16.02.2023
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Ein Bild aus Syrien, 4 Tage nach dem schweren Erdbeben. Foto: UNHCR

Obdachlose Eltern, verwaiste Kinder, zerstörte Existenzen. Darunter leiden nach dem Erdbeben türkische Staatsangehörige ebenso wie Flüchtlinge. Deshalb müssen alle in Deutschland Verwandte zu sich einladen dürfen. Eine Unterscheidung nach Nationalität und Pass darf es in dieser Katastrophe nicht geben. PRO ASYL hat dazu einige Vorschläge.

Update vom 25. April 2023

Die am 25. April 2023 in Kraft getre­te­ne Tür­kei-Erd­be­ben-Auf­ent­halts-Über­gangs­ver­ord­nung sieht für bestimm­te Per­so­nen eine Befrei­ung vom Erfor­der­nis eines Auf­ent­halts­ti­tels vor. Dem­nach sind die vom Erd­be­ben betrof­fe­ne tür­ki­sche Staats­an­ge­hö­ri­gen aus den tür­ki­schen Pro­vin­zen Ada­na, Adıya­man, Diyar­bakır, Elâ­zığ, Gazi­antep, Hat­ay, Kahr­a­man­ma­raş, Kilis, Mala­tya, Osma­ni­ye und Şan­lıur­fa, die zwi­schen dem 6. Febru­ar 2023 und dem 7. Mai 2023 mit einem Visum auf Grund des Erd­be­bens in das Bun­des­ge­biet ein­ge­reist sind und sich am 7. Mai 2023 noch recht­mä­ßig im Bun­des­ge­biet auf­hal­ten, bis zum 6.8.2023 vom Erfor­der­nis eines Auf­ent­halts­ti­tels für den Auf­ent­halt im Bun­des­ge­biet befreit. Die Ertei­lung der Visa an die Betrof­fe­nen erfolgt nicht mehr priorisiert.

Ami­ra* ist ver­zwei­felt: Ihre Fami­lie – Mut­ter, Brü­der und deren Frau­en und Kin­der – ste­hen nach dem Erd­be­ben in Syri­en und der Tür­kei vor dem Nichts. »In der Tür­kei wur­de mei­ne Fami­lie obdach­los, sie haben nichts mehr, sie sind jetzt auf der Stra­ße und zie­hen von einem Ort zum ande­ren auf der Suche nach einem siche­ren Platz zum Leben. Mei­ne Fami­lie braucht drin­gend Hil­fe und Unter­stüt­zung, sonst sind sie alle in Gefahr. Die Tem­pe­ra­tur ist minus 14 Grad, der gan­ze Ort ist vol­ler Schnee. Mei­ne Mut­ter ist krank und die klei­nen Kin­der sind in Lebens­ge­fahr«, schreibt Ami­ra an PRO ASYL.

»In der Tür­kei wur­de mei­ne Fami­lie obdach­los, sie haben nichts mehr, sie sind jetzt auf der Stra­ße und zie­hen von einem Ort zum ande­ren auf der Suche nach einem siche­ren Platz zum Leben.«

Ami­ra* aus Syrien

Die jun­ge Frau aus Syri­en selbst lebt und stu­diert seit 2016 in Deutsch­land. Ihre Fami­lie war 2013 vor dem Assad-Regime aus Syri­en in die Tür­kei geflo­hen, nach­dem Vater und Bru­der gewalt­sam zu Tode gekom­men waren. Dort hat­ten sie sich als Hand­wer­ker müh­sam eine Exis­tenz auf­ge­baut – die nun vom Erd­be­ben völ­lig zer­stört wur­de. Als Flücht­lin­ge in der Tür­kei sind sie noch schlech­ter gestellt als die tür­ki­schen Erd­be­ben­op­fer, sie dür­fen sich zum Bei­spiel nicht regis­trie­ren las­sen, bekom­men des­halb kei­ne staat­li­che Hil­fe und dür­fen nicht in eine ande­re Stadt fliehen.

Erleichterungen gelten nur für türkische Staatsangehörige

Ami­ra* hört die Hil­fe­ru­fe ihrer Fami­lie – und kann doch nicht hel­fen, kann sie nicht zu sich nach Deutsch­land holen. Denn das Aus­wär­ti­ge Amt hat zwar nach dem Erd­be­ben Erleich­te­run­gen für Besuchs­vi­sa erlas­sen: Nach den neu­en Rege­lun­gen dür­fen deut­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge und Per­so­nen mit dau­er­haf­tem deut­schem Auf­ent­halts­ti­tel ihre Ange­hö­ri­gen ers­ten und zwei­ten Gra­des für  90 Tage nach Deutsch­land ein­la­den, wenn sie eine Ver­pflich­tungs­er­klä­rung unter­schrei­ben – das gilt aber nur für tür­ki­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge (mehr Infos hier) und nicht für die Zehn­tau­sen­den von Flücht­lin­gen aus Syri­en, Afgha­ni­stan und ande­ren Län­dern, die im tür­kisch-syri­schen Erd­be­ben­ge­biet auf bei­den Sei­ten der Gren­ze leben.

Des­halb grei­fen die­se Erleich­te­run­gen viel zu kurz. Eine Unter­schei­dung nach Natio­na­li­tät und Pass darf es in die­ser Kata­stro­phe nicht geben, auch den schon zuvor von Flucht, Ver­trei­bung und Not betrof­fen Schutz­su­chen­den muss Deutsch­land hel­fen. Des­halb müs­sen die deut­schen Behör­den unbü­ro­kra­ti­sche Visums­ver­fah­ren auch für Syrer*innen sowie ande­re Geflüch­te­te in der Tür­kei mit Ange­hö­ri­gen in Deutsch­land instal­lie­ren – wie für Ami­ras* Fami­lie. Das hat­te das Aus­wär­ti­ge Amt auch am 9. Febru­ar auf sei­ner Home­page noch in Aus­sicht gestellt in dem Sin­ne, dass die Visa­stel­len die schwer­wie­gen­de huma­ni­tä­re Situa­ti­on auch für syri­sche Antragsteller*innen mit Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen in Deutsch­land berück­sich­ti­gen wer­den – doch wenig spä­ter ver­schwan­den die­se For­mu­lie­run­gen wieder.

Keine Menschen ins Erdbebengebiet abschieben

Und auch die Bedin­gun­gen für die Visa für tür­ki­sche Staatsbürger*innen müs­sen deut­lich ver­bes­sert wer­den, zum Bei­spiel »Visa on arri­val«, eine Aus­wei­tung des Ver­wand­schafts­gra­des zum Bei­spiel für Nich­ten und Nef­fen, wenn die­se Wai­sen gewor­den sind, und kulan­te Rege­lun­gen bei der Höhe des Ein­kom­mens für die in Deutsch­land leben­den Verwandten.

Zudem müs­sen sich die Bun­des­län­der dar­auf eini­gen, nicht in die Tür­kei abzu­schie­ben. Bei einer Kata­stro­phe die­ses Aus­ma­ßes wer­den Mil­lio­nen in der Tür­kei eine neue Lebens­per­spek­ti­ve suchen. In so eine Situa­ti­on darf aus Deutsch­land nicht abge­scho­ben werden.

Fol­gen­de Vor­schlä­ge hat PRO ASYL an Außen­mi­nis­te­rin Anna­le­na Baer­bock und Innen­mi­nis­te­rin Nan­cy Fae­ser gesandt.

Unbürokratische Visumsverfahren auch für Syrer*innen sowie Geflüchtete in der Türkei

Vor allem in Syri­en ist die Situa­ti­on nach wie vor ver­hee­rend. Huma­ni­tä­re Hil­fe kam zu spät in die­se Gebie­te und reicht nicht aus. Zudem geht der Krieg wei­ter. Schon kurz nach dem Erd­be­ben bom­bar­dier­ten das syri­sche Regime und die Tür­kei die ohne­hin zer­stör­te Regi­on. Der Ver­weis auf das übli­che Ver­fah­ren in den umlie­gen­den Aus­lands­ver­tre­tun­gen wie die Bot­schaf­ten in Bei­rut und Amman und das Gene­ral­kon­su­lat in Istan­bul nutzt den Betrof­fe­nen nichts, da sie dort­hin nur unter wid­rigs­ten Umstän­den rei­sen kön­nen. Zudem ist es bis­her so, dass Visa für syri­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge in aller Regel wegen einer angeb­lich feh­len­den Rück­kehr­be­reit­schaft abge­lehnt werden.

Die Tür­kei ist außer­dem ein wich­ti­ges Erst­auf­nah­me- bezie­hungs­wei­se Tran­sit­land von geflüch­te­ten Men­schen – vor allem aus Syri­en und Afgha­ni­stan. Vie­le Geflüch­te­te leb­ten in den Elends­sied­lun­gen, die vom Erd­be­ben zer­stört wur­den, und hat­ten kaum die Mög­lich­keit, sich for­mell als Geflüch­te­te regis­trie­ren zu las­sen.  Die Tür­kei hat nach­weis­lich Geflüch­te­te will­kür­lich ver­haf­tet, inhaf­tiert und nach Syri­en und auch noch nach der Macht­über­nah­me der Tali­ban nach Afgha­ni­stan abgeschoben.

Die erleich­ter­ten Visare­geln müs­sen für alle glei­cher­ma­ßen gel­ten. Auch den in Deutsch­land leben­den Ange­hö­ri­gen der Flücht­lin­ge muss ermög­licht wer­den, ihre Ver­wand­ten nach den schreck­li­chen Erleb­nis­sen unbü­ro­kra­tisch nach Deutsch­land einzuladen.

Fünf Kinder verlieren ihre Eltern

Die­se sowie­so schon unhalt­ba­re Situa­ti­on hat sich mit der Natur­ka­ta­stro­phe wei­ter ver­schärft.  Das gilt für Ami­ras* Fami­lie eben­so wie für vie­le wei­te­re, deren Hil­fe­ru­fe PRO ASYL errei­chen. Zwei wei­te­re Beispiele:

  • Der 14-jäh­ri­ge Syrer Karim*, der in einer deut­schen Jugend­hil­fe­ein­rich­tung lebt, ver­lor bei dem Erd­be­ben in der Tür­kei sei­ne Eltern und Groß­el­tern. Nun sind sei­ne vier min­der­jäh­ri­gen Geschwis­ter allein in der Tür­kei, sie sind ver­letzt und müs­sen in einem Kran­ken­haus ver­sorgt wer­den. Alle ihre erwach­se­nen Ver­wand­ten sind tot und es gibt auch sonst nie­man­den, der sich in der Tür­kei um sie küm­mern könn­te, so dass die vier Kin­der sich selbst über­las­sen sind.
  • Auch Asif* aus Afgha­ni­stan, der in Deutsch­land sub­si­di­är geschützt ist, bangt um sei­ne Ver­wand­ten in der Tür­kei.  Sie hat­ten sich dort müh­sam eine klei­ne Exis­tenz mit einer Auto­werk­statt und eige­ner Woh­nung auf­ge­baut. All dies ist nun zer­stört, sie müs­sen bei minus zehn Grad im Zelt schla­fen, auch die klei­nen Kin­der im Alter von drei, fünf und sie­ben Jah­ren. Als afgha­ni­sche Flücht­lin­ge sind sie in der Tür­kei von vie­len Hil­fen aus­ge­schlos­sen und des­halb beson­ders ver­wund­bar.  Wie vie­le ande­re, hat aber auch die­se afgha­ni­sche Fami­lie Ver­wand­te in Deutsch­land, die eben­falls die Mög­lich­keit haben soll­ten, ihre Ver­wand­ten in Deutsch­land aufzunehmen.

Des­halb müs­sen die erleich­ter­ten Visare­geln für alle gleich gel­ten. Auch den in Deutsch­land leben­den Ange­hö­ri­gen der Flücht­lin­ge muss ermög­licht wer­den, ihre Ver­wand­ten unbü­ro­kra­tisch für eine gewis­se Zeit nach Deutsch­land einzuladen

Aufnahme muss länger als 90 Tage möglich sein

Dafür wer­den 90 Tage oft nicht rei­chen, weder für tür­ki­sche noch für Staatsbürger*innen ande­rer Län­der. Daher soll­ten für bestimm­te, beson­ders ver­wund­ba­re Grup­pen, ande­re Mög­lich­kei­ten gefun­den werden:

  • Momen­tan gibt es nur noch in Berlin/Brandenburg, Ham­burg, Thü­rin­gen und Schles­wig-Hol­stein Lan­des­auf­nah­me­pro­gram­me für syri­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge. Auch Ange­hö­ri­ge in ande­ren Bun­des­län­dern soll­ten die Mög­lich­keit erhal­ten, über Ver­pflich­tungs­er­klä­run­gen ihren syri­schen Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen eine Per­spek­ti­ve in Deutsch­land zu schaffen.
  • Das Bun­des­auf­nah­me­pro­gramm Afgha­ni­stan muss auch Afghan*innen, die bereits in die Tür­kei geflüch­tet sind, die Mög­lich­keit geben, sich auch außer­halb Afgha­ni­stans zu regis­trie­ren, falls sie vom Erd­be­ben betrof­fen sind.
  • Die bereits geplan­ten Lan­des­auf­nah­me­pro­gram­me für afgha­ni­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge müs­sen schnells­tens umge­setzt werden.
  • Huma­ni­tä­re Här­te­fäl­le müs­sen aner­kannt wer­den: Men­schen wie der 14-jäh­ri­ge Karim* und sei­ne ver­wais­ten Geschwis­ter müs­sen als huma­ni­tä­re Här­te­fäl­le aner­kannt wer­den. Hier gibt es zum Bei­spiel den Fami­li­en­nach­zug gemäß Para­graf 36 Abs. 2 Auf­ent­halts­ge­setz zur Ver­mei­dung einer außer­ge­wöhn­li­chen huma­ni­tä­ren Här­te. Für die Aner­ken­nung eines Här­te­falls bestehen der­zeit so hohe Anfor­de­run­gen, dass sie kaum erfüllt wer­den kön­nen. Für Über­le­ben­de der Erd­be­ben­ka­ta­stro­phe muss die im Gesetz beschrie­be­ne außer­ge­wöhn­li­che Här­te aber unbe­dingt ange­wandt wer­den. Auch muss es hier groß­zü­gi­ge Aus­nah­men von der Lebens­un­ter­halts­si­che­rung geben. Auch für die Iden­ti­täts- und Ver­wandt­schafts­nach­wei­se müs­sen die Hür­den gesenkt wer­den, da vie­le Doku­men­te unter den Trüm­mern lie­gen und der­zeit nicht neu beschafft wer­den können.

Erweiterung auch für türkische Staatsbürger*innen notwendig

Auch die bereits ange­kün­dig­ten Erleich­te­run­gen für tür­ki­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge rei­chen aus Sicht von PRO ASYL noch nicht aus:

  • Die Ein­schrän­kung der Erleich­te­run­gen auf Ver­wand­te ers­ten und zwei­ten Gra­des wie Eltern, Geschwis­ter und Enkel ist nicht umfas­send genug. Wenn zum Bei­spiel die Schwes­ter und ihr Part­ner von einer in Deutsch­land leben­den Per­son ums Leben gekom­men ist, muss die­se ihre ver­wais­ten Nich­ten und Nef­fen unbü­ro­kra­tisch nach Deutsch­land holen können.
  • Zudem muss trans­pa­rent gemacht wer­den, was die Anfor­de­rung »dau­er­haf­ter Auf­ent­halt in Deutsch­land« bedeu­tet.  So leben in Deutsch­land auch vie­le geflüch­te­te Türk*innen mit befris­te­ter Auf­ent­halts­er­laub­nis, einer Dul­dung oder Men­schen, die unter Blei­be­rechts­re­ge­lun­gen gefal­len sind. Auch sie müs­sen die Mög­lich­keit erhal­ten, unkom­pli­ziert Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge zu sich nach Deutsch­land zu holen.

Vorschläge zum Ablauf des Visumsverfahrens

Doch auch die Anfor­de­run­gen für das Visums­ver­fah­ren und das Ver­fah­ren selbst, mit dem die Men­schen ihre Ver­wand­ten nach Deutsch­land holen kön­nen,  sind zu kompliziert.

  • Um das Visums­ver­fah­ren so unbü­ro­kra­tisch wie mög­lich zu gestal­ten, soll­ten alle Ver­pflich­tungs­er­klä­run­gen zusam­men mit einer Pass­ko­pie und den erfor­der­li­chen Per­so­nal­da­ten der Ein­ge­la­de­nen in einer zen­tra­len Stel­le und durch das Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um beauf­trag­ten Stel­le, wie dem BAMF, über­mit­telt wer­den. Das BAMF wie­der­um über­mit­telt der Bun­des­po­li­zei die Daten, sodass bei Ankunft der Betrof­fe­nen »visa on arri­val« gemäß Para­graf 14 Abs. 2, Para­graf 6 Abs. 4 Auf­ent­halts­ge­setz aus­ge­stellt wer­den kön­nen, ähn­lich wie es bei den Eva­ku­ier­ten aus Afgha­ni­stan im Som­mer 2021 ange­wandt wur­de. In Aus­nah­me­fäl­len soll­te die Bun­des­po­li­zei auch Pass­ersatz­pa­pie­re aus­stel­len kön­nen, gemäß Para­graf 14 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz.
  • Ähn­lich, wie es bereits die Bun­des­län­der bei den Lan­des­auf­nah­me­pro­gram­men hand­ha­ben, soll­te auch der Bund für die Erd­be­ben­über­le­ben­den die Kos­ten für die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung über­neh­men. Denn es han­delt sich auch um eine medi­zi­ni­sche Krise.
  • Falls das monat­li­che Ein­kom­men ein wenig zu gering ist, um eine Ver­pflich­tungs­er­klä­rung zu unter­schrei­ben, soll­ten inner­halb eines Kulanz­rah­mens Aus­nah­men mög­lich gemacht werden

*Name geän­dert

(tl, wr)