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Integration für die einen, Massenabfertigung für die anderen
Bei einem Spitzentreffen im Kanzleramt am 18. Juni 2015 haben Bundeskanzlerin Merkel und die Ministerpräsidenten der Länder einen Maßnahmenkatalog zur Flüchtlingspolitik verabschiedet. Zentral ist dabei die geplante Unterscheidung in Flüchtlinge erster und zweiter Klasse.
„Wir sind uns einig, dass unterschieden werden muss zwischen jenen, die einen Anspruch auf Schutz haben und jenen, die einen solchen Anspruch nicht haben“, erklärte Bundeskanzlerin nach dem Spitzentreffen. Während Flüchtlinge mit „günstiger Bleibeperspektive“ schneller Zugang zu Sprachkursen erhalten sollen, sollen Flüchtlinge aus Ländern mit einer „relativ hohen Anzahl von Asylsuchenden bei zugleich besonders niedriger Schutzquote“ durch Desintegration, Isolation in Großunterkünften und zeitnahe Abschiebungen abgeschreckt werden – so der gemeinsame Beschluss der Bundeskanzlerin und der Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder.
Von den Restriktionen betroffen wären zunächst vorrangig Roma aus den Westbalkanstaaten und Menschen aus verschiedenen westafrikanischen Ländern. Die unklaren Formulierungen ermöglichen es jedoch, weitere Herkunftsländer einzubeziehen. Offen ist, ab welcher statistischen Marge eine „günstige Bleibeperspektive“ angenommen werden soll. Zu befürchten ist, dass in Zukunft nach politischer Opportunität pauschal anhand des Herkunftslandes über die Zukunft von Flüchtlingen entschieden wird.
PRO ASYL hält dies für fatal. Eine Vorsortierung der Flüchtlinge etwa nach der Schutzquote ihres Herkunftslandes läuft dem Grundgedanken des Asylrechts – der individuellen Prüfung der Fluchtgründe – zuwider.
Zentrale Entscheidungszentren: Massenabfertigung statt individueller Asyl-Prüfung
Über die Asylanträge von Personen aus Ländern mit „geringer Bleibeperspektive“ soll in vier zentralen Entscheidungszentren nach Aktenlage entschieden werden. Die problematische Praxis der Trennung von Anhörer und Entscheider wird damit auf Dauer zum Prinzip. Zu vermuten ist zudem, dass unerfahrene Entscheider – bis zu 2000 neue BAMF-Mitarbeiter sollen bis 2016 eingestellt werden – in großen Entscheidungszentren tausende Ablehnungsbescheide auf der Basis von Textbausteinen produzieren, ohne die Person jemals gesehen zu haben. Das Prinzip: Massenabfertigung statt individueller Prüfung.
Sonderlager und Abschiebung innerhalb von drei Monaten
Flüchtlinge aus Ländern mit geringer „Bleibeperspektive“ sollen zudem nicht mehr auf die Kommunen verteilt werden. Sie würden dann in großen Erstaufnahmeeinrichtungen (EAE) verbleiben und sollen innerhalb von drei Monaten von dort aus abgeschoben werden.
Da die Kapazitäten der EAE’s hierfür nicht ausreichen, werden wohl Außenstellen als Satelliten der EAE’s errichtet werden – in der Vergangenheit waren dies unter anderem ehemaligen Möbelhäuser, Turn- und Lagerhallen. Dort würden Roma, Westafrikaner und andere unliebsame Flüchtlingsgruppen unter prekären Bedingungen leben. Hierdurch droht nicht nur eine zusätzliche rassistische Stigmatisierung, auch eine individuelle Beratung sowie Hilfen für vulnerable Gruppen wie Kinder, Schwangere und Traumatisierte würden erheblich erschwert.
Die Länder haben sich zudem verpflichtet, nach einer Ablehnung zeitnahe Abschiebungen durchzuführen und hierfür ggf. mehr Personal einzustellen, der Bund will sie dabei unterstützen. Mehr Sammelabschiebungen werden die Folge sein.
Halbherzig: Öffnung von Sprachkursen, Duldung für Azubis und optionale Gesundheitskarte
Bisher können Asylsuchende und geduldete Flüchtlinge nicht an den Integrationskursen teilnehmen. Die Kurse sollen nun für Personen mit „guter Bleibeperspektive“ geöffnet werden – sie sollen 300 Stunden Unterricht erhalten. Zudem soll geprüft werden, ob berufsbezogene Deutschkurse (so genannte ESF-BAMF Kurse) aufgestockt werden können, um mehr Flüchtlingen die Teilnahme zu ermöglichen.
Geduldete Flüchtlinge, die sich in einer Berufsausbildung befinden, sollen eine jeweils einjährige Duldung erhalten und damit vor der Abschiebung geschützt sein. Wer 21 Jahre und älter ist soll jedoch – Stand jetzt – außen vor bleiben. Dies geht aus dem aktuellen Entwurf des Gesetzes zu Bleiberecht und Aufenthaltsbeendigung hervor, welches im Juli verabschiedet werden soll. Die geplante Regelung ist fatal: Durch Krieg und Flucht bestehen oft große Lücken im Bildungsverlauf, den Übergang von Schule in Ausbildung erreichen viele daher erst mit 21 Jahren und älter.
Bisher müssen Asylsuchende vor einer Krankenbehandlung einen Antrag beim Sozialamt stellen: Gesundheitsgefährdende Verzögerungen und sachunkundige Ablehnungen sind die Folge. Die Einführung von Gesundheitskarten könnte dieses Problem mildern. Nun wurde vereinbart, dass jedes Bundesland zwischen Krankenscheinen oder Gesundheitskarten entscheiden kann – dies war jedoch bereits vorab möglich, Bremen und Hamburg haben die Karte bereits eingeführt.
Kosovo, Montenegro, Albanien: Bald sichere Herkunftsländer?
Nachdem man bereits im letzten Jahr Bosnien und Herzegowina, Mazedonien und Serbien ohne ausreichende Prüfung der menschenrechtlichen Verhältnisse auf die Liste der sogenannten „sicheren Herkunftsstaaten“ gesetzt hat, soll nun geprüft werden ob dies mit Montenegro, Kosovo und Albanien ebenfalls geschehen kann. PRO ASYL lehnt eine Ausweitung der Liste sicherer Herkunftsländer ab.
Umbau des Flüchtlingsrechts durch die Hintertür
Die Beschlüsse sind ein weiterer Schritt zu einem Umbau des Flüchtlingsrechts durch die Hintertür. An die Stelle einer individuellen Prüfung tritt eine Prognose anhand des Herkunftslandes. In vielen Fällen droht, dass die Betroffenen kein faires Asylverfahren erhalten werden und ihre Integration verhindert wird, obwohl viele von ihnen am Ende lange oder auf Dauer in Deutschland bleiben.
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Bund-Länder-Spitzengespräch zur Flüchtlingspolitik (10.06.15)