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Keine Diskriminierung bei der Visavergabe: Nach dem Beben leiden alle Menschen gleich
Obdachlose Eltern, verwaiste Kinder, zerstörte Existenzen. Darunter leiden nach dem Erdbeben türkische Staatsangehörige ebenso wie Flüchtlinge. Deshalb müssen alle in Deutschland Verwandte zu sich einladen dürfen. Eine Unterscheidung nach Nationalität und Pass darf es in dieser Katastrophe nicht geben. PRO ASYL hat dazu einige Vorschläge.
Amira* ist verzweifelt: Ihre Familie – Mutter, Brüder und deren Frauen und Kinder – stehen nach dem Erdbeben in Syrien und der Türkei vor dem Nichts. »In der Türkei wurde meine Familie obdachlos, sie haben nichts mehr, sie sind jetzt auf der Straße und ziehen von einem Ort zum anderen auf der Suche nach einem sicheren Platz zum Leben. Meine Familie braucht dringend Hilfe und Unterstützung, sonst sind sie alle in Gefahr. Die Temperatur ist minus 14 Grad, der ganze Ort ist voller Schnee. Meine Mutter ist krank und die kleinen Kinder sind in Lebensgefahr«, schreibt Amira an PRO ASYL.
»In der Türkei wurde meine Familie obdachlos, sie haben nichts mehr, sie sind jetzt auf der Straße und ziehen von einem Ort zum anderen auf der Suche nach einem sicheren Platz zum Leben.«
Die junge Frau aus Syrien selbst lebt und studiert seit 2016 in Deutschland. Ihre Familie war 2013 vor dem Assad-Regime aus Syrien in die Türkei geflohen, nachdem Vater und Bruder gewaltsam zu Tode gekommen waren. Dort hatten sie sich als Handwerker mühsam eine Existenz aufgebaut – die nun vom Erdbeben völlig zerstört wurde. Als Flüchtlinge in der Türkei sind sie noch schlechter gestellt als die türkischen Erdbebenopfer, sie dürfen sich zum Beispiel nicht registrieren lassen, bekommen deshalb keine staatliche Hilfe und dürfen nicht in eine andere Stadt fliehen.
Erleichterungen gelten nur für türkische Staatsangehörige
Amira* hört die Hilferufe ihrer Familie – und kann doch nicht helfen, kann sie nicht zu sich nach Deutschland holen. Denn das Auswärtige Amt hat zwar nach dem Erdbeben Erleichterungen für Besuchsvisa erlassen: Nach den neuen Regelungen dürfen deutsche Staatsangehörige und Personen mit dauerhaftem deutschem Aufenthaltstitel ihre Angehörigen ersten und zweiten Grades für 90 Tage nach Deutschland einladen, wenn sie eine Verpflichtungserklärung unterschreiben – das gilt aber nur für türkische Staatsangehörige (mehr Infos hier) und nicht für die Zehntausenden von Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan und anderen Ländern, die im türkisch-syrischen Erdbebengebiet auf beiden Seiten der Grenze leben.
Deshalb greifen diese Erleichterungen viel zu kurz. Eine Unterscheidung nach Nationalität und Pass darf es in dieser Katastrophe nicht geben, auch den schon zuvor von Flucht, Vertreibung und Not betroffen Schutzsuchenden muss Deutschland helfen. Deshalb müssen die deutschen Behörden unbürokratische Visumsverfahren auch für Syrer*innen sowie andere Geflüchtete in der Türkei mit Angehörigen in Deutschland installieren – wie für Amiras* Familie. Das hatte das Auswärtige Amt auch am 9. Februar auf seiner Homepage noch in Aussicht gestellt in dem Sinne, dass die Visastellen die schwerwiegende humanitäre Situation auch für syrische Antragsteller*innen mit Familienangehörigen in Deutschland berücksichtigen werden – doch wenig später verschwanden diese Formulierungen wieder.
Keine Menschen ins Erdbebengebiet abschieben
Und auch die Bedingungen für die Visa für türkische Staatsbürger*innen müssen deutlich verbessert werden, zum Beispiel »Visa on arrival«, eine Ausweitung des Verwandschaftsgrades zum Beispiel für Nichten und Neffen, wenn diese Waisen geworden sind, und kulante Regelungen bei der Höhe des Einkommens für die in Deutschland lebenden Verwandten.
Zudem müssen sich die Bundesländer darauf einigen, nicht in die Türkei abzuschieben. Bei einer Katastrophe dieses Ausmaßes werden Millionen in der Türkei eine neue Lebensperspektive suchen. In so eine Situation darf aus Deutschland nicht abgeschoben werden.
Folgende Vorschläge hat PRO ASYL an Außenministerin Annalena Baerbock und Innenministerin Nancy Faeser gesandt.
Unbürokratische Visumsverfahren auch für Syrer*innen sowie Geflüchtete in der Türkei
Vor allem in Syrien ist die Situation nach wie vor verheerend. Humanitäre Hilfe kam zu spät in diese Gebiete und reicht nicht aus. Zudem geht der Krieg weiter. Schon kurz nach dem Erdbeben bombardierten das syrische Regime und die Türkei die ohnehin zerstörte Region. Der Verweis auf das übliche Verfahren in den umliegenden Auslandsvertretungen wie die Botschaften in Beirut und Amman und das Generalkonsulat in Istanbul nutzt den Betroffenen nichts, da sie dorthin nur unter widrigsten Umständen reisen können. Zudem ist es bisher so, dass Visa für syrische Staatsangehörige in aller Regel wegen einer angeblich fehlenden Rückkehrbereitschaft abgelehnt werden.
Die Türkei ist außerdem ein wichtiges Erstaufnahme- beziehungsweise Transitland von geflüchteten Menschen – vor allem aus Syrien und Afghanistan. Viele Geflüchtete lebten in den Elendssiedlungen, die vom Erdbeben zerstört wurden, und hatten kaum die Möglichkeit, sich formell als Geflüchtete registrieren zu lassen. Die Türkei hat nachweislich Geflüchtete willkürlich verhaftet, inhaftiert und nach Syrien und auch noch nach der Machtübernahme der Taliban nach Afghanistan abgeschoben.
Die erleichterten Visaregeln müssen für alle gleichermaßen gelten. Auch den in Deutschland lebenden Angehörigen der Flüchtlinge muss ermöglicht werden, ihre Verwandten nach den schrecklichen Erlebnissen unbürokratisch nach Deutschland einzuladen.
Fünf Kinder verlieren ihre Eltern
Diese sowieso schon unhaltbare Situation hat sich mit der Naturkatastrophe weiter verschärft. Das gilt für Amiras* Familie ebenso wie für viele weitere, deren Hilferufe PRO ASYL erreichen. Zwei weitere Beispiele:
- Der 14-jährige Syrer Karim*, der in einer deutschen Jugendhilfeeinrichtung lebt, verlor bei dem Erdbeben in der Türkei seine Eltern und Großeltern. Nun sind seine vier minderjährigen Geschwister allein in der Türkei, sie sind verletzt und müssen in einem Krankenhaus versorgt werden. Alle ihre erwachsenen Verwandten sind tot und es gibt auch sonst niemanden, der sich in der Türkei um sie kümmern könnte, so dass die vier Kinder sich selbst überlassen sind.
- Auch Asif* aus Afghanistan, der in Deutschland subsidiär geschützt ist, bangt um seine Verwandten in der Türkei. Sie hatten sich dort mühsam eine kleine Existenz mit einer Autowerkstatt und eigener Wohnung aufgebaut. All dies ist nun zerstört, sie müssen bei minus zehn Grad im Zelt schlafen, auch die kleinen Kinder im Alter von drei, fünf und sieben Jahren. Als afghanische Flüchtlinge sind sie in der Türkei von vielen Hilfen ausgeschlossen und deshalb besonders verwundbar. Wie viele andere, hat aber auch diese afghanische Familie Verwandte in Deutschland, die ebenfalls die Möglichkeit haben sollten, ihre Verwandten in Deutschland aufzunehmen.
Deshalb müssen die erleichterten Visaregeln für alle gleich gelten. Auch den in Deutschland lebenden Angehörigen der Flüchtlinge muss ermöglicht werden, ihre Verwandten unbürokratisch für eine gewisse Zeit nach Deutschland einzuladen
Aufnahme muss länger als 90 Tage möglich sein
Dafür werden 90 Tage oft nicht reichen, weder für türkische noch für Staatsbürger*innen anderer Länder. Daher sollten für bestimmte, besonders verwundbare Gruppen, andere Möglichkeiten gefunden werden:
- Momentan gibt es nur noch in Berlin/Brandenburg, Hamburg, Thüringen und Schleswig-Holstein Landesaufnahmeprogramme für syrische Staatsangehörige. Auch Angehörige in anderen Bundesländern sollten die Möglichkeit erhalten, über Verpflichtungserklärungen ihren syrischen Familienangehörigen eine Perspektive in Deutschland zu schaffen.
- Das Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan muss auch Afghan*innen, die bereits in die Türkei geflüchtet sind, die Möglichkeit geben, sich auch außerhalb Afghanistans zu registrieren, falls sie vom Erdbeben betroffen sind.
- Die bereits geplanten Landesaufnahmeprogramme für afghanische Staatsangehörige müssen schnellstens umgesetzt werden.
- Humanitäre Härtefälle müssen anerkannt werden: Menschen wie der 14-jährige Karim* und seine verwaisten Geschwister müssen als humanitäre Härtefälle anerkannt werden. Hier gibt es zum Beispiel den Familiennachzug gemäß Paragraf 36 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz zur Vermeidung einer außergewöhnlichen humanitären Härte. Für die Anerkennung eines Härtefalls bestehen derzeit so hohe Anforderungen, dass sie kaum erfüllt werden können. Für Überlebende der Erdbebenkatastrophe muss die im Gesetz beschriebene außergewöhnliche Härte aber unbedingt angewandt werden. Auch muss es hier großzügige Ausnahmen von der Lebensunterhaltssicherung geben. Auch für die Identitäts- und Verwandtschaftsnachweise müssen die Hürden gesenkt werden, da viele Dokumente unter den Trümmern liegen und derzeit nicht neu beschafft werden können.
Erweiterung auch für türkische Staatsbürger*innen notwendig
Auch die bereits angekündigten Erleichterungen für türkische Staatsangehörige reichen aus Sicht von PRO ASYL noch nicht aus:
- Die Einschränkung der Erleichterungen auf Verwandte ersten und zweiten Grades wie Eltern, Geschwister und Enkel ist nicht umfassend genug. Wenn zum Beispiel die Schwester und ihr Partner von einer in Deutschland lebenden Person ums Leben gekommen ist, muss diese ihre verwaisten Nichten und Neffen unbürokratisch nach Deutschland holen können.
- Zudem muss transparent gemacht werden, was die Anforderung »dauerhafter Aufenthalt in Deutschland« bedeutet. So leben in Deutschland auch viele geflüchtete Türk*innen mit befristeter Aufenthaltserlaubnis, einer Duldung oder Menschen, die unter Bleiberechtsregelungen gefallen sind. Auch sie müssen die Möglichkeit erhalten, unkompliziert Familienangehörige zu sich nach Deutschland zu holen.
Vorschläge zum Ablauf des Visumsverfahrens
Doch auch die Anforderungen für das Visumsverfahren und das Verfahren selbst, mit dem die Menschen ihre Verwandten nach Deutschland holen können, sind zu kompliziert.
- Um das Visumsverfahren so unbürokratisch wie möglich zu gestalten, sollten alle Verpflichtungserklärungen zusammen mit einer Passkopie und den erforderlichen Personaldaten der Eingeladenen in einer zentralen Stelle und durch das Bundesinnenministerium beauftragten Stelle, wie dem BAMF, übermittelt werden. Das BAMF wiederum übermittelt der Bundespolizei die Daten, sodass bei Ankunft der Betroffenen »visa on arrival« gemäß Paragraf 14 Abs. 2, Paragraf 6 Abs. 4 Aufenthaltsgesetz ausgestellt werden können, ähnlich wie es bei den Evakuierten aus Afghanistan im Sommer 2021 angewandt wurde. In Ausnahmefällen sollte die Bundespolizei auch Passersatzpapiere ausstellen können, gemäß Paragraf 14 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz.
- Ähnlich, wie es bereits die Bundesländer bei den Landesaufnahmeprogrammen handhaben, sollte auch der Bund für die Erdbebenüberlebenden die Kosten für die medizinische Versorgung übernehmen. Denn es handelt sich auch um eine medizinische Krise.
- Falls das monatliche Einkommen ein wenig zu gering ist, um eine Verpflichtungserklärung zu unterschreiben, sollten innerhalb eines Kulanzrahmens Ausnahmen möglich gemacht werden
*Name geändert
(tl, wr)