26.02.2025
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Lukas Welz, Geschäftsleiter der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer e. V. (BAfF)

In den vergangenen Monaten erschütterten Attentate die Bundesrepublik. In einigen Fällen, wie in Aschaffenburg, hat der Täter eine psychische Erkrankung. Was im Umgang mit traumatisierten Geflüchteten falsch läuft und worauf es bei ihrer psychosozialen Versorgung ankommt, erklärt Lukas Welz, Experte für psychische Erkrankungen bei Geflüchteten.

Lukas Welz ist Geschäfts­lei­ter der Bun­des­wei­ten Arbeits­ge­mein­schaft der Psy­cho­so­zia­len Zen­tren für Flücht­lin­ge und Fol­ter­op­fer e. V. (BAfF). Momen­tan sind 51 Psy­cho­so­zia­le Zen­tren in der BAfF orga­ni­siert. Sie ver­sorg­ten im Jahr 2022 ins­ge­samt knapp 25.000 Klient*innen. Min­des­tens 10.000 Per­so­nen muss­ten aus Kapa­zi­täts­grün­den abge­lehnt werden 

Nach den schreck­li­chen Anschlä­gen von Aschaf­fen­burg und Mün­chen wird auch über die psy­cho­the­ra­peu­ti­sche Ver­sor­gung von Geflüch­te­ten dis­ku­tiert. Fest steht: Es gibt viel zu wenig The­ra­pie­plät­ze. Haben Sie den Ein­druck, dass das nun in der Poli­tik ange­kom­men ist? 

Laut inter­na­tio­na­ler Stu­di­en­la­ge benö­ti­gen min­des­tens drei­ßig Pro­zent der Men­schen mit Flucht­er­fah­rung poten­zi­ell psy­cho­the­ra­peu­ti­sche Hil­fe. Doch in Deutsch­land wird ledig­lich ein Bruch­teil die­ser Men­schen ange­mes­sen ver­sorgt. Aktu­ell erhal­ten nur drei Pro­zent aller geflüch­te­ten Men­schen mit psy­cho­lo­gi­schem Behand­lungs­be­darf auf­grund trau­ma­ti­sie­ren­der Erfah­run­gen wie Fol­ter, Krieg und Flucht die ent­spre­chen­de Ver­sor­gung. Doch das steht nicht im Fokus. Die poli­ti­sche Debat­te nach Anschlä­gen wie in Aschaf­fen­burg und Mün­chen dreht sich nicht dar­um, die tat­säch­li­chen Pro­ble­me zu lösen. Statt­des­sen sug­ge­rie­ren vie­le Politiker*innen: »Weni­ger Geflüch­te­te heißt weni­ger Pro­ble­me.« Außer­dem erle­ben wir nun ver­stärkt das Nar­ra­tiv, dass Geflüch­te­te mit psy­cho­so­zia­lem Behand­lungs­be­darf ein »Sicher­heits­ri­si­ko« dar­stel­len. So hat es kürz­lich Gesund­heits­mi­nis­ter Karl Lau­ter­bach bei Mar­kus Lanz dar­ge­stellt. Und der hat das als »poli­ti­schen Spreng­stoff« bezeich­net. Es ist eine brand­ge­fähr­li­che Debat­te, wenn wir so über Men­schen spre­chen, die unse­re Hil­fe benötigen.

Nur drei Pro­zent aller geflüch­te­ten Men­schen mit psy­cho­lo­gi­schem Behand­lungs­be­darf erhal­ten in Deutsch­land die ent­spre­chen­de Versorgung.

Es geht um »Gefähr­der«, statt die Gefähr­dung der Schutz­su­chen­den zu sehen.

Genau. Gewalt auf­grund einer psy­chi­schen Erkran­kung rich­tet sich in ers­ter Linie gegen sich selbst und nur zu einem ver­schwin­dend gerin­gen Teil gegen Ande­re. Die Annah­me, dass psy­chisch erkrank­te Men­schen beson­ders gewalt­tä­tig sei­en, beruht oft auf ver­zerr­ten Sta­tis­ti­ken und Inter­pre­ta­tio­nen der Poli­zei­li­chen Kri­mi­nal­sta­tis­tik: Erfasst sind dort Fäl­le, in denen eine psy­chi­sche Erkran­kung bereits mit einer Straf­tat ver­knüpft ist. Das ist nicht reprä­sen­ta­tiv für die Beur­tei­lung aller Men­schen mit psy­chi­schen Beein­träch­ti­gun­gen. Psy­chisch Erkrank­te sind häu­fi­ger Opfer als Täter*innen. Wis­sen­schaft­li­che Ana­ly­sen zei­gen: Pau­scha­le Stig­ma­ti­sie­run­gen ent­beh­ren jeder Grundlage.

Der Gesund­heits­mi­nis­ter möch­te den Zugang zu The­ra­peu­ten für Geflüch­te­te erleich­tern. Das ist doch immer­hin ein Schritt in die rich­ti­ge Rich­tung, oder?

Karl Lau­ter­bach hat einen Vor­schlag gemacht, der Ende Janu­ar im Bun­des­tag und am 14. Febru­ar im Bun­des­rat beschlos­sen wur­de. Er sieht vor, dass mehr Therapeut*innen zur Behand­lung beson­ders vul­nerabler Per­so­nen ermäch­tigt wer­den kön­nen. Das klingt gut, aber ändern wird sich für vie­le Geflüch­te­te nichts. Denn die von ihm vor­ge­schla­ge­ne Lösung gilt nur für gesetz­lich kran­ken­ver­si­cher­te Patient*innen – also für jene, die bereits einen Auf­ent­halts­sta­tus haben. Geflüch­te­te jedoch, die Leis­tun­gen nach dem Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz (Asyl­bLG) bezie­hen, sind außen vor. Auf sie trifft die Rege­lung nicht zu.

Seit einer Reform durch die Ampel-Regie­rung fal­len geflüch­te­te Men­schen noch län­ger unter das Asyl­bLG: Näm­lich drei Jah­re statt wie zuvor anderthalb…

… und in die­ser Zeit haben sie kei­nen Anspruch auf Leis­tun­gen aus der Regel­ver­sor­gung der Kran­ken­kas­sen. Das bedeu­tet: In den ers­ten 36 Mona­ten hat der Groß­teil der geflüch­te­ten Per­so­nen nur einen Anspruch auf die Behand­lung aku­ter Erkran­kun­gen und Schmerz­zu­stän­de. Die Sozi­al­be­hör­den müs­sen Behand­lun­gen bewil­li­gen. Sie erken­nen psy­cho­the­ra­peu­ti­sche Behand­lun­gen in der Regel aber nicht an. Aus die­sem Grund gibt es die Psy­cho­so­zia­len Zen­tren, denn es gibt sonst kaum psy­cho­so­zia­le Ver­sor­gungs-mög­lich­kei­ten für Asylsuchende.

Es gibt Pilot­pro­jek­te zur Erken­nung psy­chi­scher Pro­ble­me in den Erst­auf­nah­me-ein­rich­tun­gen, etwa in Baden-Würt­tem­berg, Schles­wig-Hol­stein oder Rhein­land-Pfalz. Zuletzt ist Pro­fes­sor Tho­mas Elbert von der Uni Kon­stanz durch die Medi­en gegan­gen, der sagt: Ein Scree­ning, bei dem die psy­chi­sche Ver­fas­sung abge­fragt wird, sei »tech­nik­ge­stützt in 15 bis 30 Minu­ten« mach­bar. In einem Pro­jekt in Baden-Würt­tem­berg wird das schon seit eini­gen Jah­ren umge­setzt. Was hal­ten Sie davon?

Scree­ning­ver­fah­ren, die noch dazu weit­rei­chen­de Impli­ka­tio­nen für das Asyl­ver­fah­ren und die gesund­heit­li­che Ver­sor­gung haben, dür­fen kein rei­ner Selbst­zweck sein. Sie müs­sen fach­li­chen und ethi­schen Stan­dards genü­gen. Ein Scree­ning bie­tet ledig­lich eine ers­te gro­be Ein­schät­zung über das mög­li­che Vor­lie­gen einer Erkran­kung. Wird nach einem Erst­scree­ning eine psy­chi­sche Erkran­kung ange­mes­sen dia­gnos­ti­ziert, muss dann aber gewähr­leis­tet sein, dass die Betrof­fe­nen im Anschluss auch eine ange­mes­se­ne Ver­sor­gung erhalten.

Es kur­sie­ren in der der­zei­ti­gen poli­ti­schen Debat­te vie­le Ideen, bei denen man sehr, sehr vor­sich­tig sein muss. Ich sehe die Gefahr, dass dadurch der Fokus zu sehr auf einer ver­meint­li­chen Gefah­ren­ab­wehr liegt anstatt auf der ange­mes­se­nen psy­cho­so­zia­len Ver­sor­gung von Geflüch­te­ten. Die Erfas­sung psy­chi­scher Stö­run­gen durch ein sol­ches Scree­ning wird der­zeit nur als sicher­heits­po­li­ti­sche Maß­nah­me diskutiert.

… ähn­lich wie ein Regis­ter für psy­chisch erkrank­te Geflüch­te­te, das etwa der CDU-Gene­ral­se­kre­tär Cars­ten Lin­ne­mann gefor­dert hat?

Ja. Ein Regis­ter für psy­chisch erkrank­te Geflüch­te­te leh­nen wir ab. Das stellt eine pau­scha­le Stig­ma­ti­sie­rung dar, die Fol­gen haben wird. Ich habe den Ein­druck, der Poli­tik geht es vor allem dar­um, wie poten­zi­el­le Gefährder*innen iden­ti­fi­ziert wer­den kön­nen schon allein auf­grund psy­chi­scher Erkran­kun­gen. Die­se Hal­tung ver­stößt gegen sämt­li­che inter­na­tio­na­le Ver­pflich­tun­gen, etwa gegen die EU-Auf­nah­me­richt­li­nie, die für Deutsch­land bin­dend ist. Kei­ne der vor­ge­schla­ge­nen poli­ti­schen Maß­nah­men setzt an der Her­aus­for­de­rung an, dass die psy­cho­so­zia­le Ver­sor­gung von Geflüch­te­ten der­zeit einem Fli­cken­tep­pich gleicht und Betrof­fe­ne so gut wie nicht erreicht.

Auch Robert Habeck for­der­te in einem 10-Punk­te-Plan, dass Asyl­su­chen­de bei der medi­zi­ni­schen Erst­un­ter­su­chung ab sofort auf psy­chi­sche Erkran­kun­gen unter­sucht wer­den. Unter­stel­len wir mal gute Absich­ten: Ist es nicht posi­tiv, wenn psy­chi­sche Erkran­kun­gen schnell erkannt und dann behan­delt wer­den können?

Sicher, wenn man davon aus­geht, dass eine Behand­lung dann auch erfolgt. Und das wage ich zu bezwei­feln. Die Dis­kus­si­on geht am eigent­li­chen Pro­blem vor­bei. Die Iden­ti­fi­zie­rung ist wich­tig, wenn die Men­schen dann einer beson­ders schutz­be­dürf­ti­gen Grup­pe zuge­ord­net wer­den und ent­spre­chen­de Ver­sor­gung erhal­ten. Doch schon jetzt ist klar, dass der Bedarf da ist – aber es pas­siert trotz­dem nichts. Die Kapa­zi­tä­ten rei­chen bei wei­tem nicht aus, die Finan­zie­rung der Psy­cho­so­zia­len Zen­tren ist eine Kata­stro­phe, und die Geset­zes­la­ge lässt eine bes­se­re Ver­sor­gung gar nicht zu. Inso­fern ist das eine Scheindebatte.

Geflüch­te­te machen nicht nur im Her­kunfts­land und auf der Flucht trau­ma­ti­sie­ren­de Erfah­run­gen, son­dern auch in Deutschland.

Inwie­fern trägt Deutsch­land eine Mit­schuld dar­an, dass sich die psy­chi­sche Situa­ti­on geflüch­te­ter Men­schen häu­fig noch ver­schlim­mert, wenn sie hier sind? 

Das ist ein wich­ti­ger Punkt: Geflüch­te­te machen nicht nur im Her­kunfts­land und auf der Flucht trau­ma­ti­sie­ren­de Erfah­run­gen, son­dern zuneh­mend auch in Euro­pa. Die Unsi­cher­heit über die eige­ne Zukunft kann die psy­chi­sche Belas­tung erheb­lich ver­stär­ken. In Deutsch­land füh­ren neben der teils schlech­ten Unter­brin­gung vor allem die poli­ti­schen Debat­ten und Ras­sis­mus­er­fah­run­gen zu einer psy­chi­schen Erkran­kung oder Re-Trau­ma­ti­sie­rung. Mona­te­lan­ge, jah­re­lan­ge Asyl­ver­fah­ren, unge­wis­se Auf­ent­halts­ti­tel, Ket­ten­dul­dun­gen, Dis­kus­sio­nen über die Aberken­nung von bereits zuer­kann­ten Auf­ent­halts­ti­teln – all das sind Fak­to­ren, die zusam­men­kom­men, die Zukunfts­ängs­te schü­ren und psy­chi­sche Erkran­kun­gen begünstigen.

Im ver­gan­ge­nen Jahr wur­de die finan­zi­el­le Lage der Psy­cho­so­zia­len Zen­tren durch dras­ti­sche Kür­zun­gen von Bun­des­mit­teln ver­schlech­tert. Und für 2025 will der Bund die Mit­tel um knapp die Hälf­te strei­chen. Was bedeu­tet das kon­kret für Ihre Arbeit?

Die Psy­cho­so­zia­len Zen­tren finan­zie­ren sich aus Bundes‑, Landes‑, EU-Mit­teln und Spen­den sowie aus Gel­dern der UNO-Flücht­lings­hil­fe. Es gibt aller­dings Zen­tren, die vor­wie­gend aus Bun­des­mit­teln finan­ziert sind, und für die bedeu­tet die­se dras­ti­sche Mit­tel­kür­zung das Aus: Die kom­plet­te Schlie­ßung oder einen mas­si­ven Stel­len­ab­bau. Letz­te­res ist ein Pro­blem, denn Fach­kräf­te in die­sem Bereich zu fin­den, ist schwie­rig. Es ist eine Tätig­keit, die sehr belas­tend ist und wenn Men­schen, die das auf sich neh­men, ent­las­sen wer­den, fin­det man nicht unbe­dingt ein paar Mona­te spä­ter, wenn der Bund es sich mög­li­cher­wei­se anders über­legt hat, neue Kräf­te. Unser Enga­ge­ment wird so an vie­len Orten nach­hal­tig zer­stört. Von einer Schlie­ßung betrof­fen sind zum Bei­spiel die Zen­tren in Sach­sen, weil dort zuvor auch schon die Lan­des­mit­tel weg­ge­bro­chen sind.

Was brau­chen Sie, um die Arbeit der Zen­tren bun­des­weit fort­füh­ren zu können?

Dafür braucht es für das Haus­halts­jahr 2025 min­des­tens 27 Mil­lio­nen Euro aus Bun­des­mit­teln. So könn­ten wir flä­chen­de­ckend eine sta­bi­le psy­cho­so­zia­le Ver­sor­gung von Geflüch­te­ten gewähr­leis­ten. Der aktu­el­le Haus­halts­ent­wurf des Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­ums sieht für die­ses Jahr aber eine Fast-Hal­bie­rung der Mit­tel von 2024 auf nur noch rund 7 Mil­lio­nen Euro vor. Im Bun­des­haus­halt sind das Pea­nuts! Für uns bedeu­tet es eine dras­ti­sche Unter­fi­nan­zie­rung. Die Bun­des­re­gie­rung kommt so ihrer Pflicht zur Ver­sor­gung von Schutz­su­chen­den nicht ein­mal annä­hernd nach.

Gibt es Bun­des­län­der, die in punc­to Finan­zie­rung mit gutem Bei­spiel vorangehen? 

Rhein­land-Pfalz hat viel Geld in die Psy­cho­so­zia­len Zen­tren inves­tiert. Auch Sach­sen war bis zur letz­ten Land­tags­wahl gut auf­ge­stellt, was die Lan­des­fi­nan­zie­rung betrifft. In Bay­ern hin­ge­gen – auch vor dem Hin­ter­grund der Anschlä­ge in Aschaf­fen­burg und Mün­chen inter­es­sant – gibt es kaum Lan­des­för­de­rung für die­se Arbeit.

Es ist teu­rer für den Sozi­al­staat, erkrank­te Geflüch­te­te ver­spä­tet zu behan­deln, als sie sofort medi­zi­nisch ange­mes­sen zu versorgen.

Das Pro­blem der ekla­tan­ten Unter­ver­sor­gung und Unter­fi­nan­zie­rung ist ja nicht neu: BAfF mach­te bereits vor zehn Jah­ren deut­lich auf die Miss­stän­de auf­merk­sam, die Natio­na­le Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten warn­te die Bun­des­re­gie­rung 2018, und die Recher­che­platt­form Cor­rec­tiv schrieb 2023 von einem »Sys­tem­ver­sa­gen mit Ansa­ge«. Hat sich denn in den letz­ten zehn Jah­ren mit Blick auf die psy­cho­so­zia­le Ver­sor­gung Geflüch­te­ter irgend­et­was verbessert?

Das kann man lei­der nicht behaup­ten. Es ist ein kurz­fris­ti­ges Den­ken, denn jeder inves­tier­te Euro, der in die psy­cho­so­zia­le Ver­sor­gung inves­tiert wird, redu­ziert mas­siv Fol­ge­kos­ten. Das hat eine Stu­die der Uni Bie­le­feld erge­ben. Die psy­cho­so­zia­le Ver­sor­gung Schutz­su­chen­der ist also nicht nur gesell­schaft­lich wich­tig, son­dern auch öko­no­misch ratio­nal: Sie ent­las­tet per­spek­ti­visch alle ande­ren Sozi­al­sys­te­me, etwa die Kran­ken- und Ren­ten­ver­si­che­rungs­sys­te­me. Es ist teu­rer für den Sozi­al­staat, erkrank­te Geflüch­te­te ver­spä­tet zu behan­deln, als sie sofort medi­zi­nisch ange­mes­sen zu versorgen.

In einem Offe­nen Brief von Psychiater*innen an Merz heißt es: »Herr Merz, (…) Kei­ner Ihrer aktu­el­len Vor­schlä­ge hät­te den schreck­li­chen Vor­fall von Aschaf­fen­burg ver­hin­dert. (…) Im Gegen­teil kön­nen die durch­klin­gen­de Pau­scha­li­sie­rung und der mas­si­ve öffent­li­che Druck die see­li­sche Situa­ti­on von Migran­ten nur ver­schlim­mern.« Wie kommt unse­re Gesell­schaft aus die­sem Teu­fels­kreis heraus? 

Zunächst müs­sen wir ein ande­res Nar­ra­tiv set­zen. For­mu­lie­run­gen und For­de­run­gen, die psy­chisch kran­ke Geflüch­te­te stig­ma­ti­sie­ren und noch dazu das gefähr­li­che Poten­zi­al haben, dass man sich die­ser Men­schen künf­tig ein­fach ent­le­di­gen will, brin­gen uns nicht wei­ter. Eine ver­ant­wor­tungs­vol­le poli­ti­sche Debat­te wäre eine, die tat­säch­lich nach Lösun­gen sucht. Zum Bei­spiel soll­te der Zugang zur Gesund­heits­ver­sor­gung inklu­si­ve psy­cho­so­zia­ler Unter­stüt­zung von Tag eins an auch im Asyl­be­wer­ber-leis­tungs­ge­setz ver­an­kert sein. Wir the­ma­ti­sie­ren das seit 25 Jah­ren, aber es gibt eine poli­ti­sche Ver­wei­ge­rungs­hal­tung, sich damit aus­ein­an­der­zu­set­zen. Ich wün­sche mir sach­ori­en­tier­te Debat­ten, in der wir und ande­re Expert*innen ein­be­zo­gen wer­den. Wir schi­cken unse­ren Ver­sor­gungs­be­richt jedes Jahr an Parlamentarier*innen, füh­len uns aber ein biss­chen wie ein ein­sa­mer Rufer in der Wüste.

Wel­che Hür­den müs­sen Geflüch­te­te über­win­den, um eine Psy­cho­the­ra­pie bewil­ligt zu bekommen? 

Asyl­su­chen­de, die über­haupt die gro­ße Hür­de neh­men und von sich aus the­ra­peu­ti­sche Hil­fe suchen, müs­sen sich zunächst an die Sozi­al­äm­ter wen­den. Dort beur­tei­len fach­frem­de Mitarbeiter*innen, ob eine Psy­cho­the­ra­pie nötig ist. Sprich: Men­schen, die über­haupt nicht dafür aus­ge­bil­det sind, sol­len erken­nen, ob etwa eine post­trau­ma­ti­sche Belas­tungs­stö­rung vor­liegt. Das ist völ­lig absurd.

… und führt zu zahl­rei­chen Fehlentscheidungen. 

Ja, eine Stu­die aus Sach­sen-Anhalt zeigt bei­spiels­wei­se, dass nur fünf Pro­zent der Geflüch­te­ten von der zustän­di­gen Sozi­al­be­hör­de eine Depres­si­on, Angst­stö­rung oder Post­trau­ma­ti­sche Belas­tungs­stö­rung dia­gnos­ti­ziert wur­de. Dabei lag der tat­säch­li­che Bedarf deut­lich höher, näm­lich bei 59 Pro­zent. Im Klar­text bedeu­tet das: Die Sozi­al­äm­ter geneh­mi­gen psy­cho­the­ra­peu­ti­sche Behand­lung oft nur sehr restrik­tiv bis gar nicht. Das liegt auch dar­an, dass das Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz der­art for­mu­liert ist, dass Psy­cho­the­ra­pie eigent­lich gar nicht vor­ge­se­hen ist. Wenn man sich ein Bein bricht, über­nimmt der Staat die Behand­lung, aber wenn die See­le krank ist, dann nicht.

Wür­de es hel­fen, wenn mehr nie­der­ge­las­se­ne Psychotherapeut*innen auch Geflüch­te­te aufnehmen?

Das wür­de defi­ni­tiv hel­fen, aber nie­der­ge­las­se­ne Psychotherapeut*innen müs­sen einen hohen büro­kra­ti­schen Auf­wand betrei­ben, um ihre Leis­tun­gen für Geflüch­te­te, die unters Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz fal­len, finan­ziert zu bekom­men. Das fängt schon damit an, dass sie häu­fig nicht die ent­spre­chen­den Sprach­kennt­nis­se der Geflüch­te­ten haben, Dolmetscher*innen aber nicht vom Staat bezahlt wer­den. Hin­zu kommt, dass die Arbeit mit Men­schen, die schwers­te Gewalt- und Fol­ter­er­fah­run­gen über­lebt haben, spe­zia­li­sier­tes Wis­sen und eine gute Hal­tung im the­ra­peu­ti­schen Raum brau­chen – Grund­la­gen, die nicht alle nie­der­ge­las­se­ne Psychotherapeut*innen mitbringen.

Auch vie­le Deut­sche war­ten lan­ge auf einen The­ra­pie­platz. Haben wir denn über­haupt genug Psycholog*innen, um den enor­men Bedarf decken zu können?

Da muss man vor­sich­tig sein, dass man nicht in die Wir-und-Die-Debat­te abdrif­tet. Natür­lich gibt es einen enor­men Bedarf, der nicht gedeckt ist, und mehr Psycho-the­ra­pie­plät­ze wären für alle gut. Auf­grund der genann­ten struk­tu­rel­len Hür­den ist es für Geflüch­te­te aber ungleich schwie­ri­ger als für Deut­sche, über­haupt einen The­ra­pie­platz zu bekom­men. In der Gesamt­be­völ­ke­rung gibt es natür­lich auch einen psy­cho­lo­gi­schen Behand­lungs­be­darf, der ist aller­dings im Durch­schnitt längst nicht so hoch wie in der Grup­pe der Geflüch­te­ten, die häu­fig sehr schlim­me, exis­ten­zi­el­le Erfah­run­gen gemacht haben. Bei den min­des­tens drei­ßig Pro­zent der Geflüch­te­ten mit psy­chi­schem Behand­lungs­be­darf spre­chen wir von schwer­wie­gen­den Fäl­len, von Trau­ma­ti­sie­run­gen, die auf Gewalt­er­fah­run­gen basie­ren, auf dem Ver­lust von Ange­hö­ri­gen, Ängs­ten, Depres­si­ons­zu­stän­den. Oft geht das mit der Ten­denz ein­her, nicht mehr für sich oder die Fami­lie sor­gen zu kön­nen, bis hin zu einer hohen Sui­zi­da­li­tät. Wer­den die­se Bedar­fe nicht adres­siert, ver­hin­dert man Inte­gra­ti­on und Teil­ha­be, die Mög­lich­keit, ins Berufs­le­ben ein­zu­stei­gen, Teil die­ser Gesell­schaft zu werden.

Sie spra­chen das Pro­blem mit der man­geln­den Über­set­zung bei psy­cho­lo­gi­scher Behand­lung an. Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen for­dern immer wie­der, dass die Kos­ten für qua­li­fi­zier­te Sprach­mitt­lung im Gesund­heits­we­sen vom Staat über­nom­men wer­den müs­sen. Kann Künst­li­che Intel­li­genz hier helfen?

Bedingt. Thü­rin­gen hat bei­spiels­wei­se ein Lan­des­pro­gramm, auf das alle Ein­rich­tun­gen vom psy­cho­so­zia­len Zen­trum bis zum Kran­ken­haus zugrei­fen kön­nen. Das ist ein video- und tele­fon­ba­sier­ter Dol­met­scher­dienst. Das ist sinn­voll in einem Bun­des­land, in dem es nicht in jeder Klein­stadt Dolmetscher*innen ins­be­son­de­re für sel­te­ne Spra­chen gibt. Die Her­aus­for­de­rung in der psy­cho­so­zia­len Arbeit ist aber, dass wir es sehr oft mit Men­schen zu tun haben, die auf­grund ihrer Fol­ter- oder Repres­si­ons­er­fah­rung ein sehr hohes Unsi­cher­heits­ge­fühl haben. Ver­trau­en ent­steht für sie durch einen geschütz­ten Raum, im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes: Dadurch, dass sie wis­sen, wel­che Per­son im Raum ist, zuhört, unter­stützt. Eine abs­trak­te Video­dol­met­sche­rin trägt da eher zur Ver­un­si­che­rung bei und lässt Fra­gen auf­kom­men wie: »Wer hört da noch mit? Gerät das, was ich erzäh­le, in die Hän­de von Geheim­diens­ten?« Zudem geht es nicht nur um eine Eins-zu-Eins-Über­set­zung, son­dern dar­um, Vor­stel­lun­gen, Kon­zep­te, Kon­text zu vermitteln.

(er)