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Bald auch an deutschen Grenzen? Foto: Reuters / Ognen Teofilowski

Europa als Werte- & Rechtsgemeinschaft wird durch Vorschläge aus Bayern und dem Innenministerium konterkariert. Geht es nach Horst Seehofer, sollen Flüchtlinge künftig an der deutschen Grenze abgewiesen werden, wenn sie schon in Europa registriert sind oder keine Papiere haben. Was deutsches & europäisches Recht dazu sagen, interessiert wohl nicht.

Wird an der Gren­ze zu Deutsch­land ein Asyl­ge­such vor­ge­bracht, muss nach EU-Recht (Dub­lin-III-Ver­ord­nung) ein förm­li­ches Ver­fah­ren durch­ge­führt wer­den, um den Staat zu bestim­men, der für das Asyl­ver­fah­ren zustän­dig ist. Der Vor­rang des EU-Rechts ist auch im deut­schen Asyl­ge­setz (§ 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG) vor­ge­schrie­ben: Von der Ein­rei­se­ver­wei­ge­rung oder Zurück­schie­bung ist im Fal­le der Ein­rei­se aus den Mit­glied­staa­ten abzu­se­hen, soweit Deutsch­land auf Grund von Rechts­vor­schrif­ten der EU zustän­dig ist.

Nicht immer ist der Ersteinreisestaat zuständig

Der zustän­di­ge Staat ist nicht zwangs­läu­fig der EU-Erst­ein­rei­se­staat – und aus deut­scher Sicht in den aller­meis­ten Fäl­len auch nicht der Nach­bar­staat. Bei der Bestim­mung ist die Rang­fol­ge von Kri­te­ri­en zu beach­ten (Art. 7 Dub­lin-III-VO). So geht zum Bei­spiel die Her­stel­lung der Fami­li­en­ein­heit vor. Wenn es sich um einen unbe­glei­te­ten Min­der­jäh­ri­gen han­delt, ist in der Regel der Staat zustän­dig, in dem der/die Min­der­jäh­ri­ge sich auf­hält oder der Staat, in dem sich Fami­li­en­mit­glie­der auf­hal­ten (Art. 8 Dub­lin-III-VO). Das Recht auf Fami­li­en­ein­heit gilt auch für Ehe-/Le­bens­part­ner und min­der­jäh­ri­ge Kin­der und ihre Eltern.

Ob sich Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge in Deutsch­land oder einem ande­ren als dem Ein­rei­se­staat befin­den, kann man nicht fest­stel­len, wenn man Men­schen an der Gren­ze ein­fach abweist. Die Pflicht zur Durch­füh­rung eines Dub­lin-Ver­fah­rens ist gem. Art. 3 Abs. 1 S. 1 Dub­lin-III-VO auch dann vor­ge­se­hen, wenn der Antrag an der Gren­ze gestellt wird.

Zurück­wei­sung an der deut­schen Gren­ze: Kann durch bila­te­ra­le Ver­ein­ba­run­gen eine Rechts­grund­la­ge geschaf­fen werden?

Nach Medi­en­be­rich­ten soll im Gespräch sein, auf Basis von Arti­kel 36 der Dub­lin-Ver­ord­nung eine Rechts­grund­la­ge für Zurück­wei­sun­gen von Asyl­su­chen­den an der Gren­ze zu schaf­fen, die in ande­ren EU-Staa­ten regis­triert wor­den sind. Durch bila­te­ra­le Abkom­men zwi­schen Mit­glied­staa­ten kön­nen eben­so wenig wie durch ein­zel­staat­li­ches Han­deln Rech­te abgeschafft/verweigert wer­den, die die Dub­lin-Ver­ord­nung gewähr­leis­tet. Dazu gehö­ren auch das Recht auf Zugang zum Asyl­ver­fah­ren sowie der Rechts­schutz (auch gegen Dub­lin-Ent­schei­dun­gen). Der Vor­rang des Uni­ons­rechts gilt für jeg­li­ches Han­deln der Mit­glied­staa­ten, auch wenn die­se sich dabei völ­ker­recht­li­cher For­men bedie­nen, also mit­ein­an­der »Ver­wal­tungs­ver­ein­ba­run­gen« o.Ä. schlie­ßen. Die Rechts­schutz­ga­ran­tie der Dub­lin-Ver­ord­nung (hin­ter der Art. 47 Abs. 1 Grund­rech­te-Char­ta steht) muss jedoch gewähr­leis­tet sein.

Der Vor­rang des Euro­pa­rechts vor natio­na­lem Recht gehört zu den ver­fas­sungs­recht­li­chen Grund­pfei­lern für jedes Mit­glied der EU. Es geht auf ein Grund­satz­ur­teil des Euro­päi­schen Gericht­hofs aus dem Jahr 1963 zurück (Urteil Costa/ENEL) und ist seit­dem stän­di­ge Recht­spre­chung. Die­se Grund­re­gel wird auch vom Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt anerkannt.

Zurück­wei­sun­gen von Flücht­lin­gen an der Gren­ze? Eine men­schen- und euro­pa­recht­li­che Bewer­tung, 14.06.2108

Aus­zug aus Kapi­tel 6

Zurück­wei­sun­gen asyl­su­chen­der Men­schen an der Gren­ze sind dem­zu­fol­ge aus men­schen­recht­li­chen und euro­pa­recht­li­chen Grün­den nicht zuläs­sig. Die Behaup­tung, mit Zurück­wei­sun­gen wür­de die Dub­lin III-Ver­ord­nung ange­wandt und damit die Rechts­ord­nung wie­der her­ge­stellt, ist nicht zutref­fend. Denn die Dub­lin-Ver­ord­nung sieht viel­mehr ein Ver­fah­ren vor, dem­zu­fol­ge Deutsch­land zunächst zu prü­fen hat, wel­cher Mit­glied­staat für die Durch­füh­rung des Asyl­ver­fah­rens zustän­dig ist. […]

So kann etwa eine Prü­fung erge­ben, dass die Schutz suchen­de Per­son nicht nach Grie­chen­land über­stellt wer­den darf, obwohl die Per­son dort erst­mals das Ter­ri­to­ri­um der EU betre­ten hat und damit nach den all­ge­mei­nen Grund­sät­zen der Dub­lin-Ver­ord­nung Grie­chen­land zustän­dig wäre. Nach der Dub­lin III-Ver­ord­nung (Art. 27 Dub­lin III-Ver­ord­nung) muss es im Ein­klang mit der bereits erwähn­ten Recht­spre­chung des Euro­päi­schen Gerichts­hofs für Men­schen­rech­te und des Gerichts­hofs der Euro­päi­schen Uni­on die Mög­lich­keit geben, effek­ti­ve Rechts­mit­tel gegen Über­stel­lun­gen in ande­re Mit­glied­staa­ten ein­zu­le­gen, mit denen die kata­stro­pha­len Auf­nah­me­be­din­gun­gen und damit die Gefahr der unmensch­li­chen Behand­lung gel­tend gemacht wer­den kön­nen. In die­sem Sin­ne hat etwa auch das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt im Mai 2017 eine vor­ge­se­he­ne Abschie­bung nach Grie­chen­land unter­sagt (BVerfG, Urteil vom 8. Mai 2017, Akten­zei­chen 2 BvR 157/17).

Mit sei­nem Vor­stoß legt der Innen­mi­nis­ter Hand an ein wer­te­ba­sier­tes, men­schen­recht­lich auf­ge­stell­tes Europa.

Durchreichen von Flüchtlingen droht

Das Zurück­wei­sen von Schutz­su­chen­den an inner­eu­ro­päi­schen Gren­zen wäre ein Bruch die­ser Ver­pflich­tung und ein wei­te­rer Schritt zur Ent­rech­tung von Flücht­lin­gen, der einen Domi­no­ef­fekt aus­lö­sen könn­te: Jeder Staat schiebt dem nächs­ten die Ver­ant­wor­tung zu. Kein Staat ist mehr wil­lens, die Flucht­grün­de von Schutz­su­chen­den in einem rechts­staat­li­chen Ver­fah­ren zu prü­fen. Es dro­hen refu­gees in orbit – Schutz­be­dürf­ti­ge, die nie­mand auf­neh­men will. Deutsch­land schiebt ab nach Öster­reich, Öster­reich nach Ungarn, Ungarn nach Ser­bi­en – ein Staat außer­halb der EU, der sich sei­ner­seits kaum an Ver­ein­ba­run­gen gebun­den sieht.

Die GFK gibt es aus gutem Grund!

Um zu ver­hin­dern, dass Men­schen der­art schutz­los gestellt wer­den, wur­de nach dem Zwei­ten Welt­krieg die Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on (GFK) ver­ab­schie­det. Das Euro­pa­recht – die Dub­lin-Ver­ord­nung – schaff­te ab 1990 die Mög­lich­keit meh­re­rer Asyl­ver­fah­ren in Euro­pa ab, soll­te aber gleich­zei­tig sicher­stel­len, dass für ein rechts­staat­li­ches Asyl­ver­fah­ren eines Schutz­su­chen­den ein Staat ver­bind­lich zustän­dig ist.

Die­ses ein­deu­ti­ge Bekennt­nis zum euro­päi­schen Flücht­lings­schutz und sei­ne Regeln stellt Bun­des­in­nen­mi­nis­ter See­ho­fer nun zur Dis­po­si­ti­on. Statt sich auf euro­päi­scher Ebe­ne für eine fai­re Ver­ant­wor­tungs­tei­lung stark zu machen, wür­de sich Deutsch­land in die Rei­he der­je­ni­gen EU-Staa­ten stel­len, die sich der Ver­ant­wor­tung für Flücht­lin­ge schä­big ent­zie­hen wol­len. Damit legt der Innen­mi­nis­ter Hand an ein wer­te­ba­sier­tes, men­schen­recht­lich auf­ge­stell­tes Europa.

(ak)