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»Meine Tochter betete zu Gott, dass er die Taliban verscheucht und ihre Eltern rettet«
Den 15. August 2021 haben Simin* und Parmila* mit ihrer Arbeit für das afghanische Friedensministerium begonnen – doch schon wenige Stunden später war nichts mehr wie zuvor: Sie mussten fliehen, sich monatelang vor den Taliban verstecken, ums Überleben kämpfen. Ein Jahr danach sind sie in Deutschland und berichten.
Simin* (33) ist Teil der afghanischen Frauengruppe »United Voice of Women for Peace«, die ab 2019 das Friedensministerium in Afghanistan für die Friedensverhandlungen mit den Taliban beriet. Sie studierte Internationale Beziehungen, lehrte an Universitäten und arbeitete im Ministerium für Frieden unter anderem in der Erforschung von zivilgesellschaftlichem Engagement. Mit Ehemann und Tochter war sie zehn Monate lang auf der Flucht.
Wie haben Sie den 15. August 2021 erlebt, als die Taliban in Kabul einmarschierten und die Macht übernahmen?
Meine Tochter war krank, deshalb arbeitete ich in Kabul nicht in meinem Büro im Ministerium für Frieden, sondern zu Hause. Um 10 Uhr riefen mich Kolleginnen an und sagten, dass sie das Ministerium sofort verlassen sollten, weil die Taliban kommen. Und dann rief mein Mann an, der im Büro des Präsidenten arbeitete, und sagte, ich solle sofort mit unserer Tochter zu meinen Vater fahren, der in einem anderen Viertel in Kabul lebte – die ganze Nachbarschaft, auch die Taliban, wussten, dass wir gegen die Taliban-Ideologie arbeiteten und wo wir wohnten. Schon vorher waren wir in Lebensgefahr gewesen, und jetzt erst recht. Ich war mehr als schockiert, damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte geglaubt, dass unsere Armee und Polizei nach 20 Jahren Training unsere Hauptstadt Kabul gegen die Taliban verteidigen könnten. Noch am Tag zuvor hatten wir im Ministerium mit Menschen zusammengesessen, deren Angehörige bei Anschlägen getötet worden waren. Wir wollten ihre Stimmen in die Friedensverhandlungen mit den Taliban tragen.
Wir schrieben in so viele Länder, doch niemand reagierte! PRO ASYL machte Druck auf die deutsche Regierung und half uns so, dass wir humanitäre Visa bekamen.
Wie ist Ihre Tochter mit dieser Gefahr umgegangen?
Sie war voller Angst. Obwohl sie erst sieben war, wusste sie sofort, dass wir in großer Gefahr waren, auch, weil sie Berichte im Fernsehen gesehen hatte. Sie rief voller Panik: Ich will nicht, dass ihr getötet werdet! Sie betete zu Gott, dass er die Taliban verscheuchen und ihre Eltern retten sollte. Diese Angst meiner Tochter werde ich nie vergessen. Und sie dachte auch, dass die Taliban sie töten würden, weil sie in die Schule gegangen war. Deshalb wollte sie, dass ich ihr ein Kopftuch anlege.
Monatelang waren sie auf der Flucht, wie haben Sie das geschafft?
Bei meinem Vater konnten wir nur eine Nacht bleiben, dann flohen wir weiter zu Freunden. Zehn Monate waren wir im eigenen Land auf der Flucht, immer voller Angst, immer wieder an einem anderen Ort. Um zu überleben, mussten wir unser Haus und alles, was wir hatten, verkaufen lassen. Wir wollten nur unser Leben retten, nur in ein anders Land, egal, in welches. Wir schrieben in so viele Länder, doch niemand reagierte! PRO ASYL machte Druck auf die deutsche Regierung und half uns so, dass wir humanitäre Visa bekamen. Als wir die Grenze überschritten rief meine Tochter: Gott sei Dank, wir sind frei! Doch viele enge Verwandte sind noch immer in Afghanistan und die Taliban erhöhen den Druck auf die Familien, wenn sie wissen, dass Verwandte in den Westen geflohen sind. Jeden Tag habe ich Angst um meine Familie. Wenn sie mal nicht sofort ans Telefon gehen, denke ich, dass sie verhaftet wurden.
Parmila* (27) ist Teil der afghanischen Frauengruppe »United Voice of Women for Peace«, die ab 2019 das Friedensministerium in Afghanistan für die Friedensverhandlungen mit den Taliban beriet. Nach ihrem Studium war sie leitende Angestellte in der Abteilung für Gleichstellungsfragen im Friedensministerium und kämpfte auch in den sozialen Medien für die Rechte der Frauen. Auch ihr Mann gehört als Journalist zu den Menschen, die besonders gefährdet sind. Zusammen waren sie zehn Monate auf der Flucht in Afghanistan und im Iran.
Wie haben Sie den 15. August 2021 erlebt, als die Taliban in Kabul einmarschierten und die Macht übernahmen?
Ich war im Büro im Friedensministerium, öffnete meine Mails – und las den Aufruf: Verlasst sofort das Büro, die Taliban haben Kabul erobert! Ich dachte, jemand erlaubt sich einen Scherz, ich konnte es nicht glauben. Doch dann wurde klar, dass es stimmt. Ich habe meine Mutter gewarnt und gesagt, dass sie zu ihrer Schwester gehen soll. Dann bin ich sofort los, normalerweise brauchte ich 13 Minuten zu Fuß zu meiner Wohnung, jetzt waren die Straßen voll mit Autos und aufgeregten Menschen, alle schrien und hupten. Mein Mann und ich haben alles verlassen und sind zu Verwandten in die Provinz geflohen. Wir hatten erst vier Monate zuvor geheiratet, wir waren voller Hoffnung in ein neues Leben gestartet. Nun musste meine Mutter alles verkaufen, unser Haus, unsere Möbel, damit wir Geld hatten, um zu überleben. Wir hatten ja kein Einkommen mehr. Wir haben alles verloren.
Die Menschen in Afghanistan leben in dunklen Zeiten, doch die Welt schaut nur zu und ignoriert Afghanistan
Wie ging Ihre Flucht weiter?
Im April konnten wir in den Iran einreisen. Ich war verzweifelt, ich hätte dort jede Arbeit angenommen, wir brauchten ja Geld. Doch es wurde auch dort nicht besser. Die Menschen in den Behörden mögen die Afghanen nicht, die lachen nur über uns. Ständig guckte ich bei WhatsApp, um zu sehen, ob es neue Nachrichten über unseren Antrag auf humanitäre Visa in Deutschland gab, bei dem PRO ASYL uns unterstützte. Endlich kam der erlösende Anruf! Ich war sehr glücklich! Doch meine Familie ist weiter in Gefahr!
Wie sind Ihre Gefühle zum Jahrestag?
Der Jahrestag ist ein dunkler Tag für uns. Wir haben alles verloren und in Afghanistan sind noch Tausende in Lebensgefahr. Meine Mutter meinte zunächst, die Taliban hätten sich geändert, es seien nicht mehr dieselben wie vor 20 Jahren. Aber das stimmt leider nicht. Sie benutzen zwar das Internet, aber sie sind nicht anders als früher. Aber es scheint niemanden zu interessieren. Die Menschen in Afghanistan leben in der Dunkelheit, doch die Welt schaut nur zu und ignoriert Afghanistan. Alles dreht sich nur um den Krieg in der Ukraine.
*Namen geändert
Die Gruppe »United Voice of Women for Peace« hat sich auf Einladung von PRO ASYL in Frankfurt getroffen und in einem Appell Forderungen an die Bundesregierung und die Weltgemeinschaft formuliert: Evakuierte afghanische Frauen appellieren: Vergesst nicht die anderen!
(wr)