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Nach der Katastrophe: Diskussion um EU-Flüchtlingspolitik
Nach der Katastrophe vor Lampedusa mit vermutlich weit über 200 Toten zeigen sich weite Teile der europäischen und der deutschen Öffentlichkeit geschockt, Forderungen nach einem Kurswechsel in der europäischen Flüchtlingspolitik mehren sich.
Während vor Lampedusa die Bergung der Todesopfer der Katastrophe vom Morgen des 3. Oktober noch immer andauert, wird in Deutschland und Europa breit über die Flüchtlingspolitik der EU und ihre tödlichen Folgen diskutiert. Auch beim derzeitigen EU-Innenministertreffen steht das Thema der Agenda. Doch Aussagen von Bundesinnenminister Friedrich lassen befürchten, dass die EU-Innenministerkonferenz auf das fortgesetzte Sterben von Flüchtlingen an den Außengrenzen der EU kaum eine angemessene Antwort finden wird. Hans-Peter Friedrich erteilte Forderungen nach grundlegenden Veränderungen der EU-Asypolitik von vornherein eine Absage und setzt dagegen auf rhetorische Ablenkungsmanöver.
Nebelkerze „Entwicklungshilfe“
So sprach sich Friedrich vor dem Rats-Treffen für europäisch-afrikanische Wirtschaftsgespräche aus. Es gehe darum, die Entwicklung in den Herkunftsländern so zu verbessern, dass “die Menschen schon keinen Grund haben, ihre Heimat zu verlassen.“ Angesichts der Tatsache, dass sich gegenwärtig vor allem Flüchtlinge aus Eritrea, Somalia und Syrien auf den gefährlichen Seeweg nach Europa begeben, kommt Friedrichs Vorschlag einer hartnäckigen Realitätsverweigerung gleich. Somalia ist ein zerfallener Staat, in dem Warlords herrschen, in Eritrea ist eine Militärdiktatur an der Macht, in Syrien tobt ein Bürgerkrieg. Entwicklungshilfe und wirtschaftliche Zusammenarbeit können dort realistischerweise nichts zur Verbesserung der Menschenrechtslage beitragen.
Breite Debatte um grundlegenden Wandel der EU-Flüchtlingspolitik
Indes wird auch in der CDU kontrovers über Europas Flüchtlingspolitik diskutiert. Der ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments, Hans-Gert Pöttering (CDU), rief zur Solidarität unter den EU-Ländern im Umgang mit Flüchtlingen auf. „Wir sind eine Solidargemeinschaft. Wenn ein Mitgliedsstaat mit einem Problem allein überfordert ist, dann muss die Solidarität der anderen Partner wirksam werden“.
Die stellvertretende CDU-Vorsitzende Julia Klöckner wird zitiert, „das Drehen an einzelnen Schrauben allein“ helfe nicht weiter. Sie forderte einen europäischen Flüchtlingsgipfel. Was vor der italienischen Mittelmeerinsel geschehen sei, beschäme ganz Europa. Auch CDU-Vize Thomas Strobl sagte, eine neue europäische Flüchtlingspolitik gehöre „mittelfristig auf die Agenda“. Man dürfe die Italiener nicht mit dem Problem allein lassen.
SPD fordert gerechtere Aufteilung der Verantwortung für Flüchtlinge
Auch in der SPD über Konsequenzen aus der Katastrophe diskutiert. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) forderte die Bundesregierung zur Aufnahme zusätzlicher Flüchtlinge auf. „Es ist eine Schande, dass die EU Italien mit dem Flüchtlingsstrom aus Afrika so lange alleingelassen hat“, kritisierte der SPD-Politiker. Die Flüchtlinge müssten in Zukunft gerechter auf die EU-Mitgliedstaaten verteilt werden. Das heiße auch, dass Deutschland zusätzliche Menschen aufnehmen müsse. Das Thema müssten die EU-Staaten auf ihrem Gipfel in Oktober in Brüssel beraten.
Auch der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel sieht die anderen europäischen Staaten in der Pflicht, deutlich mehr Migranten aus Afrika aufzunehmen. „Was auf Lampedusa passiert, ist eine große Schande für die Europäische Union“, sagte er. „Wir müssen den riesigen Strom von dort ankommenden Flüchtlingen gerechter in Europa verteilen und die Zustände für die Flüchtlinge und für die Inselbewohner vor Ort verbessern.“ Deutschland müsse sich entschieden dafür einsetzen, das Flüchtlingselend auf Lampedusa zu mildern.
EU-Kommission kritisiert egoistische Migrationspolitik der Mitgliedstaaten
Seitens der EU-Kommission betonte Michele Cercone, Sprecher von Innenkommissarin Cecilia Malmström, es brauche auf EU-Ebene eine neue Herangehensweise. Die derzeitige Migrationspolitik sei uneinheitlich und an den Eigeninteressen der jeweiligen Mitgliedstaaten orientiert, kritisierte er. Dabei werde Migration als Bedrohung und nicht als Chance wahrgenommen. Die Kommission wolle Wege legaler Migration eröffnen und die Verantwortung für den Flüchtlingsschutz unter allen 28 Mitgliedern der Staatengemeinschaft aufteilen. Die EU-Kommissarin für humanitäre Hilfe, Kristalina Georgieva, verlangt bessere Zugangsmöglichkeiten für Flüchtlinge in die Europäische Union. „Wir Europäer müssen nicht nur die Herzen und die Geldbeutel offen halten, sondern auch unsere Grenzen“, sagte Georgieva der „Welt“.
Debatte in Italien: Retter und Gerettete entkriminalisieren
Indes zeigt die Diskussion in Italien konkrete Möglichkeiten auf, die die Katastrophe vom 3. Oktober mit weit über 200 Toten hätten verhindern können. Lampedusas Bürgermeitserin Guisi Nicolini wies darauf hin, dass schon drei Fischerboote an den Schiffbrüchigen vorbeigefahren seien, bevor diese verzweifelt versuchten, durch das Entzünden einer Decke auf sich aufmerksam zu machen. „Ich muss daran erinnern, dass die Gesetzgebung der letzten Jahre, dazu geführt hat, dass auch Reeder oder Fischer vor Gericht gekommen sind, die Menschenleben gerettet haben – wegen Beihilfe. Wir haben unmenschliche Gesetze“, so Bürgermeisterin Nicolini. In Italien gibt es den Straftatbestand der Beihilfe zur illegalen Einwanderung, der Fischer und andere potentielle Retter immer wieder dazu bringt, Schiffbrüchige zu ignorieren.
Auch Italiens Staatspräsident Giorgio Napolitano forderte die Politik gestern auf, Gesetze, die eine menschenwürdige Behandlung von Flüchtlingen verhinderten, zu ändern. Unter anderen forderte auch Senatspräsident Pietro Grasso, die sogenannten Bossi-Fini-Gesetze, die Flüchtlinge und deren Retter kriminalisieren, zu überprüfen, was Italiens Innenminister Angelino Alfano bislang ablehnt. Integrationsministerin Cecile Kyenge forderte, Europa müsse Flüchtlingen die sichere Einreise ermöglichen. „Wir fordern mit Nachdruck ein gemeinsames Handeln – auch gemeinsam mit der EU. Wir brauchen humanitäre Korridore, die die Fahrten sicherer machen.“
Forderungen von PRO ASYL
Neben der Abschaffung der Kriminalisierung von potentiellen Rettern fordert PRO ASYL in einer Presseerklärung ein deutliches Signal zur Abkehr von der Abschottungspolitik – auch aus Deutschland. Ob weiterhin jedes Jahr Hunderte Flüchtlinge an den Außengrenzen Europas sterben, liegt in der Macht der EU. Die Organe der Europäischen Union und ihre Mitgliedstaaten können folgende Maßnahmen ergreifen:
Europa muss gefahrenfreie Wege für Flüchtlinge eröffnen. Dies kann durch ein verändertes Visaregime geschehen, das Schutzsuchenden die legale Einreise ermöglicht. Gegenwärtig gibt es zum Beispiel immer noch keine unbürokratischen Möglichkeiten für Flüchtlinge, die Angehörige in Deutschland oder anderen EU-Staaten haben, legal in die EU einzureisen. Zudem kann Europa durch die proaktive Aufnahme von Flüchtlingen im Resettlement-Verfahren Flüchtlingen die gefährliche Überfahrt ersparen.
Europa muss die Seenotrettung verbessern. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex und auch die geplante Eurosur-Regelung haben das primäre Ziel, angeblich „illegale Einreisen“ zu verhindern. Obwohl bereits zahlreiche technische Systeme zur Ortung von Flüchtlingsbooten im Einsatz sind, hat die EU immer noch kein funktionierendes Seenotrettungssystem. Bei allen Maßnahmen der EU, die die Außengrenzen betreffen, müssen die Rettung von Menschenleben und der Flüchtlingsschutz allererste Priorität erhalten.
Das EU-Asylzuständigkeitssystem muss verändert werden. Die sogenannte Dublin-Verordnung sieht bislang vor, dass derjenige EU-Staat für ein Asylgesuch zuständig ist, über den der Asylsuchende in die EU eingereist ist. Dadurch wird die Hauptverantwortung für den Flüchtlingsschutz auf die EU-Randstaaten abgeschoben. EU-Randstaaten wie Malta, Griechenland oder Italien reagieren darauf mit einer Strategie der Abschreckung. Die Verweigerung von Seenotrettung, illegale Push-Back-Operationen, die Inhaftierung von Asylsuchenden, menschenunwürdige Aufnahmebedingungen und unfaire Asylverfahren sind Teil dieser Praxis. So sehr diese Menschenrechtsverletzungen auf das Konto der jeweiligen Nationalstaaten gehen, sind sie Folge des unsolidarischen Dublin-Systems. Die Staaten im Zentrum der Union, die am Dublin-System festhalten, sind daher für diese systematischen Menschenrechtsverletzungen mitverantwortlich. Sie müssen ihren Widerstand gegen eine grundlegende Veränderung der Asylzuständigkeitsregelung, die die Bedürfnisse der Schutzsuchenden in den Mittelpunkt stellt, endlich aufgeben. Die EU muss Verstöße gegen die Menschen- und Flüchtlingsrechte in all ihren Mitgliedstaaten konsequent unterbinden.
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