14.08.2023
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Die alte afghanische Flagge in Kabul. Foto: Unsplash / Mohammad Husaini

Dr. Alema Alema hat in Deutschland promoviert, 2002 ging sie zurück nach Afghanistan. Dort war sie zuletzt im Friedensministerin tätig. Unmittelbar nach der Machtübernahme der Taliban wurde sie evakuiert. Seit Januar 2022 arbeiten wir zusammen und versuchen alles, um verfolgten Afghan*innen zu helfen. Ein Interview zum traurigen Jahrestag.

Ale­ma, du ver­folgst die Ent­wick­lun­gen in Afgha­ni­stan täg­lich. Was hat sich seit dem 15. August 2021 getan?

Seit der Macht­über­nah­me der Tali­ban kann die Situa­ti­on nur als kata­stro­phal und für vie­le Men­schen als lebens­be­droh­lich bezeich­net wer­den. Der Fall der Repu­blik ist ein trau­ri­ger Tag in unse­rer Geschich­te. Es sind nicht nur die Sicher­heits­kräf­te und das poli­ti­sche Sys­tem Afgha­ni­stans zusam­men­ge­bro­chen, auch alle zivi­len Errun­gen­schaf­ten wur­den aus­ge­löscht. Unser Leben und unse­re Zukunft wur­den zer­stört. Für Frau­en und Mäd­chen gibt es gene­rell kein frei­heit­li­ches Leben. Es fin­det eine fast voll­stän­di­ge Ver­drän­gung von Frau­en aus dem öffent­li­chen Leben statt, Mil­lio­nen von Mäd­chen haben ihre Per­spek­ti­ve auf ein selbst­be­stimm­tes Leben verloren.

Schon mehr als zwei Mil­lio­nen Men­schen sind seit dem 15. August 2021 geflo­hen, ent­we­der inner­halb Afgha­ni­stans, in die Nach­bar­län­der oder in ande­re Staa­ten. Oft bleibt ihnen nichts ande­res übrig, als dabei gefähr­li­che Rou­ten einzuschlagen.

2 Mio.

Afghan*innen sind allein in den letz­ten 2 Jah­ren geflohen

Afghan*innen stel­len welt­weit die dritt­größ­te geflüch­te­te Bevöl­ke­rungs­grup­pe dar. Wäh­rend das Flücht­lings­hilfs­werk der Ver­ein­ten Natio­nen (UNHCR) schätzt, dass der­zeit fast 300.000 Afghan*innen eine dau­er­haf­te Per­spek­ti­ve in Dritt­staa­ten benö­ti­gen, wur­den im ver­gan­ge­nen Jahr ledig­lich 271 afgha­ni­sche Geflüch­te­te von der EU umge­sie­delt, was weni­ger als 0,1 % des welt­wei­ten Bedarfs ent­spricht. Selbst wenn sie Euro­pa erreicht haben, sehen sich afgha­ni­sche Geflüch­te­te wei­ter­hin mit Hin­der­nis­sen für Schutz und dau­er­haf­te Inte­gra­ti­on kon­fron­tiert. Die­se rei­chen von Push-Backs bis zu lan­gen Ver­fah­ren unter schlech­ten Bedin­gun­gen an den Außen­gren­zen. Der­zeit ist Sicher­heit für vie­le Afghan*innen so uner­reich­bar wie nie zuvor.

Deutsch­land hat unmit­tel­bar nach der Macht­über­nah­me noch ver­sucht Tau­sen­de zu eva­ku­ie­ren. Aber Unzäh­li­ge blie­ben auch zurück. Was weißt du über ihre Situation?

Alle Journalist*innen, Kul­tur­schaf­fen­de, für west­li­che Wer­te ein­tre­ten­de Men­schen, LGBTIQ*-Personen – also im Prin­zip alle, denen »unis­la­mi­sches Ver­hal­ten« vor­ge­wor­fen wird, sind in gro­ßer Gefahr. Sie sit­zen per­spek­tiv­los fest, hof­fen auf Ret­tung und Auf­nah­me. Sie leben in gro­ßer Angst, man­che wech­seln nahe­zu täg­lich die Woh­nung und berich­ten, dass die Tali­ban frü­he­re Nachbar*innen befra­gen. Vie­le von ihnen sind natür­lich auch schon in Nach­bar­län­der geflohen.

Die Plät­ze, die Deutsch­land für die Auf­nah­me zur Ver­fü­gung stellt, sind nicht aus­rei­chend. Das Ver­fah­ren ist qua­si eine Lot­te­rie, die Men­schen erfah­ren auch kei­ne Zwi­schen­stän­de oder ob sie über­haupt eine Chan­ce auf Auf­nah­me haben.

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Wie geht es den Betrof­fe­nen in den Nachbarländern?

Die meis­ten Men­schen hal­ten sich in den Nach­bar­län­dern Iran und Paki­stan oder in der Tür­kei auf. Sie leben dort in pre­kä­rer Situa­ti­on, oft auch ille­gal, und müs­sen jeder­zeit mit einer zwangs­wei­sen Rück­füh­rung nach Afgha­ni­stan rech­nen. Sie haben aber zur Zeit auch kei­ne rea­lis­ti­sche Chan­ce, über Pro­gram­me (etwa § 22 Auf­ent­halts­ge­setz) der Situa­ti­on zu ent­kom­men. Wich­tig wäre da, dass eine Antrag­stel­lung auch aus Dritt­staa­ten ermög­licht wird.

Vie­le Men­schen in Paki­stan fürch­ten um ihr Leben, weil die Tali­ban dort oft freie Hand haben. Beim Grenz­über­tritt nach Paki­stan läuft man Gefahr, fest­ge­nom­men und auf eine schwar­ze Lis­te gesetzt zu werden.

Im Iran und Paki­stan sit­zen auch vie­le fest, die schon eine Auf­nah­me­zu­sa­ge nach §22 erhal­ten haben, weil die Auf­nah­me ein­fach nicht umge­setzt wird. Das liegt an der schlep­pen­den Visa­ver­ga­be und Sicher­heits­über­prü­fung. Die Afghan*innen rut­schen des­halb teil­wei­se in die Ille­ga­li­tät ab und kön­nen nicht ein­mal mehr ihre Fami­li­en ernähren.

Wer ohne Auf­nah­me­zu­sa­ge in den Iran, in die Tür­kei oder nach Paki­stan geflo­hen ist, hat dort kei­ne Chan­ce auf Schutz. Es gibt in die­sen Län­dern kein Asyl für bedroh­te Afghan*innen. Im Gegen­teil: Täg­lich wer­den tau­sen­de Afghan*innen von dort abgeschoben.

»Täg­lich wer­den tau­sen­de Afghan*innen aus dem Iran, der Tür­kei oder Paki­stan abgeschoben.«

Die Bun­des­re­gie­rung hat ver­spro­chen, huma­ni­tä­re Visa zu ertei­len und im Koali­ti­ons­ver­trag for­mu­liert: »Wir wer­den unse­re Ver­bün­de­ten nicht zurück­las­sen. […] Ins­be­son­de­re wer­den wir uns für Frau­en- und Mäd­chen­rech­te sowie für den Schutz und die Auf­nah­me derer ein­set­zen, die durch eine frü­he­re Zusam­men­ar­beit mit uns gefähr­det sind.« (S.142, 156). Was wur­de bis­her kon­kret unter­nom­men, um dies umzusetzen?

Lei­der nicht viel. Bis­her konn­te noch nie­mand durch das groß ange­kün­dig­te Bun­des­auf­nah­me­pro­gramm nach Deutsch­land aus­rei­sen. Es gibt auch kei­ner­lei rea­lis­ti­sche Aus­sicht dar­auf, dass die anvi­sier­te Zahl von 1.000 Auf­nah­men im Monat über­haupt in die­ser Legis­la­tur­pe­ri­ode erreicht wird.

Das Bun­des­auf­nah­me­pro­gramm ist an vie­len Stel­len auch grund­sätz­lich und struk­tu­rell mangelhaft:

- Die Mel­dung von schutz­be­dürf­ti­gen Per­so­nen ist aus­schließ­lich durch mel­de­be­rech­tig­te Stel­len mög­lich. Es gibt zwar eine Koor­di­nie­rungs­stel­le, aber dort kön­nen kei­ne direk­ten Anträ­ge gestellt werden.

- Eines der Kri­te­ri­en für die Auf­nah­me im Bun­des­auf­nah­me­pro­gramm ist der­zeit, dass die Antragsteller*innen sich in Afgha­ni­stan befin­den müs­sen. Aber wie gesagt: Vie­le sind schon vor der aku­ten Bedro­hung in Nach­bar­staa­ten geflo­hen. Des­halb sind sie jetzt nicht mehr antragsberechtigt.

- Um den Pro­zess zu beschleu­ni­gen, soll­te die in Paki­stan ein­ge­rich­te­te Sicher­heits­über­prü­fung für die­je­ni­gen aus­ge­setzt wer­den, die zivil­ge­sell­schaft­li­chen Orga­ni­sa­tio­nen per­sön­lich bekannt sind und deren Fäl­le von die­sen veri­fi­ziert wur­den, also etwa Journalist*innen und Menschenrechtsaktivist*innen, die auch bereits im öffent­li­chen Raum auf­ge­tre­ten sind.

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Dr. Ale­ma auf dem Orts­kräf­te­kon­gress in Berlin.

Neben dem Bun­des­auf­nah­me­pro­gramm hat die Bun­des­re­gie­rung ein umfas­sen­des Maß­nah­men­pa­ket ange­kün­digt, wie die Reform des Orts­kräf­te­ver­fah­rens, die Ertei­lung huma­ni­tä­rer Visa oder Ver­bes­se­run­gen beim Fami­li­en­nach­zug. Du berich­test, dass erwach­se­ne Ange­hö­ri­ge von Orts­kräf­ten in Afgha­ni­stan in gro­ßer Gefahr sind und dass selbst eine Flucht ins Aus­land ihnen nicht hilft, um in Deutsch­land auf­ge­nom­men zu werden. 

Es gibt bis­lang kei­ne Reform des Orts­kräf­te­ver­fah­rens. Es müss­te so refor­miert wer­den, dass alle gefähr­de­ten Per­so­nen, die für Deutsch­land gear­bei­tet haben, Schutz erhal­ten können.

Auch das Bun­des­auf­nah­me­pro­gramm ist so, wie es kon­stru­iert ist, nicht genug. Men­schen, die bereits ins Aus­land flie­hen müss­ten, müs­sen auf­ge­nom­men wer­den. Und in beson­ders drin­gen­den Fäl­len muss die Bun­des­re­gie­rung sofort han­deln. Das wäre mög­lich – über §22 Satz 2 Auf­ent­halts­ge­setz. Das BMI und das AA wei­gern sich jedoch, dies wei­ter­hin zu tun. Und die Prü­fung beson­ders dring­li­cher Ein­zel­fäl­le – z.B. Men­schen- und Frauenrechtsverteidiger*innen – und die Ertei­lung huma­ni­tä­rer Visa muss fort­ge­setzt werden.

»Mitt­ler­wei­le sind die War­te­zei­ten auf einen Ter­min zur Antrag­stel­lung für Fami­li­en­nach­zug bei den zustän­di­gen Aus­lands­ver­tre­tun­gen in Islam­abad und Tehe­ran auf bis zu 28 Mona­te angestiegen!«

Beim Fami­li­en­nach­zug ist das gro­ße Pro­blem, dass der deut­sche Fami­li­en­be­griff nicht mit der Lebens­wirk­lich­keit in Afgha­ni­stan über­ein­stimmt. Erwach­se­ne Ange­hö­ri­ge von Orts­kräf­ten kön­nen nicht auf­ge­nom­men wer­den, aber in der Rea­li­tät sind eben auch erwach­se­ne Kin­der, Geschwis­ter oder Onkel und Tan­ten mas­siv gefähr­det. Nahe Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge wer­den von den Tali­ban aus Rache an den Orts­kräf­ten ver­haf­tet und gefol­tert. Jüngs­tes Bei­spiel ist der Fall Hami­dul­lah Bahlul.

Die Tali­ban nah­men sei­nen Sohn und sei­ne bei­den Brü­der fest und erpress­ten ihn, zurück­zu­keh­ren, um zu ver­han­deln. Als er in Kabul ankam, wur­de er von den Tali­ban ermor­det. Das ist kein Ein­zel­fall. Uns und ande­ren NGOs sind eini­ge Dut­zend Fäl­le per­sön­lich bekannt, bei denen von Deutsch­land zurück­ge­las­se­ne Ange­hö­ri­ge in Afgha­ni­stan bedroht wer­den. Sie sind schutz­los zurück geblie­ben. Wenn es nicht über den Fami­li­en­nach­zug geht, müss­ten in den Fäl­len huma­ni­tä­re Visa erteilt werden!

Ein wei­te­res Pro­blem sind natür­lich die mas­si­ven Ver­zö­ge­run­gen bei Fami­li­en­nach­zugs­ver­fah­ren. Für Betrof­fe­ne ist das immer ein jah­re­lan­ger Kampf, obwohl der Fami­li­en­nach­zug ihnen recht­lich zusteht. Mitt­ler­wei­le sind die War­te­zei­ten auf einen Ter­min zur Antrag­stel­lung bei den für afgha­ni­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge zustän­di­gen Aus­lands­ver­tre­tun­gen (in Islam­abad und Tehe­ran) auf bis zu 28 Mona­te ange­stie­gen! Dazu kom­men dann min­des­tens sechs Mona­te Bear­bei­tungs­zeit. Außer­dem stellt die Pass­pflicht vie­le Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge vor eine gro­ße Her­aus­for­de­rung, weil es nicht mög­lich ist schnell und legal einen Pass von Tali­ban-Regime zu erhalten.

Wie schätzt du die Zukunft in Afgha­ni­stan ein, wie macht ihr im Exil wei­ter – und was muss Deutsch­land jetzt tun? 

Deutsch­land muss wie gesagt die Ver­spre­chen aus dem Koali­ti­ons­ver­trag umset­zen, denn die Men­schen sind auch auf­grund des Han­delns von Deutsch­land in Gefahr. Das Bun­des­auf­nah­me­pro­gramm muss ver­bes­sert wer­den und end­lich in Gang kom­men, die büro­kra­ti­schen Hür­den müs­sen abge­baut wer­den. Vie­le Men­schen war­ten seit zwei Jah­ren auf Ret­tung, sie sind mitt­ler­wei­le kom­plett ver­zwei­felt. Man muss sich ihre Situa­ti­on ein­mal vor Augen füh­ren: Zwei Jah­re lang in Angst leben, sich stän­dig ver­ste­cken müs­sen und gleich­zei­tig hof­fen, dass sich end­lich ein Aus­weg bie­tet. Deutsch­land hat es in der Hand, den Men­schen die­se Hoff­nung zu erfül­len. Denn die Situa­ti­on in Afgha­ni­stan wird sich nicht schnell und ein­fach verändern.

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Demons­tra­ti­on beim Orts­kräf­te­kon­gress in Berlin.

Aber wir als Exil-Afghan*innen set­zen uns natür­lich sehr aktiv ein, um das Land auf nicht-mili­tä­ri­sche Wei­se zu befrei­en, um die Welt­ge­mein­schaft auf­merk­sam zu machen. Das Tali­ban-Regime darf nicht schritt­wei­se aner­kannt und legi­ti­miert wer­den, denn die Aner­ken­nung der Tali­ban bedeu­tet auch die Aner­ken­nung der Geschlechterapartheid!

Wir befürch­ten auch, dass die huma­ni­tä­re Hil­fe, die die Men­schen in Afgha­ni­stan drin­gend benö­ti­gen, zur Legi­ti­mie­rung oder Unter­stüt­zung der Tali­ban miss­braucht wird und for­dern daher Kon­troll­me­cha­nis­men und gene­rell eine Ver­schär­fung der Sank­tio­nen des UN-Sicher­heits­ra­tes gegen die Tali­ban und die Auf­he­bung der Rei­se­frei­heit für Tali­ban-Füh­rer. Wir for­dern auch die Schlie­ßung des Büros der Tali­ban in Katar, das als akti­ve Bot­schaft im Aus­land fungiert.

Unser Volk hat das Recht, sei­ne Regie­rung durch einen legi­ti­men Mecha­nis­mus zu wäh­len, näm­lich durch demo­kra­ti­sche Wah­len. Die inter­na­tio­na­le Gemein­schaft muss die­ses Recht respek­tie­ren – und so lan­ge, bis das ermög­licht wur­de, muss sie gefähr­de­te Afghan*innen auf­neh­men und schützen!