17.04.2023
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Die Bundesregierung hat bis heute nicht eine einzige Person über das Bundesaufnahmeprogramm aus Afghanistan gerettet. Foto: Unsplash

Seit der Machtübernahme der Taliban am 15. August 2021 verschlimmert sich die ohnehin schon katastrophale Lage in Afghanistan dramatisch. Das Land versinkt im Chaos, während die Taliban ungehemmt agieren und zunehmend brutal gegen Frauen, Mädchen und Oppositionelle vorgehen.

Die Ent­schei­dung der deut­schen Bun­des­re­gie­rung, Ver­ant­wor­tung für bedroh­te Afghan*innen zu über­neh­men und sich im Koali­ti­ons­ver­trag unter ande­rem dazu zu ver­pflich­ten, ein Bun­des­auf­nah­me­pro­gramm für akut gefähr­de­te Afghan*innen ein­zu­rich­ten, war begrüßenswert.

Dort heißt es:

»Wir wer­den ein huma­ni­tä­res Auf­nah­me­pro­gramm des Bun­des in Anleh­nung an die bis­her im Zuge des Syri­en-Krie­ges durch­ge­führ­ten Pro­gram­me ver­ste­ti­gen und die­se jetzt für Afgha­ni­stan nut­zen. Wir wer­den unse­re Ver­bün­de­ten nicht zurück­las­sen. Wir wol­len die­je­ni­gen beson­ders schüt­zen, die der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land im Aus­land als Part­ner zur Sei­te stan­den und sich für Demo­kra­tie und gesell­schaft­li­che Wei­ter­ent­wick­lung ein­ge­setzt haben. Des­we­gen wer­den wir das Orts­kräf­te­ver­fah­ren so refor­mie­ren, dass gefähr­de­te Orts­kräf­te und ihre engs­ten Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen durch unbü­ro­kra­ti­sche Ver­fah­ren in Sicher­heit kom­men. Wir wer­den huma­ni­tä­re Visa für gefähr­de­te Per­so­nen ermög­li­chen und dazu digi­ta­le Ver­ga­be­ver­fah­ren ein­füh­ren.« (S.142, 156)

Die­ses Auf­nah­me­pro­gramm soll­te eine zusätz­li­che Mög­lich­keit bie­ten, bedroh­te Men­schen auf­zu­neh­men, die nicht über das Orts­kräf­te­ver­fah­ren, das huma­ni­tä­re Visa-Ver­fah­ren oder den Fami­li­en­nach­zug geret­tet wer­den können.

Die Praxis spricht eine andere Sprache

Die Ankün­di­gun­gen der Bun­des­re­gie­rung wur­den bis­her nur unzu­rei­chend umge­setzt. Das Bun­des­auf­nah­me­pro­gramm, wel­ches im Okto­ber 2022 ver­kün­det wur­de, greift nicht. Trotz der ver­zwei­fel­ten Situa­ti­on der Men­schen und der sich ver­schlim­mern­den Lage in Afgha­ni­stan hat die Bun­des­re­gie­rung bis heu­te nicht eine ein­zi­ge Per­son über das Pro­gramm auf­ge­nom­men. Wie bedroh­lich die Situa­ti­on in Afgha­ni­stan ist, zeigt auch der jüngs­te Bericht der Ver­ein­ten Natio­nen. Die Auf­nah­me aus Afgha­ni­stan muss also weitergehen.

Statt­des­sen wur­de aber die Ein­rei­se bedroh­ter Afgha­nen am 30. März 2023 nach einer Ankün­di­gung des Aus­wär­ti­gen Amtes ausgesetzt.

Das Bun­des­auf­nah­me­pro­gramm, wel­ches im Okto­ber 2022 ver­kün­det wur­de, greift nicht.

Zur Aussetzung des Visaverfahrens:

Am Ende März kam die über­ra­schen­de Ankün­di­gung des Aus­wär­ti­gen Amtes, man wür­de vor­erst alle Visa­ver­fah­ren für afgha­ni­sche Men­schen aus­set­zen. Grund wäre eine Opti­mie­rung der Sicher­heits­pro­zes­se nach bekannt gewor­de­nen Miss­brauchs­ver­su­chen bei der Visa­er­tei­lung. Die­se Nach­richt schlug medi­al und poli­tisch hohe Wel­len, auch wenn das Aus­wär­ti­ge Amt weni­ge Tage spä­ter klar­stell­te, dass es sich nur um ver­ein­zel­te Hin­wei­se auf mög­li­che Miss­brauchs­ver­su­che han­de­le. Der Spre­cher des AA am 5.4. in der Regierungspressekonferenz:

»Ich möch­te aber hier beto­nen: »Miss­brauch« heißt nach der­zei­ti­gem Kennt­nis­stand in fast allen Fäl­len, dass sich die Per­son bei­spiels­wei­se in der Zwi­schen­zeit in einen siche­ren Dritt­staat bege­ben hat­te, also dass sie nur des­halb nicht mehr für das Auf­nah­me­pro­gramm sozu­sa­gen in Betracht kam, weil sie sich inzwi­schen der Bedro­hung durch die Tali­ban durch eigen­stän­di­ge Flucht schon ent­zie­hen konn­te, oder in ein­zel­nen Fäl­len gab es unkla­re Fami­li­en­struk­tu­ren. Es hat zum Bei­spiel jemand eine Nich­te als Toch­ter aus­ge­ge­ben, damit sie im Rah­men der Kern­fa­mi­lie mit­be­rück­sich­tigt würde.«

PRO ASYL for­dert die Über­ar­bei­tung des Bun­des­auf­nah­me­pro­gramms unter Berück­sich­ti­gung der seit Mona­ten von der Zivil­ge­sell­schaft vor­ge­tra­ge­nen Kri­tik. Der Koali­ti­ons­ver­trag muss in Gän­ze umge­setzt wer­den, das Bun­des­auf­nah­me­pro­gramm kann dabei nur ein Bau­stein sein. Eben­so wich­tig sind:

  • die Reform des Ortskräfteverfahrens
  • die Auf­nah­me gefähr­de­ter Men­schen über ein huma­ni­tä­res Visum
  • die Beschleu­ni­gung der Familienzusammenführung

Trotz Visum keine Einreise

Sogar Men­schen, die bereits ein Visum erhal­ten haben, sol­len nicht ein­rei­sen dür­fen. Die Aus­set­zung des Visa­ver­fah­rens und die Ver­hin­de­rung der Ein­rei­se trotz bereits erhal­te­nen Visa sind aufs Schärfs­te zu kri­ti­sie­ren. Eine Opti­mie­rung von Pro­zes­sen kann nicht zu Las­ten von Men­schen gehen, die sich in Lebens­ge­fahr befin­den. Zudem hält PRO ASYL die Ver­hin­de­rung der Ein­rei­se von Men­schen mit Visum für rechts­wid­rig. Wenn ein Visum erteilt wur­de, haben bereits alle erfor­der­li­chen Prü­fun­gen statt­ge­fun­den, es darf dann nicht ein­fach ohne jeg­li­che Rechts­grund­la­ge die Ein­rei­se ver­hin­dert werden.

Hintergrund: Position und Forderungen von PRO ASYL zum Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan

Bei der Pla­nung des Bun­des­auf­nah­me­pro­gramms wur­den zivil­ge­sell­schaft­li­che Orga­ni­sa­tio­nen zur Betei­li­gung ein­ge­la­den, unter ande­rem auch PRO ASYL. Ins­be­son­de­re das Ver­fah­ren der Bun­des­re­gie­rung zur Aus­wahl der Men­schen nach einem auto­ma­ti­sier­ten Algo­rith­mus-Ver­fah­ren, die Intrans­pa­renz der Aus­wahl­kri­te­ri­en und die Bedin­gung der Antrag­stel­lung für die Betrof­fe­nen waren von Anfang an zu kri­ti­sie­ren. Außer­dem wur­den Men­schen aus Afgha­ni­stan, die sich in einem Dritt­staat befin­den, vom Pro­gramm aus­ge­schlos­sen. Nur 1000 Men­schen, also ca. 200 Fami­li­en, sol­len pro Monat eine Auf­nah­me­zu­sa­ge erhalten.

Nach der Macht­über­nah­me der Tali­ban in Afgha­ni­stan waren vie­le Men­schen gezwun­gen, das Land zu ver­las­sen. Die meis­ten von ihnen sind ehe­ma­li­ge Orts­kräf­te, Men­schen- und Frauenrechtsaktivist*innen sowie u.a. Journalist*innen, Lehrer*innen und Künstler*innen, die teil­wei­se mit deut­schen Orga­ni­sa­tio­nen zusam­men­ge­ar­bei­tet haben und auf­grund die­ser Zusam­men­ar­beit bedroht wur­den. Vie­le von ihnen hal­ten sich in den Anrai­ner­staa­ten wie Paki­stan und dem Iran auf. Die Bun­des­re­gie­rung hat­te die­sen Men­schen Hil­fe und Unter­stüt­zung zuge­sagt, ein­schließ­lich der Auf­nah­me in Deutschland.

Fallstricke des Programms

Mit dem Bun­des­auf­nah­me­pro­gramm beschränkt die Bun­des­re­gie­rung den begüns­tig­ten Per­so­nen­kreis jedoch aus­schließ­lich auf afgha­ni­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge in Afghanistan.

Eine Antrag­stel­lung aus Dritt­staa­ten wie Iran, Paki­stan oder der Tür­kei ist nicht mög­lich. Es gibt kei­ne zen­tra­le Anmel­de­stel­le  und kei­ne Infor­ma­ti­on der Bun­des­re­gie­rung an die Antrag­stel­len­den über den Stand des Verfahrens.

Das für das Auf­nah­me­pro­gramm ent­wi­ckel­te Online-Tool ent­hält mehr als 100 Fra­gen. Neben den per­sön­li­chen Daten wer­den hier ins­be­son­de­re tätig­keits­be­zo­ge­ne Gefähr­dun­gen sowie Vul­nerabi­li­tät auf­grund von Geschlecht, Reli­gi­ons­zu­ge­hö­rig­keit, sexu­el­ler Ori­en­tie­rung oder Geschlechts­iden­ti­tät abge­fragt. Aller­dings kön­nen vie­le die­ser Fra­gen nur durch »Drop­downs« beant­wor­tet wer­den. Die Bedro­hungs­la­ge von Men­schen in Afgha­ni­stan ist jedoch sehr kom­plex und viel­fäl­tig, sodass eine rei­ne Abfra­ge von Kate­go­rien den indi­vi­du­el­len Gefähr­dun­gen nicht gerecht wird. Soweit mög­lich, sol­len die Anga­ben mit Doku­men­ten belegt wer­den. Dies ist in der der­zei­ti­gen Situa­ti­on in Afgha­ni­stan schwie­rig, da die Beschaf­fung von Doku­men­ten in Afgha­ni­stan lebens­ge­fähr­lich ist und von den Anrai­ner­staa­ten aus schlicht­weg nicht mach­bar ist.

Die Schutz­su­chen­den kön­nen sich nicht selbst für das Auf­nah­me­pro­gramm bewer­ben und ihre Daten eigen­stän­dig ein­tra­gen. Dies dür­fen nur aus­ge­wähl­te Orga­ni­sa­tio­nen in Deutsch­land tun, die sich als »mel­de­be­rech­tig­te Stel­len« für das Bun­des­auf­nah­me­pro­gramm regis­trie­ren las­sen. Aller­dings wer­den die Namen die­ser Stel­len nicht öffent­lich bekannt gege­ben, da die­se selbst ent­schei­den, ob sie sich als sol­che zu erken­nen geben möch­ten. Bis­her haben nur weni­ge Orga­ni­sa­tio­nen die­se Mög­lich­keit wahr­ge­nom­men, da sie befürch­ten, durch die Bekannt­ga­be und die Anfra­gen von Betrof­fe­nen über­for­dert zu wer­den. Vie­le NGOs wol­len und kön­nen nicht staat­li­che Auf­ga­ben übernehmen.

Dadurch ist der Zugang zum Auf­nah­me­pro­gramm für Betrof­fe­ne höchst intrans­pa­rent. Schutz­su­chen­de aus Afgha­ni­stan wis­sen nicht, an wen sie sich wen­den müs­sen, und es hängt von Glück ab, ob sie bereits Kon­takt mit Orga­ni­sa­tio­nen haben, die als »mel­de­be­rech­tigt« gelten.

PRO ASYL for­dert die Ein­rich­tung einer staat­li­chen oder zumin­dest einer staat­lich finan­zier­ten, zen­tra­len Anmel­de­stel­le, die für Betrof­fe­ne bekannt ist und an die sie sich wen­den kön­nen, um für das Auf­nah­me­pro­gramm ange­mel­det zu wer­den. Die­se Stel­le soll­te mit aus­rei­chen­den Kapa­zi­tä­ten für die Anmel­dung von Betrof­fe­nen aus­ge­stat­tet werden.

Der Auswahlprozess

Das ein­ge­rich­te­te IT-Tool hat nicht nur die Auf­ga­be, die per­so­nen­be­zo­ge­nen Daten und die Gefähr­dungs­la­ge stich­wort­ar­tig zu erfas­sen, son­dern auch sie zu bewer­ten. Mit Hil­fe der erfass­ten Daten wer­den auto­ma­ti­siert Punk­te ver­ge­ben, anhand derer fest­ge­stellt wer­den soll, wer als indi­vi­du­ell gefähr­det ein­ge­stuft wird. Eine indi­vi­du­el­le Sich­tung und eine Bewer­tung durch das Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) oder das Aus­wär­ti­ge Amt erfolgt nicht.

Laut des Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­ums sol­len die erfass­ten Daten monat­lich durch neue soge­nann­te »Aus­wahl­run­den« erneut bewer­tet wer­den, um die Gewich­tung jeweils auf einen unter­schied­li­chen Schwer­punkt zu legen, was die Gefähr­dungs­la­ge angeht. Zum Bei­spiel auf dem Schwer­punkt »Gefähr­dung auf­grund des Geschlechts« oder »auf­grund sexu­el­ler Orientierung«.

Dies ist aus Sicht von PRO ASYL ein schwie­ri­ges Vor­ge­hen, da sich Gefähr­dungs­la­gen sel­ten in nur eine Kate­go­rie ein­ord­nen las­sen, son­dern im Gegen­teil sehr viel­schich­tig und indi­vi­du­ell sind. Es besteht die Gefahr, dass sich Men­schen mona­te­lang in einer lebens­be­droh­li­chen Situa­ti­on auf­hal­ten müs­sen, um zu war­ten, bis »ihr Schwer­punkt« auf der Agen­da ist und sie eine Chan­ce haben, vom Scoring-Sys­tem aus­ge­wählt zu werden.

Bei dem IT-Scoring-Sys­tem, wonach die Anträ­ge gefähr­de­ter Afghan*innen mit einem digi­ta­len Punk­te­sys­tem und Algo­rith­men bewer­tet wer­den, besteht die Gefahr, dass gefähr­de­te Men­schen durch das Ras­ter fal­len. Zudem fin­det kei­ne dem Ein­zel­fall gerecht wer­den­de Gewich­tung und Gefähr­dungs­be­ur­tei­lung statt.

Es gilt wie­der ein­mal: Der Ein­zel­fall zählt – im Asyl­ver­fah­ren und auch bei der Auf­nah­me aus dem Ausland.