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Afghanische Frauen im Exil protestieren mit eindringlichem Aufruf gegen das Vergessen
Sie fühlen sich und ihr Land vergessen – und wehren sich: Zum Internationalen Frauentag veröffentlichen 80 Afghaninnen mit Hilfe von PRO ASYL einen eindringlichen Appell an die Bundesregierung, ihre Versprechen für Afghanistan endlich einzulösen. Darunter ist auch die afghanische Künstlerin Sara Nabil.
»Wir verzweifeln über unseren Handys, auf denen wir tagtäglich die grausamsten Nachrichten und Bilder von einem Afghanistan erhalten, in dem es keine Menschenwürde mehr gibt. Wir können die Hilferufe unserer Familien, Freund*innen und Kolleg*innen kaum ertragen.«
So formulieren afghanische Frauen, die in Deutschland und in den Niederlande leben, ihre Gefühle mit Blick auf ihre Familien und Freunde in Afghanistan. Mit Unterstützung der Afghanistan-Referentin von PRO ASYL, Dr. Alema, haben sie zum Internationalen Frauentag 2023 eine Berliner Erklärung verfasst. Darin fordern mehr als 80 Frauen aus Afghanistan und mehrere Frauengruppen die Bundesregierung auf, sich an ihre Versprechen aus dem Koalitionsvertrag und dem Aktionsplan Afghanistan vom Dezember 2021 zu halten.
Veröffentlicht wird der Appell zur Tagung »Verraten und vergessen? Frauen in Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban«, zu der PRO ASYL und die Evangelische Akademie zu Berlin für den Internationalen Frauentag etwa 200 Afghaninnen eingeladen haben.
Geschlechtsspezifische Verfolgung muss anerkannt werden
Zu den wichtigen Anliegen gehört auch die Forderung, dass afghanische Mädchen und Frauen im Asylverfahren wegen geschlechtsspezifischer Verfolgung eine Anerkennung als Flüchtling erhalten müssen – wie jüngst von der Europäischen Asylagentur (EUAA) gefordert. Länder wie Dänemark und Schweden haben diesen Schritt bereits vorgemacht, auch PRO ASYL hat sich dazu geäußert.
Denn die Lage der Frauen in Afghanistan ist dramatisch: Sie dürfen nicht zur Schule gehen oder studieren, nicht öffentlich sichtbar arbeiten, sich kaum auf öffentlichen Plätzen aufhalten und müssen sich mindestens mit einem Hidschab verhüllen. Das sind nur einige der Verbote und Diskriminierungen, denen Mädchen und Frauen in Afghanistan ausgesetzt sind – einzig, weil sie weiblich sind.
»Meine Tochter betete zu Gott, dass er die Taliban verscheucht und ihre Eltern rettet.
Millionen Schwestern in Afghanistan werden ihrer Rechte beraubt
In der Berliner Erklärung schreiben die Unterzeichnerinnen: »Seit eineinhalb Jahren werden unsere Millionen Schwestern in Afghanistan ihrer Rechte auf ein freies und sicheres Leben beraubt. In allen denkbaren Lebensbereichen werden sie durch das Taliban-Regime diskriminiert, unterdrückt und nahezu vollständig aus dem öffentlichen Leben gedrängt. Ihnen wurde ihr Recht auf Bildung, politische Teilhabe und auf freie Ausübung eines Berufes genommen. Sie dürfen nicht reisen, keinen Sport treiben, nicht einmal Parks oder öffentliche Bäder besuchen. Viele sind bedroht von Zwangsehen mit Taliban-Anhängern und mittelalterlichen Strafen wie Auspeitschungen und Steinigungen.«
Im August 2022 haben zwei afghanischen Frauen, die mit Hilfe von PRO ASYL in Deutschland aufgenommen werden konnten, ihre und die Situation der Frauen eindrücklich geschildert: »Meine Tochter betete zu Gott, dass er die Taliban verscheucht und ihre Eltern rettet.«
Regierung muss Versprechen aus Koalitionsvertrag einlösen
Die Unterzeichnerinnen, die sich rund eineinhalb Jahre nach der Machtübernahme der Taliban von westlichen Staaten und auch von Deutschland im Stich gelassen fühlen, kritisieren zudem die unzureichende Umsetzung des Koalitionsvertrags und fordern Nachbesserungen beim Bundesaufnahmeprogramm, damit Deutschland seiner Verantwortung gerecht wird.
Doch die angekündigte Reform des Ortskräfteverfahrens gibt es bisher nicht, der Familiennachzug dauert Jahre und die Vergabe von humanitären Visa für höchst gefährdete Personen stockt. Menschen, die nach der Machtergreifung der Taliban in das benachbarte Ausland geflohen sind, weil westliche Staaten sie nicht aufnahmen, sind von dem Bundesaufnahmeprogramm der Bundesregierung ausgeschlossen. Immer noch werden Asylanträge afghanischer Frauen abgelehnt oder nur mit einem minderen Schutzstatus anerkannt, der den Familiennachzug ausschließt.
Aufnahmeverfahren müssen verbessert werden
In dem Appell fordern die Unterzeichnerinnen deswegen leichtere Zugänge zum Bundesaufnahmeprogramm, Erleichterungen bei der Familienzusammenführung sowie die Fortführung der Aufnahme über Vergabe von humanitären Visa – und für afghanische Mädchen und Frauen die Flüchtlingseigenschaft aufgrund geschlechtsspezifischer Verfolgung. Schon im August 2022 hat PRO ASYL ein Gutachten zur menschenrechtliche Verpflichtung Deutschlands zur Aufnahme von Afghan*innen veröffentlicht.
Die Unterzeichnerinnen der Erklärung fordern die Bundesregierung auf:
- Afghanische Schutzsuchende, die in Nachbarländer fliehen mussten und dort oft von Abschiebung nach Afghanistan bedroht sind, in das Bundesaufnahmeprogramm einzubeziehen.
- Mehr als nur 1.000 Personen monatlich aufzunehmen, um der tatsächlichen Anzahl der Bedrohten gerecht zu werden.
- Die Aufnahme höchst gefährdeter Personen in dringenden Einzelfällen durch Erteilung von humanitären Visa nach §22 S. 2 AufenthG neben einem Bundesaufnahmeprogramm fortzuführen.
- Das Ortskräfteverfahren so zu reformieren, dass alle Bedrohten, die für Deutschland gearbeitet haben, Schutz finden, unabhängig davon, wie weit die Tätigkeit zurückliegt. Der Begriff Ortskraft muss auch ehrenamtliche oder angeblich selbständige Tätigkeiten für deutsche Institutionen, Organisationen und (Sub-) Unternehmen umfassen.
- Den Prozess der Familienzusammenführung aus Afghanistan, der inzwischen fast zum Erliegen gekommen ist, zu vereinfachen und zu beschleunigen. Darüber hinaus sollte der Begriff der Familien alle tatsächlich bedrohten Familienmitglieder umfassen, die unter einem Dach leben oder gewohnt haben, unabhängig von der Altersgrenze.
- Den Familienangehörigen von in Deutschland lebenden ehemaligen Ortskräften, die sich noch in Afghanistan aufhalten, die Aufnahme nach Deutschland zu ermöglichen.
- Afghanischen Menschen in Deutschland dauerhaften Schutz zu gewähren. Z. B. müssen afghanische Frauen aufgrund der geschlechtsspezifischen Verfolgung die Flüchtlingseigenschaft erhalten, so wie es jüngst die Europäische Asylagentur (EUAA) gefordert hat.
Selbstverpflichtung der Frauen
Die Unterzeichnerinnen wollen alles in ihrer Macht stehende tun: »Wir können der Situation nicht tatenlos zusehen. Wir wollen eines Tages auf die Frage, was wir getan haben, nicht schweigen müssen. Egal wo wir uns befinden, wir wollen unserer Verantwortung und Verpflichtung gegenüber den Menschen in Afghanistan nachkommen.«
Sie fordern alle fortschrittlichen Afghaninnen und Afghanen inner- und außerhalb des Landes, sich gegen Geschlechterdiskriminierung einzusetzen und eine Alternative zu dem derzeitigen politischen Zustand in Afghanistan zu entwickeln.
Künstlerin unterstützt den appell
Zu den Unterzeichnerinnen des Appells gehört die afghanische Künstlerin Sara Nabil. Nabil wurde 1994 in Afghanistan geboren und erlebte als Kind die erste Terrorherrschaft der Taliban. Die erneute Machtergreifung der Taliban im August 2021 hat sie sehr getroffen. Im Gespräch mit PRO ASYL formuliert sie: »Ich gehöre zu den Leuten, die in den letzten 20 Jahren Möglichkeiten hatten. Zur Schule zu gehen, zur Uni zu gehen, sich zu entwickeln und für die Menschenrechte einzusetzen. Aber wir haben gesehen, dass innerhalb von einem Tag alles zerbrechen kann. Jetzt leiden 35 Millionen Menschen und man findet die vorherigen Werte nicht wieder. Die Taliban glauben nicht an Menschenrechte, man sieht jeden Tag die schlimmsten Sachen.«
Heute lebt Nabil in Deutschland. Die Situation der Frauen in Afghanistan bildet das Zentrum ihrer künstlerischen Arbeit: »Meine Kunstwerke sprechen von der Situation der Menschen und besonders von Frauen in Afghanistan und von dem, was die Menschen in dem Land brauchen. Ich glaube, die Forderung ist ganz klar: Menschen sind keine Ware und ihr Schicksal ist keine Verhandlungsmasse! Das möchte ich über meinen Aktivismus und über meine Kunst vermitteln.«
(wr/fw)