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Verfassungswidrige Leistungskürzungen – nicht nur Thema bei Hartz IV
Vergangene Woche hat das BVerfG einen Großteil der Leistungskürzungen in Hartz IV für verfassungswidrig erklärt. Dies bestärkt auch die Debatte um das Asylbewerberleistungsgesetz. Das Sozialgericht Landshut hat bereits eine der umstrittenen Neuregelungen als voraussichtlich verfassungswidrig eingestuft und eine Nachzahlung angeordnet.
Am 5. November 2019 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) kurz gesagt folgende Leistungskürzungen nach dem Sozialgesetzbuch II (genannt Hartz IV) für verfassungswidrig erklärt: Kürzungen von 60% oder vollständige Kürzungen, Kürzungen von zwingend drei Monaten, die unabhängig von einer zwischenzeitlichen Erfüllung der Mitwirkungspflicht bestehen sowie Kürzungen, bei denen außergewöhnlichen Härten nicht berücksichtigt werden (für eine Besprechung des Urteils siehe hier).
Dies wirft auch Fragen bezüglich der schon lange umstrittenen, und von PRO ASYL als verfassungswidrig eingestuften Kürzungen im Asylbewerberleistungsgesetz auf.
Das Asylbewerberleistungsgesetz – ein Sonderregime zur Abschreckung
Das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) wurde 1993 verabschiedet, um für Asylsuchende und andere Betroffene im Vergleich zu deutschen Sozialhilfeempfänger*innen deutlich niedrigere Leistungen einzuführen. Im gleichen Jahr wurde mit dem sogenannten »Asylkompromiss« das Recht, nach dem Grundgesetz Asyl zu bekommen, deutlich eingeschränkt (seit damals Art. 16a Grundgesetz). Die Einführung des AsylbLG war also Teil der damaligen Abschreckungs- und Abschottungspolitik – und ist dies auch weiterhin.
Bundesverfassungsgericht: Es heißt Menschen- und nicht »Deutschenwürde«!
In einem wegweisenden Urteil zum AsylbLG 2012 stellten die Verfassungsrichter*innen fest, dass der Anspruch auf das aus der Menschenwürde abgeleitete Existenzminimum deutschen und ausländischen Staatsangehörigen gleichermaßen zusteht. Auch garantiert das Existenzminimum nicht nur das »nackte Überleben«, sondern muss ebenso eine Teilhabe am sozialen, kulturellen und politischen Leben ermöglichen. Die Leistungen nach dem AsylblG waren zu dem Zeitpunkt seit 1993 – also seit 9 Jahren – nicht erhöht worden! Entsprechend verurteilte das BVerfG diese als eindeutig unzureichend und verfassungswidrig.
»Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren«
Ein besonders relevantes Fazit aus dem Urteil ist: »Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren«! Das heißt, dass Sozialleistungen nicht zum Abschrecken von Migrant*innen besonders niedrig gehalten werden dürfen – denn das verstößt gegen ihre Menschenwürde. Der Gesetzgeber muss dagegen in einem transparenten Verfahren belegen, dass eine Gruppe von ausländischen Staatsangehörigen tatsächlich einen geringeren Bedarf als andere hat, um niedrigere Leistungen rechtfertigen zu können.
Leistungskürzungen im AsylbLG sind verfassungswidrig
Nicht zur Debatte stand in der Verhandlung vor dem BVerfG 2012 die Frage nach den Leistungskürzungen im AsylbLG. Doch schon basierend auf diesem Urteil schlussfolgerten PRO ASYL und andere Organisationen, dass die Kürzungen verfassungswidrig sind, da sie zu stark in das Existenzminimum und damit in die Menschenwürde der Betroffenen eingreifen.
Aufgrund verschiedener Gesetzesänderungen gibt es mittlerweile eine große Zahl von Gründen, warum jemandem die Leistungen nach dem AsylbLG gekürzt werden können
Diese Einschätzung wird durch das Hartz IV-Urteil vom BVerfG gestärkt. Bei Leistungskürzungen nach § 1a AsylbLG fallen sogenannte Leistungen für den »notwendigen persönlichen Bedarf« weg, was 150€ entspricht. Das ist eine Leistungskürzung von 43%, die deutlich über der vom BVerfG im Hartz IV-Urteil noch akzeptierten 30%igen Kürzung liegt. Darüber hinaus wird auch der Bedarf für Kleidung und Schuhe gestrichen. Insgesamt ist dies also ein sehr starker Einschnitt in das Existenzminimum.
Die Leistungskürzung gilt für sechs Monate und muss aufgehoben werden, wenn der Grund für die Sanktionierung wegfällt. Aufgrund verschiedener Gesetzesänderungen in den letzten Jahren gibt es mittlerweile eine große Zahl von Gründen, warum jemandem die Leistungen nach dem AsylbLG gekürzt werden können (erst jüngst durch das Hau-Ab-Gesetz II ausgeweitet).
Im Gegensatz zu Kürzungen bei Hartz IV liegen diese aber nicht darin begründet, dass die Betroffenen ihre Bedürftigkeit selbst verursachen, weil sie angeblich nicht ausreichend bei der Arbeitssuche mitwirken. Viele Personen, die Leistungen nach dem AsylbLG beziehen, dürfen gar nicht arbeiten. Stattdessen beziehen sich die Kürzungen darauf, dass sie nicht bis zum festgesetzten Termin ausgereist sind oder ihnen wird vorgeworfen, bestimmten Mitwirkungshandlungen rund um das Asylverfahren nicht nachgekommen zu sein. Damit trifft der vom BVerfG im Hartz IV-Urteil grundsätzlich akzeptierte Grund der Leistungskürzung zur Erzwingung von Handlungen, die Menschen aus der Bedürftigkeit helfen sollen, bei Kürzungen nach dem AsylbLG nicht zu.
Mit dem Hau-Ab-Gesetz II wurde im Übrigen sogar ein kompletter Leistungsausschluss für vollziehbar ausreisepflichtige Personen vorgesehen, die in einem anderen EU-Staat einen Schutzstatus haben. Dass dies verfassungswidrig ist, liegt angesichts beider Urteile auf der Hand.
Leistungsanpassungen mit einem Haken
Die Bundesregierung ist mittlerweile gesetzlich verpflichtet, die Leistungssätze des AsylbLG jährlich entsprechend der Veränderungsrate der Leistungen nach dem SGB XII anzupassen.
Geduldete in einer Gemeinschaftsunterkunft zählen zynischer Weise als »Schicksalsgemeinschaft« und bekommen so eine niedrigere Bedarfsstufe. Das ist realitätsfern!
Nachdem das Arbeits- und Sozialministerium bereits zwei Jahre überfällig war mit der Anpassung, legte es dieses Jahr ein Änderungsgesetz vor, welches mit einem »Kniff« dafür sorgt, dass es nicht zu Mehrausgaben kommt. Seit dem 1. September 2019 gelten alleinstehende Asylsuchende und Geduldete, die in einer Gemeinschaftsunterkunft wohnen, deshalb nicht mehr als alleinstehend, sondern zählen zynischer Weise als »Schicksalsgemeinschaft«. Deswegen bekommen sie nicht mehr Leistungen nach der Bedarfsstufe 1, für Alleinstehende, sondern Leistungen nach der Bedarfsstufe 2, wie Ehepartner*innen. In der Gesetzesbegründung wurde dies damit gerechtfertigt, dass es durch gemeinsames Haushalten ähnliche »Einspareffekte« geben würde.
Das ist absolut realitätsfern! In einer Gemeinschaftsunterkunft leben Menschen aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen, sie sprechen oft noch nicht einmal die gleiche Sprache. Wie soll man sich da auf einen gemeinsamen Speiseplan und eine Einkaufsliste verständigen? Tatsächlich wird dies im deutschen Sozialrecht noch nicht einmal bei freiwilligen WGs, z. B. von Studierenden, verlangt.
Sozialgericht Landshut: Änderung der Bedarfsstufe voraussichtlich verfassungswidrig!
In einem ersten Beschluss im Eilverfahren zu einem solchen Fall hat das Sozialgericht Landshut nun der Betroffenen Recht gegeben und aufschiebende Wirkung angeordnet. Das bedeutet, dass die Antragstellerin nun wieder die vollen Leistungen, wie sie ihr als Alleinstehende eigentlich zustehen, bekommt und nicht die rund 10% geringeren Leistungen nach der Bedarfsstufe 2, bis im Hauptsacheverfahren final entschieden wird. Zudem wurde eine Nachzahlung angeordnet.
In seiner Begründung stützt sich das Sozialgericht auf das BVerfG-Urteil von 2012. Entsprechend stellt es fest, dass der Gesetzgeber nicht dargelegt hat, dass sich eine solche Kürzung aus einem tatsächlich geringeren Bedarf ergibt. Stattdessen spricht alles dagegen:
»Deutlich wird, dass die Absenkung der Regelbedarfe auf 90 % im Vergleich zu Alleinstehenden nach den Ermittlungen des Gesetzgebers das Zusammenleben, Partnerschaft und Wirtschaften aus einem Topf voraussetzt. Es erscheint ausgeschlossen, dass nichtverwandte Personen in einer Gemeinschaftsunterkunft regelmäßig und ohne Berücksichtigung des Einzelfalles die genannten drei Kriterien erfüllen«.
Bei den in einer Gemeinschaftsunterkunft lebenden Personen ist davon auszugehen, dass sie unterschiedliche Bedarfe bei Lebensmitteln oder Kommunikation haben, über die sie selbst entscheiden wollen und sollten.
Daher resümiert das Sozialgericht Landshut: »Ohne die Anordnung der aufschiebenden Wirkung stünden der Antragstellerin gegebenenfalls weniger als die ihr nach Art. 1 und 2 GG zustehenden existenzsichernden Leistungen zur Verfügung«.
Alleinstehende Erwachsene, die in einer Gemeinschaftsunterkunft wohnen, und von der Änderung der Bedarfsstufe betroffen sind, sollten mit ihrer lokalen Beratungsstelle die Möglichkeit eines Widerspruchs besprechen.
Siehe zum Thema Asylbewerberleistungsgesetz auch die Broschüre vom Paritätischen Gesamtverband.
(wj)