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Zurückweisungen an der Grenze wären europafeindlich und rechtswidrig

Europa als Werte- & Rechtsgemeinschaft wird durch Vorschläge aus Bayern und dem Innenministerium konterkariert. Geht es nach Horst Seehofer, sollen Flüchtlinge künftig an der deutschen Grenze abgewiesen werden, wenn sie schon in Europa registriert sind oder keine Papiere haben. Was deutsches & europäisches Recht dazu sagen, interessiert wohl nicht.
Wird an der Grenze zu Deutschland ein Asylgesuch vorgebracht, muss nach EU-Recht (Dublin-III-Verordnung) ein förmliches Verfahren durchgeführt werden, um den Staat zu bestimmen, der für das Asylverfahren zuständig ist. Der Vorrang des EU-Rechts ist auch im deutschen Asylgesetz (§ 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG) vorgeschrieben: Von der Einreiseverweigerung oder Zurückschiebung ist im Falle der Einreise aus den Mitgliedstaaten abzusehen, soweit Deutschland auf Grund von Rechtsvorschriften der EU zuständig ist.
Nicht immer ist der Ersteinreisestaat zuständig
Der zuständige Staat ist nicht zwangsläufig der EU-Ersteinreisestaat – und aus deutscher Sicht in den allermeisten Fällen auch nicht der Nachbarstaat. Bei der Bestimmung ist die Rangfolge von Kriterien zu beachten (Art. 7 Dublin-III-VO). So geht zum Beispiel die Herstellung der Familieneinheit vor. Wenn es sich um einen unbegleiteten Minderjährigen handelt, ist in der Regel der Staat zuständig, in dem der/die Minderjährige sich aufhält oder der Staat, in dem sich Familienmitglieder aufhalten (Art. 8 Dublin-III-VO). Das Recht auf Familieneinheit gilt auch für Ehe-/Lebenspartner und minderjährige Kinder und ihre Eltern.
Ob sich Familienangehörige in Deutschland oder einem anderen als dem Einreisestaat befinden, kann man nicht feststellen, wenn man Menschen an der Grenze einfach abweist. Die Pflicht zur Durchführung eines Dublin-Verfahrens ist gem. Art. 3 Abs. 1 S. 1 Dublin-III-VO auch dann vorgesehen, wenn der Antrag an der Grenze gestellt wird.
Zurückweisung an der deutschen Grenze: Kann durch bilaterale Vereinbarungen eine Rechtsgrundlage geschaffen werden?
Nach Medienberichten soll im Gespräch sein, auf Basis von Artikel 36 der Dublin-Verordnung eine Rechtsgrundlage für Zurückweisungen von Asylsuchenden an der Grenze zu schaffen, die in anderen EU-Staaten registriert worden sind. Durch bilaterale Abkommen zwischen Mitgliedstaaten können ebenso wenig wie durch einzelstaatliches Handeln Rechte abgeschafft/verweigert werden, die die Dublin-Verordnung gewährleistet. Dazu gehören auch das Recht auf Zugang zum Asylverfahren sowie der Rechtsschutz (auch gegen Dublin-Entscheidungen). Der Vorrang des Unionsrechts gilt für jegliches Handeln der Mitgliedstaaten, auch wenn diese sich dabei völkerrechtlicher Formen bedienen, also miteinander »Verwaltungsvereinbarungen« o.Ä. schließen. Die Rechtsschutzgarantie der Dublin-Verordnung (hinter der Art. 47 Abs. 1 Grundrechte-Charta steht) muss jedoch gewährleistet sein.
Der Vorrang des Europarechts vor nationalem Recht gehört zu den verfassungsrechtlichen Grundpfeilern für jedes Mitglied der EU. Es geht auf ein Grundsatzurteil des Europäischen Gerichthofs aus dem Jahr 1963 zurück (Urteil Costa/ENEL) und ist seitdem ständige Rechtsprechung. Diese Grundregel wird auch vom Bundesverfassungsgericht anerkannt.
Auszug aus Kapitel 6
Zurückweisungen asylsuchender Menschen an der Grenze sind demzufolge aus menschenrechtlichen und europarechtlichen Gründen nicht zulässig. Die Behauptung, mit Zurückweisungen würde die Dublin III-Verordnung angewandt und damit die Rechtsordnung wieder hergestellt, ist nicht zutreffend. Denn die Dublin-Verordnung sieht vielmehr ein Verfahren vor, demzufolge Deutschland zunächst zu prüfen hat, welcher Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. […]
So kann etwa eine Prüfung ergeben, dass die Schutz suchende Person nicht nach Griechenland überstellt werden darf, obwohl die Person dort erstmals das Territorium der EU betreten hat und damit nach den allgemeinen Grundsätzen der Dublin-Verordnung Griechenland zuständig wäre. Nach der Dublin III-Verordnung (Art. 27 Dublin III-Verordnung) muss es im Einklang mit der bereits erwähnten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Gerichtshofs der Europäischen Union die Möglichkeit geben, effektive Rechtsmittel gegen Überstellungen in andere Mitgliedstaaten einzulegen, mit denen die katastrophalen Aufnahmebedingungen und damit die Gefahr der unmenschlichen Behandlung geltend gemacht werden können. In diesem Sinne hat etwa auch das Bundesverfassungsgericht im Mai 2017 eine vorgesehene Abschiebung nach Griechenland untersagt (BVerfG, Urteil vom 8. Mai 2017, Aktenzeichen 2 BvR 157/17).
Mit seinem Vorstoß legt der Innenminister Hand an ein wertebasiertes, menschenrechtlich aufgestelltes Europa.
Durchreichen von Flüchtlingen droht
Das Zurückweisen von Schutzsuchenden an innereuropäischen Grenzen wäre ein Bruch dieser Verpflichtung und ein weiterer Schritt zur Entrechtung von Flüchtlingen, der einen Dominoeffekt auslösen könnte: Jeder Staat schiebt dem nächsten die Verantwortung zu. Kein Staat ist mehr willens, die Fluchtgründe von Schutzsuchenden in einem rechtsstaatlichen Verfahren zu prüfen. Es drohen refugees in orbit – Schutzbedürftige, die niemand aufnehmen will. Deutschland schiebt ab nach Österreich, Österreich nach Ungarn, Ungarn nach Serbien – ein Staat außerhalb der EU, der sich seinerseits kaum an Vereinbarungen gebunden sieht.
Die GFK gibt es aus gutem Grund!
Um zu verhindern, dass Menschen derart schutzlos gestellt werden, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) verabschiedet. Das Europarecht – die Dublin-Verordnung – schaffte ab 1990 die Möglichkeit mehrerer Asylverfahren in Europa ab, sollte aber gleichzeitig sicherstellen, dass für ein rechtsstaatliches Asylverfahren eines Schutzsuchenden ein Staat verbindlich zuständig ist.
Dieses eindeutige Bekenntnis zum europäischen Flüchtlingsschutz und seine Regeln stellt Bundesinnenminister Seehofer nun zur Disposition. Statt sich auf europäischer Ebene für eine faire Verantwortungsteilung stark zu machen, würde sich Deutschland in die Reihe derjenigen EU-Staaten stellen, die sich der Verantwortung für Flüchtlinge schäbig entziehen wollen. Damit legt der Innenminister Hand an ein wertebasiertes, menschenrechtlich aufgestelltes Europa.
(ak)