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Griechische Abschreckungspolitik: Von der schützenden Wohnung zurück ins Lager

Während in Griechenland Weihnachten gefeiert wurde, mussten Hunderte Flüchtlinge ihre Wohnungen, vertraute Nachbarschaften, Schulen und Jobs verlassen und in kalte Lager-Container ziehen, darunter kleine Kinder und kranke Menschen. Refugee Support Aegean, Partnerorganisation von PRO ASYL, hat mit Betroffenen gesprochen.
Obwohl die Europäische Kommission das Notfallprogramm zur Integration und Unterbringung (ESTIA II) für vulnerable Asylsuchende weiterhin finanzieren wollte, hat die griechische Regierung darauf bestanden, das Programm zu beenden. Zivilgesellschaftliche Organisationen, Lehrkräfte und Flüchtlinge haben ihr Entsetzen über diesen Rückschritt bei Schutz und Integration ausgedrückt und fordern eine Fortsetzung des Wohnungsprogramms.
Wohn-Programm sollte Schutz und Sicherheit bieten
Hunderte Familien wurden bereits von ihren Wohnungen in Flüchtlingscamps zurückgeschickt oder warten auf die Zwangsräumung und Überstellung dorthin. Tausende Menschen sind bereits von Räumungen oder Überstellungen in Camps betroffen, seitdem die Regierung im Februar 2022 das Ende des ESTIA-Programms bekannt gegeben hatte, als mit diesem noch etwa 12.500 Menschen eine Wohnung hatten.
ESTIA steht für Emergency Support to Integration and Accommodation. Ziel war, besonders schutzbedürftige Flüchtlinge wie Kinder, Kranke, Alleinerziehende und geschlechtsspezifisch Verfolgte, die noch im Asylverfahren sind, aus den Lagern mit ihren oft katastrophalen Lebensbedingungen herauszuholen und in Wohnungen unterzubringen.
Umfassende Abschreckungspolitik der griechischen Regierung
Geflüchtete berichten, dass sie nur kurz und mündlich über ihren erzwungenen Umzug in die Flüchtlingslager informiert wurden, oft sogar, ohne den genauen Ort anzugeben. Plötzlich mussten Kinder ihre Schulen und Freund*innen verlassen, Erwachsene ihre Sprach- und Berufskurse, Personen mit Gesundheitsproblemen mussten ihre Behandlung unterbrechen. Diejenigen, die Gelegenheitsarbeiten gefunden hatten, mussten weit wegziehen von ihren Arbeitsmöglichkeiten.
Die Entscheidung der griechischen Regierung, ESTIA II zu beenden, kann als Teil einer umfassenderen Abschreckungspolitik verstanden werden, die darauf abzielt, Asylsuchende in kontrollierten und abgeschiedenen Lagern zu isolieren. Diese Entscheidung steht in derselben Reihe mit der Beendigung des Unterbringungsprogramms FILOXENIA in Hotels, der schrittweisen Einstellung der alternativen Unterbringung auf den Inseln und der Schließung von Lagern in der Nähe von städtischen Gebieten wie Skaramangas und Eleonas in der Region Attika.
Kinder leben hinter Betonwänden und Stacheldraht
Nun sind staatliche Unterstützungen nur noch für Geflüchtete zugänglich, die in Lagern leben, verborgen hinter drei Meter hohen Betonwänden und Stacheldraht. Seit der Einführung von HYPERION, einem umstrittenen Überwachungssystem, das derzeit von der griechischen Datenschutzbehörde überprüft wird, werden die Camp-Tore von privaten Sicherheitsleuten kontrolliert. Kameras wurden installiert und die Bewohner*innen müssen sich ausweisen, um eintreten zu können. Camps, die früher als »offene temporäre Aufnahmeeinrichtungen« bekannt waren, werden seit 2021 offiziell als »kontrollierte temporäre Unterkünfte für Asylbewerber« bezeichnet. Die Unterbringung in diesen Lagern ist inzwischen die einzige Möglichkeit und zugleich Bedingung für Asylsuchende während ihres Asylverfahrens.
Personal in Lagern wird reduziert
Ende November teilte die Internationale Organisation für Migration (IOM) ihren Mitarbeitenden mit, dass sie 60 Prozent des Personals, das in den Camps im Rahmen des Programms Harmonizing Protection Practices in Greece (HARP) arbeitet, bis Ende 2022 entlassen und damit die Unterstützung für die am stärksten gefährdeten Personen drastisch einschränken werde. Die betroffenen Mitarbeitenden protestierten und streikten.
Nach Angaben der Beschäftigten kam die Ankündigung überraschend. Sie befürchten, dass die Entscheidung, die Unterstützung in den Camps zu verringern, die Bedürfnisse und das Wohl der beträchtlichen Anzahl der Bewohner*innen nicht berücksichtigt. Sie kritisieren zudem, dass es keinen Übergangsplan gibt, der die Fallbetreuung und Übergabe regelt, bis die Betreuung durch die Regierung übernommen wird. Stattdessen werden die Menschen in den Lagern plötzlich mit weniger rechtlicher, sozialer und psychologischer Betreuung zurückgelassen.
Anfang Dezember 2022 haben sich zehn Menschenrechtsorganisationen, darunter Refugee Support Aegean (RSA), an das griechische Ministerium für Migration und Asyl gewandt, um ihre große Besorgnis in Bezug auf die Beendigung von ESTIA II und die Verlegung der vulnerablen Asylbewerber in die Camps zum Ausdruck zu bringen. Die Organisationen wiesen auf die von der Ombudsstelle bereits zuvor geäußerten schwerwiegenden Bedenken hin und forderten den Staat auf, das Programm ESTIA II weiterhin zu finanzieren.
RSA hat exemplarisch die Geschichten von vier Betroffenen und ihren Familien zusammengetragen:
»Wenn meine Töchter das Wort »Lager« hören, haben sie Angst und Schrecken in den Augen. Wir verbrachten acht Monate im »Dschungel« von Moria auf Lesbos, als wir nach Griechenland kamen. Wir mussten den ganzen Tag und die ganze Nacht vorsichtig sein, um nicht in eine Schlägerei zu geraten und verletzt zu werden.«
Salim* und seine drei jungen Töchter (5, 12 und 14 Jahre alt) stammen aus Afghanistan. Die Familie ist seit 2019 in Griechenland und wurde nach mehreren Monaten in Moria aufgrund ihrer Vulnerabilität in eine ESTIA-Wohnung verlegt. Der Vater war in der Vergangenheit Opfer einer Bombenexplosion geworden und leidet noch immer an diesen Verletzungen. Die jüngere Tochter leidet unter einer schweren Hörbeeinträchtigung und braucht regelmäßige medizinische Betreuung.
Der Vater und die Kinder warten auf ihre Familienzusammenführung mit der Ehefrau und Mutter. Nachdem sie fast zwei Jahre in einer Wohnung des ESTIA-Wohnungsprogramms leben konnten, wurde ihnen kürzlich mitgeteilt, dass sie innerhalb einer Woche erneut in ein Lager verlegt werden sollen.
Salim sagt: »Meine Töchter besuchten die öffentliche Schule in unserer Nachbarschaft. Sie haben Freunde gefunden und Bindungen aufgebaut. Sie besuchen nachmittags Sprachkurse und Sportvereine. Meine jüngere Tochter muss sich regelmäßig zum Arzt. Ich suche Arbeit in Athen. Jetzt sollen wir in ein Lager weit außerhalb der Stadt ziehen. Wir wissen nicht einmal, in welches Lager wir gehen werden. Freunde, die bereits in ein Lager umgesiedelt wurden, haben uns erzählt, dass sie jetzt in einem Container leben und um sie herum Mauern und Zäune stehen. Wie können meine Kinder jetzt in einen solchen Käfig ziehen?
Als ihr Vater fühle ich mich hoffnungslos, weil ich nichts tun kann, damit sie hier bleiben können, wo sie sich frei fühlen. Ich habe Angst, dass sie im Lager depressiv werden. Ich habe Angst, weit weg von Krankenhäusern zu sein. Ich fürchte mich davor, noch einmal der Unsicherheit des Lebens im Lager ausgesetzt zu sein. Ich habe Verletzungen erlitten, die meine Fähigkeiten stark einschränken, bevor ich nach Griechenland kam. Ich kann keine schweren Gewichte heben oder lange Strecken zu Fuß gehen. Wie werden wir an einem Ort weit weg von der Stadt zurechtkommen? Wie sollen wir die Transportkosten zu den Krankenhäusern bezahlen?«
»[…] Als ihr Vater fühle ich mich hoffnungslos, weil ich nichts tun kann, damit sie hier bleiben können, wo sie sich frei fühlen. Ich habe Angst, dass sie im Lager depressiv werden […]«
»Als ich vor einem Monat in das Lager verlegt wurde, hatte ich das Gefühl, dass man mich dort abgeladen hat. In der Umgebung des Lagers gibt es nichts. Um das Lager zu betreten und zu verlassen, muss man seine Papiere vorzeigen. Das Lager ist von Mauern umgeben. Ich fühle mich eingesperrt, obwohl ich nach draußen gehen darf. Meine Ärzte rieten mir, spazieren zu gehen und Leute zu treffen, um Kontakte zu knüpfen. Sie sagten, wenn ich mehr über meine Probleme sprechen würde, würde es mir besser gehen. Aber das ist hier nicht möglich. Es ist schwer für mich, Fremden zu vertrauen. Ich habe schon sehr schlechte Erfahrungen mit Menschen in den Lagern gemacht. Ich habe Angst, allein an Orte zu gehen, an denen niemand ist, und ich habe Angst vor Menschenmassen. Dieser Ort erinnert mich an furchtbare Dinge.«
Der 21-jährige Adellard* aus der Demokratischen Republik Kongo hat sowohl in seinem Herkunftsland als auch in Griechenland schwere geschlechtsspezifische Gewalt erlitten und ist in psychologischer Betreuung. Er leidet unter mehreren Traumata und benötigt regelmäßige Nachsorge. Wegen seines psychischen Zustands war er kaum in der Lage, bei seiner Anhörung im Asylverfahren über seine Lebensumstände zu berichten. Er verbrachte anderthalb Jahre auf Lesbos, davon mehrere Monate im berüchtigten Lager Moria, wo er Opfer eines schweren Übergriffs wurde. Erst danach wurde er nach Athen in eine ESTIA-Wohnung verlegt. Die Zeit, die er in der Wohnung in Athen verbrachte, hatte ihm ein Gefühl der Sicherheit gegeben.
Er sagt: »Ich vermisse meine Wohnung. Ich fühle mich hier einsam und verängstigt. In Athen habe ich meinen Partner, ich habe meine Ärzte und meinen Anwalt, ich hatte einen sicheren Ort. Um von hier aus nach Athen zu fahren, muss ich 30 Minuten bis zum nächsten Busbahnhof laufen und dann mehr als eine Stunde mit dem Bus fahren. Für jede Fahrt muss ich 6,10 Euro bezahlen. Die Busse fahren nicht oft nach Athen. Ich erhalte 70 Euro Taschengeld im Monat, also ist es ein Luxus, nach Athen zu fahren, den ich mir nicht oft leisten kann. Und für meinen Partner ist es ebenfalls schwierig, mich hier zu besuchen. Ich habe viele Arzttermine in Athen, manchmal drei pro Woche, und es ist wirklich schwer, sie wahrzunehmen. Ich habe mich auch für Griechisch-Kurse in Athen angemeldet, aber ich kann nicht mehr hingehen. Im Lager habe ich dreimal versucht, an einem Kurs teilzunehmen, aber es war niemand da. Da ich fast keine Möglichkeit habe, irgendwohin zu gehen, bin ich gezwungen, die meiste Zeit im Lager und weit weg von meinen Freunden zu bleiben. Seit ich im Lager bin, denke ich die ganze Zeit nach. Meine psychische Situation hat sich verschlechtert.«
Adellards* Verlegung zurück in ein Lager hat ihn erneut traumatisiert. Der junge Mann musste von seiner Wohnung in der Stadt zurück in einen Container in einem Lager außerhalb Athens ziehen, wo er mit Hunderten von anderen Flüchtlingen verschiedener Nationalitäten lebt. Als er dort ankam, war noch nichts fertig, sagt er: »Der Container war schmutzig und es gab nicht genügend Betten darin. Die Heizung funktionierte nicht richtig und es war sehr kalt. Am ersten Tag war die Kälte unerträglich. Sie gaben uns anfangs nur Bettzeug und keine Decken. Wir haben viele Tage gebraucht, um den Container richtig zu reinigen. Das Essen, das wir bekommen, ist kaum genießbar. Ich leide oft an Magenschmerzen.«
»[…]Als ich vor einem Monat in das Lager verlegt wurde, hatte ich das Gefühl, dass man mich dort abgeladen hat[…]«
»Uns wurde gesagt, dass wir das Haus, in dem wir vier Jahre lang gelebt haben, verlassen müssen. Erst eine Woche vor der Verlegung in das Lager wurde uns der genaue Ort mitgeteilt. Das ist nicht nur ein Rückschritt für meine Tochter und mich, es ist, als würde man einen jungen Baum entwurzeln, der gerade erst Kraft zum Wachsen gefunden hat. Das Haus war unser Zuhause und der einzige Ort, an dem sich meine Tochter sicher fühlte. Sie ist dort drei Jahre lang zur Schule gegangen. Sie ging wöchentlich zu ihrem Psychologen im Zentrum von Athen. Außerdem befindet sich unser Anwalt in der Nähe unseres Hauses. Wir wussten nur, dass wir keine andere Wahl hatten und dass wir von nun an weit weg von unserem Zuhause, unserer Nachbarschaft, unseren Freunden und jedem Ort sein würden, an dem wir endlich etwas Unterstützung gefunden hatten. Wir wurden jeglicher Chance auf Heilung und Integration beraubt«, sagt Parwan*, ein alleinerziehender Vater eines zwölfjährigen Mädchens aus Afghanistan, der auf die Familienzusammenführung mit seiner Frau und seinen beiden kleinen Kindern wartet, die in Deutschland leben.
Es ist vier Jahre her, dass sie in Griechenland angekommen ist. Seit einem Monat leben sie in einem Flüchtlingslager, eine Autostunde von Athen entfernt. »Die meiste Zeit verbringen wir im Container, innerhalb des eingezäunten Lagergeländes. Für eine Zugfahrt nach Athen und zurück müssen wir etwa 10 Euro pro Person ausgeben. Ich habe gehört, dass unser Geld gekürzt wird, da wir innerhalb des Lagers Essen erhalten. Ich fühle mich hier gefangen. Tag für Tag werden mehr Menschen in das Lager gebracht. Jetzt teilen wir uns einen Container mit einer anderen Familie. Wir stehen Schlange für Waschmaschinen, für Lebensmittel, für Ärzte und Sozialarbeiter. Diese Warteschlangen erinnern mich an unsere ersten Tage in Griechenland.«
»[…] Wir wurden jeglicher Chance auf Heilung und Integration beraubt […]«
»Wir lebten etwa zwei Jahre lang in der Wohnung in Athen. Dann wurde uns plötzlich mitgeteilt, dass wir innerhalb von zwei Tagen in ein Lager verlegt werden sollten. Man sagte uns, wir hätten keine andere Wahl. Jetzt sind wir in dem Lager. Wir müssen wieder bei Null anfangen.«
Shabnam* aus Afghanistan ist Mutter von zwei Mädchen im Alter von drei und sieben Jahren. Sie kam vor vier Jahren zusammen mit ihrem Mann und ihren Kindern nach Griechenland. Nachdem ihr Asylantrag endgültig abgelehnt worden war, stellte die Familie einen Folgeantrag. Die Familie kam ursprünglich auf der Insel Samos an, wo sie fünf Monate lang in einem Zelt im so genannten Dschungel des Lagers lebte. Von dort wurden sie in drei verschiedene Hotels verlegt, wo sie insgesamt eineinhalb Jahre verbrachten, bevor sie schließlich in eine ESTIA-Wohnung in Athen ziehen konnten.
»Als wir die Wohnung in Athen bekamen, war das ein gutes Gefühl. Wir hatten das Gefühl, dass wir uns einrichten konnten. Wir hatten unser eigenes Zuhause. Unsere älteste Tochter begann dort zur Schule zu gehen. Sie fand Freunde. Ich meldete mich zu Sprachkursen an. Mein Mann hat auch gelegentlich Arbeit gefunden.«
Als Bewohner eines Lagers macht sich ihr Mann vor allem Sorgen wegen der Entfernung zu Krankenhäusern. »Es dauert Stunden, bis ein Krankenwagen hier eintrifft, wenn es einen Notfall gibt. Für Arzttermine müssen wir die Kosten für die öffentlichen Verkehrsmittel selbst tragen und wir fahren ohne Übersetzer. Ein Arzttermin ohne Übersetzer ist aber wie kein Termin.«
»[…] Man sagte uns, wir hätten keine andere Wahl. Jetzt sind wir in dem Lager. Wir müssen wieder bei Null anfangen […]«
Dieser Text ist eine überarbeitete Übersetzung eines Artikels, der von unserer griechischen Partnerorganisation Refugee Support Aegean (RSA) publiziert wurde.
(jo/wr)