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Mit jedem Pushback stirbt ein Stück von Europas Glaubwürdigkeit
Das Mächtespiel zwischen dem belarussischen Diktator und den sich abschottenden EU-Staaten wird auf dem Rücken schutzsuchender Menschen ausgetragen. Die illegalen Zurückweisungen in Polen, Kroatien und Griechenland zerstören Europas Rechtsstaatlichkeit von innen. Ein Kommentar.
Wo sind die Kinder? Diese Frage ertönt gerade in ganz Polen. Gemeint sind die Kinder, die wie viele schutzsuchende Erwachsene auch an der Grenze zu Belarus ausharrten und schließlich von polnischen Sicherheitskräften »zurückgeleitet« wurden in die Diktatur. Zurückgeleitet klingt freundlich und höflich – das Gegenteil aber ist der Fall. De facto weist Polen Schutzsuchende in illegalen Pushbacks zurück, und das vermutlich nicht gerade zimperlich. Doch so genau weiß das niemand, denn die polnische Regierung hat die Region zum Sperrgebiet erklärt und lässt niemanden rein – weder Journalist*innen noch Menschenrechtler*innen. Vor wenigen Tagen hat das Parlament den Ausnahmezustand an der Grenze um weitere 60 Tage verlängert.
Seit Wochen harren Menschen im Grenzgebiet zwischen Polen und Belarus aus, mindestens sechs von ihnen sind bereits gestorben. Die rechtswidrigen Zurückweisungen wurden unter anderem durch Amnesty International dokumentiert. Doch Menschenrechtler*innen und Journalist*innen können solche Pushbacks noch so gut dokumentieren – sie bleiben in der Regel straflos, ob in Polen, Griechenland oder Kroatien. Mehr als rügende Worte und die Beteuerung, man sei »zutiefst besorgt« sind aus Brüssel und den Hauptstädten nicht zu hören.
Wie viele Menschen müssen noch sterben, bevor die EU entschieden einschreitet gegen die tagtägliche Verletzung der Menschenrechte an ihren Grenzen?
Was muss eigentlich noch geschehen, damit endlich etwas passiert? Wie viele Menschen müssen noch sterben, bevor die EU entschieden einschreitet gegen die tagtägliche Verletzung der Menschenrechte an ihren Grenzen? Wenn Straftaten von EU-Grenzschützern begangen werden, aber ungesühnt bleiben, wenn Hilferufe gehört, aber nicht beantwortet werden, dann bleibt vor allem eins: Ein erdrückendes Gefühl von Ohnmacht.
Wo es keine Bilder mehr gibt, gibt es auch kein Mitgefühl
Am Beispiel der Kinder wird aber noch etwas deutlich: Die Macht der Bilder. Obwohl Polen die Grenze rigoros abriegelt, gelang es Journalisten, Migrantenfamilien mit ihren Kindern zu fotografieren. Die Bilder machten die Runde, Empörung folgte. Denn wer in einzelne Gesichter sieht, erkennt den Menschen, und das weckt Empathie.
Dies hat sowohl die polnische als auch die griechische Regierung gut verstanden – und arbeitet daran, dass es folglich keine Bilder mehr gibt. Auf den griechischen Inseln verschwinden Geflüchtete aus dem Straßenbild und werden in riesige Lage gesperrt, und wenn der geplante New Pact on Migration so umgesetzt wird, wie bisher vorgesehen, werden künftig immer mehr Menschen direkt an den Außengrenzen abgefangen und de facto inhaftiert.
Die Logik dahinter ist einfach: Wo es keine Bilder mehr gibt, gibt es auch kein Mitgefühl – und demnach keine Empörung, keinen Aufschrei. Schleichend werden sich die Europäer*innen an den Gedanken gewöhnen, dass an den Grenzen unschöne Dinge vor sich gehen. Aber das ist schließlich weit weg.
Menschenrechte? Gelten nur noch, wenn es den Regierungen gerade in den Kram passt. Und so stirbt mit jedem Pushback ein Stück von Europas Glaubwürdigkeit.