dem Akti­ons­plan Afgha­ni­stan vom Dezem­ber 2021 zu halten.

Ver­öf­fent­licht wird der Appell zur Tagung »Ver­ra­ten und ver­ges­sen? Frau­en in Afgha­ni­stan nach der Macht­über­nah­me der Tali­ban«, zu der PRO ASYL und die Evan­ge­li­sche Aka­de­mie zu Ber­lin für den Inter­na­tio­na­len Frau­en­tag  etwa 200 Afgha­nin­nen ein­ge­la­den haben.

Geschlechtsspezifische Verfolgung muss anerkannt werden

Zu den wich­ti­gen Anlie­gen gehört auch die For­de­rung, dass afgha­ni­sche Mäd­chen und Frau­en im Asyl­ver­fah­ren wegen geschlechts­spe­zi­fi­scher Ver­fol­gung eine Aner­ken­nung als Flücht­ling erhal­ten müs­sen – wie jüngst von der Euro­päi­schen Asyl­agen­tur (EUAA) gefor­dert. Län­der wie Däne­mark und Schwe­den haben die­sen Schritt bereits vor­ge­macht, auch PRO ASYL hat sich dazu geäu­ßert.

Denn die Lage der Frau­en in Afgha­ni­stan ist dra­ma­tisch: Sie dür­fen nicht zur Schu­le gehen oder stu­die­ren, nicht öffent­lich sicht­bar arbei­ten, sich kaum auf öffent­li­chen Plät­zen auf­hal­ten und müs­sen sich min­des­tens mit einem Hid­schab ver­hül­len. Das sind nur eini­ge der Ver­bo­te und Dis­kri­mi­nie­run­gen, denen Mäd­chen und Frau­en in Afgha­ni­stan aus­ge­setzt sind – ein­zig, weil sie weib­lich sind.

»Mei­ne Toch­ter bete­te zu Gott, dass er die Tali­ban ver­scheucht und ihre Eltern rettet.

Millionen Schwestern in Afghanistan werden ihrer Rechte beraubt

In der Ber­li­ner Erklä­rung schrei­ben die Unter­zeich­ne­rin­nen: »Seit ein­ein­halb Jah­ren wer­den unse­re Mil­lio­nen Schwes­tern in Afgha­ni­stan ihrer Rech­te auf ein frei­es und siche­res Leben beraubt. In allen denk­ba­ren Lebens­be­rei­chen wer­den sie durch das Tali­ban-Regime dis­kri­mi­niert, unter­drückt und nahe­zu voll­stän­dig aus dem öffent­li­chen Leben gedrängt. Ihnen wur­de ihr Recht auf Bil­dung, poli­ti­sche Teil­ha­be und auf freie Aus­übung eines Beru­fes genom­men. Sie dür­fen nicht rei­sen, kei­nen Sport trei­ben, nicht ein­mal Parks oder öffent­li­che Bäder besu­chen. Vie­le sind bedroht von Zwangs­ehen mit Tali­ban-Anhän­gern und mit­tel­al­ter­li­chen Stra­fen wie Aus­peit­schun­gen und Steinigungen.«

Im August 2022 haben zwei afgha­ni­schen Frau­en, die mit Hil­fe von PRO ASYL in Deutsch­land auf­ge­nom­men wer­den konn­ten, ihre und die Situa­ti­on der Frau­en ein­drück­lich geschil­dert: »Mei­ne Toch­ter bete­te zu Gott, dass er die Tali­ban ver­scheucht und ihre Eltern rettet.«

Regierung muss Versprechen aus Koalitionsvertrag einlösen

Die Unter­zeich­ne­rin­nen, die sich rund ein­ein­halb Jah­re nach der Macht­über­nah­me der Tali­ban von west­li­chen Staa­ten und auch von Deutsch­land im Stich gelas­sen füh­len, kri­ti­sie­ren zudem die unzu­rei­chen­de Umset­zung des Koali­ti­ons­ver­trags und for­dern Nach­bes­se­run­gen beim Bun­des­auf­nah­me­pro­gramm, damit Deutsch­land sei­ner Ver­ant­wor­tung gerecht wird.

Doch die ange­kün­dig­te Reform des Orts­kräf­te­ver­fah­rens gibt es bis­her nicht, der Fami­li­en­nach­zug dau­ert Jah­re und die Ver­ga­be von huma­ni­tä­ren Visa für höchst gefähr­de­te Per­so­nen stockt. Men­schen, die nach der Macht­er­grei­fung der Tali­ban in das benach­bar­te Aus­land geflo­hen sind, weil west­li­che Staa­ten sie nicht auf­nah­men, sind von dem Bun­des­auf­nah­me­pro­gramm der Bun­des­re­gie­rung aus­ge­schlos­sen. Immer noch wer­den Asyl­an­trä­ge afgha­ni­scher Frau­en abge­lehnt oder nur mit einem min­de­ren Schutz­sta­tus aner­kannt, der den Fami­li­en­nach­zug ausschließt.

Aufnahmeverfahren müssen verbessert werden

In dem Appell for­dern die Unter­zeich­ne­rin­nen des­we­gen leich­te­re Zugän­ge zum Bun­des­auf­nah­me­pro­gramm, Erleich­te­run­gen bei der Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung sowie die Fort­füh­rung der Auf­nah­me über Ver­ga­be von huma­ni­tä­ren Visa – und für afgha­ni­sche Mäd­chen und Frau­en die Flücht­lings­ei­gen­schaft auf­grund geschlechts­spe­zi­fi­scher Ver­fol­gung. Schon im August 2022 hat PRO ASYL ein Gut­ach­ten zur men­schen­recht­li­che Ver­pflich­tung Deutsch­lands zur Auf­nah­me von Afghan*innen veröffentlicht.

Die Unter­zeich­ne­rin­nen der Erklä­rung for­dern die Bun­des­re­gie­rung auf:

  • Afgha­ni­sche Schutz­su­chen­de, die in Nach­bar­län­der flie­hen muss­ten und dort oft von Abschie­bung nach Afgha­ni­stan bedroht sind, in das Bun­des­auf­nah­me­pro­gramm einzubeziehen.
  • Mehr als nur 1.000 Per­so­nen monat­lich auf­zu­neh­men, um der tat­säch­li­chen Anzahl der Bedroh­ten gerecht zu werden.
  • Die Auf­nah­me höchst gefähr­de­ter Per­so­nen in drin­gen­den Ein­zel­fäl­len durch Ertei­lung von huma­ni­tä­ren Visa nach §22 S. 2 Auf­enthG neben einem Bun­des­auf­nah­me­pro­gramm fortzuführen.
  • Das Orts­kräf­te­ver­fah­ren so zu refor­mie­ren, dass alle Bedroh­ten, die für Deutsch­land gear­bei­tet haben, Schutz fin­den, unab­hän­gig davon, wie weit die Tätig­keit zurück­liegt. Der Begriff Orts­kraft muss auch ehren­amt­li­che oder angeb­lich selb­stän­di­ge Tätig­kei­ten für deut­sche Insti­tu­tio­nen, Orga­ni­sa­tio­nen und (Sub-) Unter­neh­men umfassen.
  • Den Pro­zess der Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung aus Afgha­ni­stan, der inzwi­schen fast zum Erlie­gen gekom­men ist, zu ver­ein­fa­chen und zu beschleu­ni­gen. Dar­über hin­aus soll­te der Begriff der Fami­li­en alle tat­säch­lich bedroh­ten Fami­li­en­mit­glie­der umfas­sen, die unter einem Dach leben oder gewohnt haben, unab­hän­gig von der Altersgrenze.
  • Den Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen von in Deutsch­land leben­den ehe­ma­li­gen Orts­kräf­ten, die sich noch in Afgha­ni­stan auf­hal­ten, die Auf­nah­me nach Deutsch­land zu ermöglichen.
  • Afgha­ni­schen Men­schen in Deutsch­land dau­er­haf­ten Schutz zu gewäh­ren. Z. B. müs­sen afgha­ni­sche Frau­en auf­grund der geschlechts­spe­zi­fi­schen Ver­fol­gung die  Flücht­lings­ei­gen­schaft erhal­ten, so wie es jüngst die Euro­päi­sche Asyl­agen­tur (EUAA) gefor­dert hat.

Selbstverpflichtung der Frauen

Die Unter­zeich­ne­rin­nen wol­len alles in ihrer Macht ste­hen­de tun: »Wir kön­nen der Situa­ti­on nicht taten­los zuse­hen. Wir wol­len eines Tages auf die Fra­ge, was wir getan haben, nicht schwei­gen müs­sen. Egal wo wir uns befin­den, wir wol­len unse­rer Ver­ant­wor­tung und Ver­pflich­tung gegen­über den Men­schen in Afgha­ni­stan nachkommen.«

Sie for­dern alle fort­schritt­li­chen Afgha­nin­nen und Afgha­nen inner- und außer­halb des Lan­des, sich gegen Geschlech­ter­dis­kri­mi­nie­rung ein­zu­set­zen und eine Alter­na­ti­ve zu dem der­zei­ti­gen poli­ti­schen Zustand in Afgha­ni­stan zu entwickeln.

Künstlerin unterstützt den appell 

Zu den Unter­zeich­ne­rin­nen des Appells gehört die afgha­ni­sche Künst­le­rin Sara Nabil. Nabil wur­de 1994 in Afgha­ni­stan gebo­ren und erleb­te als Kind die ers­te Ter­ror­herr­schaft der Tali­ban. Die erneu­te Macht­er­grei­fung der Tali­ban im August 2021 hat sie sehr getrof­fen. Im Gespräch mit PRO ASYL for­mu­liert sie: »Ich gehö­re zu den Leu­ten, die in den letz­ten 20 Jah­ren Mög­lich­kei­ten hat­ten. Zur Schu­le zu gehen, zur Uni zu gehen, sich zu ent­wi­ckeln und für die Men­schen­rech­te ein­zu­set­zen. Aber wir haben gese­hen, dass inner­halb von einem Tag alles zer­bre­chen kann. Jetzt lei­den 35 Mil­lio­nen Men­schen und man fin­det die vor­he­ri­gen Wer­te nicht wie­der. Die Tali­ban glau­ben nicht an Men­schen­rech­te, man sieht jeden Tag die schlimms­ten Sachen.«

Heu­te lebt Nabil in Deutsch­land. Die Situa­ti­on der Frau­en in Afgha­ni­stan bil­det das Zen­trum ihrer künst­le­ri­schen Arbeit: »Mei­ne Kunst­wer­ke spre­chen von der Situa­ti­on der Men­schen und beson­ders von Frau­en in Afgha­ni­stan und von dem, was die Men­schen in dem Land brau­chen. Ich glau­be, die For­de­rung ist ganz klar: Men­schen sind kei­ne Ware und ihr Schick­sal ist kei­ne Ver­hand­lungs­mas­se! Das möch­te ich über mei­nen Akti­vis­mus und über mei­ne Kunst vermitteln.«

(wr/fw)