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»Sie hatten keine Chance«
Viele der Geflüchteten, die vergangene Woche bei Crotone in Italien ertrunken sind, haben Angehörige in Deutschland. Einer von ihnen ist Alauddin Mohibzada. Seine Tante und drei ihrer Kinder sind ertrunken. Im Gespräch mit PRO ASYL berichtet er, wie er versucht, sich um die Überlebenden zu kümmern und den Toten die letzte Ehre zu erweisen.
Alauddin Mohibzada kommt aus Afghanistan und lebt als anerkannter Flüchtling in Gelsenkirchen. Seit er 2015 als Minderjähriger mit seinem Bruder nach Deutschland gekommen ist, hat er eine Ausbildung zum Erzieher abgeschlossen und arbeitet inzwischen in einem Übergangswohnheim für junge Geflüchtete.
Bei der Bootskatastrophe von Crotone in Süditalien sind am 26. Februar über 60 Menschen ertrunken. (Update Mai 2023: Mittlerweile liegt die Zahl der bestätigten Todesopfer bei 94) Darunter waren Alauddins Tante Munika und ihre drei jüngsten Kinder Marwa (zwölf Jahre alt), Hadija (acht Jahre alt) und Tajib (fünf Jahre alt) ertrunken. Überlebt haben nur sein Onkel Wahid und der älteste Sohn der Familie, Mustafa (vierzehn Jahre alt).
Alauddin, du bist gerade in Crotone, weil deine Tante mit ihrer Familie auf dem Boot war, welches am 26. Februar direkt vor der italienischen Küste gekentert ist. Wie hast du von dem schrecklichen Bootsunglück erfahren?
Mein Onkel Wahid, der Mann meiner Tante Munika, hat mir Bescheid gesagt, als sie mit dem Boot in Izmir in der Türkei losgefahren sind. Sie haben schon mehrfach versucht, aus der Türkei weiter nach Europa zu fliehen, es hat aber nie geklappt. Das Boot, mit dem sie dann schließlich losgefahren sind, ist nach wenigen Kilometern irgendwo vor der türkischen Küste kaputtgegangen und konnte nicht mehr weiter fahren. Daraufhin haben sie auf offener See das Boot gewechselt. Mit diesem zweiten Boot sind sie dann nach Italien gefahren. Sie hatten nichts zu essen dabei, weil sie all ihre Sachen auf dem ersten Boot zurücklassen mussten.
Hast du unterwegs nochmal etwas von Ihnen gehört?
Am Sonntag, den 26. Februar, hat mir mein Onkel in den frühen Morgenstunden eine Sprachnachricht geschickt. Er hat gesagt, dass sie schon die Lichter an der italienischen Küste sehen, dass alles gut ist und sie in einer Stunde in Italien ankommen. Als ich in den Nachrichten von dem Bootsunglück gehört habe, habe ich deshalb zuerst gedacht, dass es ein anderes Boot sein muss, was gekentert ist.
Wie hast du letztlich erfahren, dass es das Boot war, auf dem deine Familienangehörigen waren?
Den ganzen Sonntag über habe ich versucht, sie anzurufen. Ich hab mir große Sorgen gemacht, weil ich sie nicht erreicht habe. Abends habe ich mich dann einfach ins Auto gesetzt und bin von Gelsenkirchen nach Crotone gefahren, um sie zu suchen. Da waren schon andere Leute aus Deutschland, Frankreich und anderen Ländern, die alle ihre Familienangehörigen gesucht haben. Wir sind zu der Sporthalle gegangen, in der die Leichen in Särgen aufbewahrt werden. Vor der Sporthalle habe ich dann meinen Onkel Wahid und seinen ältesten Sohn Mustafa getroffen.
Was hat dein Onkel dir berichtet?
Mein Onkel hat mir erzählt, dass das Wasser flacher geworden ist und das Boot bei hohem Wellengang aufgelaufen ist. Der Mann am Steuer hat das Boot zunächst freibekommen und ist rückwärts gefahren. Dann hat er Vollgas gegeben. Vielleicht dachte er, dass er das Boot mit Schwung über die flache Stelle darüber bringen kann. Als das Boot wieder auf Grund gelaufen ist, hat es ein Leck gegeben, durch das Wasser ins Boot gelaufen ist. Mein Onkel meint, dass das Boot dann innerhalb weniger Sekunden auseinandergebrochen ist. Selbst wenn sie Schwimmwesten gehabt hätten, hätten sie die nicht mehr anziehen können. Sie hatten keine Chance. Er und sein Sohn Mustafa haben es irgendwie geschafft, sich an einem Stück Holz festzuklammern. Er hat noch gesehen, wie seine Frau Munika unter Wasser gezogen wurde. Es ist einfach ein Albtraum.
»Es ist einfach ein Albtraum.«
Wurden dein Onkel und sein Sohn von Rettungskräften aus dem Wasser gezogen?
Nein, mein Onkel hat sich an das Stück Holz geklammert und hat es so irgendwie an den Strand geschafft. Er hat dann seinen Sohn Mustafa auch aus dem Wasser gezogen. Am Strand waren dann irgendwann zwei Polizisten, die haben aber nichts gemacht, sie sind nicht ins Wasser gegangen, um den Menschen zu helfen, hat mein Onkel erzählt. Es hat noch länger gedauert, bis Rettungskräfte gekommen sind, die im Wasser nach Überlebenden gesucht haben.
Wie habt ihr erfahren, dass deine Tante und ihre drei jüngsten Kinder ertrunken sind?
Die italienischen Behörden haben uns Fotos von den Ertrunkenen gezeigt. Mein Onkel stand so unter Schock, dass er bei jedem Bild einer toten Frau und bei jedem Bild eines toten Kindes geglaubt hat, dass das seine Frau und seine Kinder sind. Ich habe ihm immer gesagt, nein, das sind sie nicht. Erst später waren dann auf den Bildern meine tote Tante Munika und meine beiden Cousinen Marwa und Hadija zu sehen. Sie sind zwölf und acht Jahre alt geworden. Die Leiche von meinem kleinen Cousin Tajib haben sie bis heute nicht gefunden, er war erst fünf.
Viele fragen sich, warum Menschen überhaupt so eine gefährliche Reise auf sich nehmen.
Meiner Tante und meinem Onkel war klar, dass die Fahrt gefährlich ist und dass es um Leben und Tod geht. Aber sie hatten keine andere Wahl. Sie mussten schon vor einigen Jahren aus Afghanistan fliehen, weil mein Onkel dort verfolgt wird und nirgends sicher ist. Die letzten Jahre haben sie in der Türkei gelebt. Da hatten sie aber keine Aufenthaltserlaubnis, sie waren illegal dort, ihnen hat die Abschiebung nach Afghanistan gedroht. Sogar jetzt, wo die Taliban in Afghanistan an der Macht sind, schiebt die Türkei massenhaft Menschen nach Afghanistan ab. Sie haben deshalb schwarz in einer Textilfabrik für einen Hungerlohn gearbeitet, um irgendwie über die Runden zu kommen. Nebenbei haben sie Geld gespart für die Weiterflucht nach Europa.
»Sogar jetzt, wo die Taliban in Afghanistan an der Macht sind, schiebt die Türkei massenhaft Menschen nach Afghanistan ab.«
Aber gab es keine andere Möglichkeit für sie, in die EU zukommen?
Nein, legale Wege sowieso nicht, ein Visum haben sie nicht bekommen. Und klar, von der Türkei nach Griechenland zu fliehen, klingt erstmal einfacher. Ich selbst bin 2015 mit meinem Bruder mit dem Boot auf einer griechischen Insel angekommen und dann über den Landweg nach Deutschland weiter. Damals war das nicht so schwierig. Heute geht das nicht mehr, weil überall die Grenzen dichtgemacht worden sind. Und von Griechenland haben sie gehört, dass Flüchtlinge dort keinen Schutz kriegen, sondern jahrelang unter erbärmlichen Bedingungen feststecken. Das will doch niemand seinen Kindern zumuten.
Weißt du, wie es jetzt für deinen Onkel und deinen Cousin in Italien weitergeht?
Sie sind jetzt in einem Flüchtlingslager. Der UNHCR hat uns versprochen, dass sie sich darum bemühen, dass sie zu mir nach Deutschland kommen können. Ob das klappt, ist aber noch nicht klar. Ich wünsche mir von der deutschen Regierung, dass sie meinen Onkel und meinen Cousin so bald wie möglich zu mir nach Deutschland kommen lassen. Sie werden das sowieso nicht verkraften, dass ihre ganze Familie ertrunken ist. Aber wenn sie bei mir in der Nähe sind, kann ich mich zumindest um sie kümmern.
Und deine Tante und ihre ertrunkenen Kinder? Werden die in Italien bestattet?
Gerade liegen sie immer noch in Särgen in der Sporthalle. Das finde ich ganz schlimm, die Leichen müssen doch gekühlt werden, bis sie beerdigt sind! Ich will ihnen zumindest die letzte Ehre erweisen und sie in Würde in Deutschland beerdigen. Ich habe auch eine Organisation gefunden, die sich um die Überführung der Leichen nach Deutschland kümmern würde. Allerdings kostet die Bestattung in Deutschland sehr viel Geld. So viel Geld habe ich nicht. Deshalb habe ich einen Spendenaufruf im Internet gestartet und hoffe, dass ich so genügend Geld zusammenbekomme, um sie zumindest würdevoll beerdigen zu können.
(ame)