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»Unser Leben und unsere Zukunft wurden zerstört«
Dr. Alema Alema hat in Deutschland promoviert, 2002 ging sie zurück nach Afghanistan. Dort war sie zuletzt im Friedensministerin tätig. Unmittelbar nach der Machtübernahme der Taliban wurde sie evakuiert. Seit Januar 2022 arbeiten wir zusammen und versuchen alles, um verfolgten Afghan*innen zu helfen. Ein Interview zum traurigen Jahrestag.
Alema, du verfolgst die Entwicklungen in Afghanistan täglich. Was hat sich seit dem 15. August 2021 getan?
Seit der Machtübernahme der Taliban kann die Situation nur als katastrophal und für viele Menschen als lebensbedrohlich bezeichnet werden. Der Fall der Republik ist ein trauriger Tag in unserer Geschichte. Es sind nicht nur die Sicherheitskräfte und das politische System Afghanistans zusammengebrochen, auch alle zivilen Errungenschaften wurden ausgelöscht. Unser Leben und unsere Zukunft wurden zerstört. Für Frauen und Mädchen gibt es generell kein freiheitliches Leben. Es findet eine fast vollständige Verdrängung von Frauen aus dem öffentlichen Leben statt, Millionen von Mädchen haben ihre Perspektive auf ein selbstbestimmtes Leben verloren.
Schon mehr als zwei Millionen Menschen sind seit dem 15. August 2021 geflohen, entweder innerhalb Afghanistans, in die Nachbarländer oder in andere Staaten. Oft bleibt ihnen nichts anderes übrig, als dabei gefährliche Routen einzuschlagen.
Afghan*innen stellen weltweit die drittgrößte geflüchtete Bevölkerungsgruppe dar. Während das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) schätzt, dass derzeit fast 300.000 Afghan*innen eine dauerhafte Perspektive in Drittstaaten benötigen, wurden im vergangenen Jahr lediglich 271 afghanische Geflüchtete von der EU umgesiedelt, was weniger als 0,1 % des weltweiten Bedarfs entspricht. Selbst wenn sie Europa erreicht haben, sehen sich afghanische Geflüchtete weiterhin mit Hindernissen für Schutz und dauerhafte Integration konfrontiert. Diese reichen von Push-Backs bis zu langen Verfahren unter schlechten Bedingungen an den Außengrenzen. Derzeit ist Sicherheit für viele Afghan*innen so unerreichbar wie nie zuvor.
Deutschland hat unmittelbar nach der Machtübernahme noch versucht Tausende zu evakuieren. Aber Unzählige blieben auch zurück. Was weißt du über ihre Situation?
Alle Journalist*innen, Kulturschaffende, für westliche Werte eintretende Menschen, LGBTIQ*-Personen – also im Prinzip alle, denen »unislamisches Verhalten« vorgeworfen wird, sind in großer Gefahr. Sie sitzen perspektivlos fest, hoffen auf Rettung und Aufnahme. Sie leben in großer Angst, manche wechseln nahezu täglich die Wohnung und berichten, dass die Taliban frühere Nachbar*innen befragen. Viele von ihnen sind natürlich auch schon in Nachbarländer geflohen.
Die Plätze, die Deutschland für die Aufnahme zur Verfügung stellt, sind nicht ausreichend. Das Verfahren ist quasi eine Lotterie, die Menschen erfahren auch keine Zwischenstände oder ob sie überhaupt eine Chance auf Aufnahme haben.
Wie geht es den Betroffenen in den Nachbarländern?
Die meisten Menschen halten sich in den Nachbarländern Iran und Pakistan oder in der Türkei auf. Sie leben dort in prekärer Situation, oft auch illegal, und müssen jederzeit mit einer zwangsweisen Rückführung nach Afghanistan rechnen. Sie haben aber zur Zeit auch keine realistische Chance, über Programme (etwa § 22 Aufenthaltsgesetz) der Situation zu entkommen. Wichtig wäre da, dass eine Antragstellung auch aus Drittstaaten ermöglicht wird.
Viele Menschen in Pakistan fürchten um ihr Leben, weil die Taliban dort oft freie Hand haben. Beim Grenzübertritt nach Pakistan läuft man Gefahr, festgenommen und auf eine schwarze Liste gesetzt zu werden.
Im Iran und Pakistan sitzen auch viele fest, die schon eine Aufnahmezusage nach §22 erhalten haben, weil die Aufnahme einfach nicht umgesetzt wird. Das liegt an der schleppenden Visavergabe und Sicherheitsüberprüfung. Die Afghan*innen rutschen deshalb teilweise in die Illegalität ab und können nicht einmal mehr ihre Familien ernähren.
Wer ohne Aufnahmezusage in den Iran, in die Türkei oder nach Pakistan geflohen ist, hat dort keine Chance auf Schutz. Es gibt in diesen Ländern kein Asyl für bedrohte Afghan*innen. Im Gegenteil: Täglich werden tausende Afghan*innen von dort abgeschoben.
»Täglich werden tausende Afghan*innen aus dem Iran, der Türkei oder Pakistan abgeschoben.«
Die Bundesregierung hat versprochen, humanitäre Visa zu erteilen und im Koalitionsvertrag formuliert: »Wir werden unsere Verbündeten nicht zurücklassen. […] Insbesondere werden wir uns für Frauen- und Mädchenrechte sowie für den Schutz und die Aufnahme derer einsetzen, die durch eine frühere Zusammenarbeit mit uns gefährdet sind.« (S.142, 156). Was wurde bisher konkret unternommen, um dies umzusetzen?
Leider nicht viel. Bisher konnte noch niemand durch das groß angekündigte Bundesaufnahmeprogramm nach Deutschland ausreisen. Es gibt auch keinerlei realistische Aussicht darauf, dass die anvisierte Zahl von 1.000 Aufnahmen im Monat überhaupt in dieser Legislaturperiode erreicht wird.
Das Bundesaufnahmeprogramm ist an vielen Stellen auch grundsätzlich und strukturell mangelhaft:
- Die Meldung von schutzbedürftigen Personen ist ausschließlich durch meldeberechtigte Stellen möglich. Es gibt zwar eine Koordinierungsstelle, aber dort können keine direkten Anträge gestellt werden.
- Eines der Kriterien für die Aufnahme im Bundesaufnahmeprogramm ist derzeit, dass die Antragsteller*innen sich in Afghanistan befinden müssen. Aber wie gesagt: Viele sind schon vor der akuten Bedrohung in Nachbarstaaten geflohen. Deshalb sind sie jetzt nicht mehr antragsberechtigt.
- Um den Prozess zu beschleunigen, sollte die in Pakistan eingerichtete Sicherheitsüberprüfung für diejenigen ausgesetzt werden, die zivilgesellschaftlichen Organisationen persönlich bekannt sind und deren Fälle von diesen verifiziert wurden, also etwa Journalist*innen und Menschenrechtsaktivist*innen, die auch bereits im öffentlichen Raum aufgetreten sind.
Neben dem Bundesaufnahmeprogramm hat die Bundesregierung ein umfassendes Maßnahmenpaket angekündigt, wie die Reform des Ortskräfteverfahrens, die Erteilung humanitärer Visa oder Verbesserungen beim Familiennachzug. Du berichtest, dass erwachsene Angehörige von Ortskräften in Afghanistan in großer Gefahr sind und dass selbst eine Flucht ins Ausland ihnen nicht hilft, um in Deutschland aufgenommen zu werden.
Es gibt bislang keine Reform des Ortskräfteverfahrens. Es müsste so reformiert werden, dass alle gefährdeten Personen, die für Deutschland gearbeitet haben, Schutz erhalten können.
Auch das Bundesaufnahmeprogramm ist so, wie es konstruiert ist, nicht genug. Menschen, die bereits ins Ausland fliehen müssten, müssen aufgenommen werden. Und in besonders dringenden Fällen muss die Bundesregierung sofort handeln. Das wäre möglich – über §22 Satz 2 Aufenthaltsgesetz. Das BMI und das AA weigern sich jedoch, dies weiterhin zu tun. Und die Prüfung besonders dringlicher Einzelfälle – z.B. Menschen- und Frauenrechtsverteidiger*innen – und die Erteilung humanitärer Visa muss fortgesetzt werden.
»Mittlerweile sind die Wartezeiten auf einen Termin zur Antragstellung für Familiennachzug bei den zuständigen Auslandsvertretungen in Islamabad und Teheran auf bis zu 28 Monate angestiegen!«
Beim Familiennachzug ist das große Problem, dass der deutsche Familienbegriff nicht mit der Lebenswirklichkeit in Afghanistan übereinstimmt. Erwachsene Angehörige von Ortskräften können nicht aufgenommen werden, aber in der Realität sind eben auch erwachsene Kinder, Geschwister oder Onkel und Tanten massiv gefährdet. Nahe Familienangehörige werden von den Taliban aus Rache an den Ortskräften verhaftet und gefoltert. Jüngstes Beispiel ist der Fall Hamidullah Bahlul.
Die Taliban nahmen seinen Sohn und seine beiden Brüder fest und erpressten ihn, zurückzukehren, um zu verhandeln. Als er in Kabul ankam, wurde er von den Taliban ermordet. Das ist kein Einzelfall. Uns und anderen NGOs sind einige Dutzend Fälle persönlich bekannt, bei denen von Deutschland zurückgelassene Angehörige in Afghanistan bedroht werden. Sie sind schutzlos zurück geblieben. Wenn es nicht über den Familiennachzug geht, müssten in den Fällen humanitäre Visa erteilt werden!
Ein weiteres Problem sind natürlich die massiven Verzögerungen bei Familiennachzugsverfahren. Für Betroffene ist das immer ein jahrelanger Kampf, obwohl der Familiennachzug ihnen rechtlich zusteht. Mittlerweile sind die Wartezeiten auf einen Termin zur Antragstellung bei den für afghanische Staatsangehörige zuständigen Auslandsvertretungen (in Islamabad und Teheran) auf bis zu 28 Monate angestiegen! Dazu kommen dann mindestens sechs Monate Bearbeitungszeit. Außerdem stellt die Passpflicht viele Familienangehörige vor eine große Herausforderung, weil es nicht möglich ist schnell und legal einen Pass von Taliban-Regime zu erhalten.
Wie schätzt du die Zukunft in Afghanistan ein, wie macht ihr im Exil weiter – und was muss Deutschland jetzt tun?
Deutschland muss wie gesagt die Versprechen aus dem Koalitionsvertrag umsetzen, denn die Menschen sind auch aufgrund des Handelns von Deutschland in Gefahr. Das Bundesaufnahmeprogramm muss verbessert werden und endlich in Gang kommen, die bürokratischen Hürden müssen abgebaut werden. Viele Menschen warten seit zwei Jahren auf Rettung, sie sind mittlerweile komplett verzweifelt. Man muss sich ihre Situation einmal vor Augen führen: Zwei Jahre lang in Angst leben, sich ständig verstecken müssen und gleichzeitig hoffen, dass sich endlich ein Ausweg bietet. Deutschland hat es in der Hand, den Menschen diese Hoffnung zu erfüllen. Denn die Situation in Afghanistan wird sich nicht schnell und einfach verändern.
Aber wir als Exil-Afghan*innen setzen uns natürlich sehr aktiv ein, um das Land auf nicht-militärische Weise zu befreien, um die Weltgemeinschaft aufmerksam zu machen. Das Taliban-Regime darf nicht schrittweise anerkannt und legitimiert werden, denn die Anerkennung der Taliban bedeutet auch die Anerkennung der Geschlechterapartheid!
Wir befürchten auch, dass die humanitäre Hilfe, die die Menschen in Afghanistan dringend benötigen, zur Legitimierung oder Unterstützung der Taliban missbraucht wird und fordern daher Kontrollmechanismen und generell eine Verschärfung der Sanktionen des UN-Sicherheitsrates gegen die Taliban und die Aufhebung der Reisefreiheit für Taliban-Führer. Wir fordern auch die Schließung des Büros der Taliban in Katar, das als aktive Botschaft im Ausland fungiert.
Unser Volk hat das Recht, seine Regierung durch einen legitimen Mechanismus zu wählen, nämlich durch demokratische Wahlen. Die internationale Gemeinschaft muss dieses Recht respektieren – und so lange, bis das ermöglicht wurde, muss sie gefährdete Afghan*innen aufnehmen und schützen!