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Griechenland: Kinder systematisch hinter Gittern
Wegen fehlender Unterbringungsplätze harren hunderte unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in »protective custody« oder den Hotspots auf den griechischen Inseln aus, andere befinden sich in Elendslagern auf dem Festland. Selbstverletzungen und Selbstmordversuche nehmen zu. Salinia Stroux & Chrissi Wilkens vom PRO ASYL – RSPA-Projekt berichten.
Kinder und Jugendliche allein auf der Flucht
Mehr als 38% der Flüchtlinge (Stand 24. August 2016), die seit der Schließung des Balkankorridors in Griechenland festsitzen, sind Kinder. Sie kommen in der großen Mehrheit aus Afghanistan, Syrien und dem Irak. 3.256 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) registrierten die griechischen Behörden von Anfang des Jahres bis zum 11. August 2016.
Die meisten wurden nach dem 20. März erfasst, denn bis zum EU-Türkei-Deal blieben viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge unbemerkt. Jahrelang hatten Kinder im Transit in Griechenland vermieden, sich als minderjährig registrieren zu lassen, um die sogenannte »protective custody« zu vermeiden.
Mit den drohenden Rückführungen in die Türkei auf Grundlage des EU-Türkei-Deals gaben immer mehr in Griechenland ankommende unbegleitete Minderjährige ihr tatsächliches Alter an, um als besonders verletzliche und schutzbedürftige Gruppe vor der Abschiebung geschützt zu sein.
»In Moria waren wir in einem Käfig eingesperrt, den Polizisten bewachten. Als ob wir Schwerverbrecher wären.«
Fehlende Aufnahmestrukturen
Es fehlt in Griechenland weiterhin an der notwendigen Aufnahmestruktur. Laut Angaben einer Agentur des Sozialministeriums (EKKA) gab es am 11. August 2016 bei einem Stand von 1.472 Anträgen Minderjähriger auf Unterbringung (davon 229 von Kindern unter 14 Jahren) nur 778 verfügbare Plätze in den insgesamt 19 Unterkünften und 13 Transitunterkünften – ein seit einer Dekade fast unveränderter Zustand.
346 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge befinden sich nach Angaben von EKKA zurzeit in sogenannter »protective custody«, davon 311 in Hot Spots auf den Inseln und 35 in Polizeizellen. 918 weitere leben ungeschützt mit Erwachsenen in Massenlagern auf dem Festland (499) oder sind teilweise obdachlos (419 an unbekannten Orten).
Das Ziel der griechischen Regierung, in dem nach wie vor krisengeschüttelten Land bis Juli 2016 600 neue Unterbringungsplätze zu schaffen, ist Anfang September nach wie vor nicht erreicht.
In einigen Unterkünften für UMFs sind die Standards darüber hinaus so schlecht, dass Minderjährige es vorziehen, in Hot Spots oder gar in Obdachlosigkeit zu leben. So kehrten Jugendliche, deren Fälle Mitarbeiterinnen des PRO ASYL-Projektes Refugee Support Program Aegean (RSPA) begleiten, freiwillig zurück auf die Straßen Athens, in die Massenlager und sogar in die Hot Spots auf den Inseln, weil die das kleinere Übel seien.
Kinder und Jugendliche in Haft
Der griechische Ombudsmann für Kinder forderte in einem Schreiben an den Migrationsminister Giannis Mouzalas vom 28. März 2016 erneut, die Haft von Minderjährigen mit allen Mitteln zu verhindern. Am 7. Juni erhielten die Staatsanwälte von Athen und Thessaloniki eine Anweisung vom höchsten Gerichtshof, die »protective custody« von minderjährigen Flüchtlingen zu vermeiden.
Dennoch werden in ganz Griechenland Kinder und Jugendliche, die alleine auf der Flucht sind, bis heute systematisch inhaftiert – dies zeigt auch ein aktueller Bericht von Human Rights Watch.
M. (15) aus Syrien, der in einem Heim für unbegleitete Minderjährige auf Lesbos untergebracht ist, will so schnell wie möglich zu seiner Familie nach Deutschland. Im Hot Spot auf der Insel sei das Leben unerträglich gewesen: »In Moria waren wir in einem Käfig eingesperrt, den Polizisten bewachten. Als ob wir Schwerverbrecher wären.«
R. (11) aus Afghanistan floh nach 4 Monaten heimlich aus dem Hot Spot »Vial« aufs Festland. Jetzt bestehen die Behörden auf seine Rückkehr auf die Insel – als Voraussetzung für die Einleitung jeglicher Verfahren. In Deutschland wartet derweil seine Tante auf ihn.
Kein Zugang zu Asyl, Familienzusammenführung und Relocation auf den Inseln
Das europäische Netzwerk für Ombudsmänner für Kinder (ENOC) veröffentlichte am 5. April 2016 ein Positionspapier, in dem es ernsthafte Bedenken hinsichtlich des Türkei-Deals äußert und fordert, dass unbegleitete Minderjährige in großer Zahl an den Umsiedlungsprogrammen (Relocation) beteiligt werden sollen. Tatsächlich bleiben fast alle Minderjährigen in den Hot Spots monatelang ohne Zugang zu einem Asylverfahren. Relocation ist als Option auf den Ägäis-Inseln schon längst abgeschafft.
Doch legal kann kaum jemand die Inseln verlassen. R. (11) aus Afghanistan hielt es im Hot Spot »Vial« auf Chios nach vier Monaten nicht länger aus und floh heimlich aufs Festland, während sein Bruder zurückblieb. Jetzt bestehen die Behörden auf seine Rückkehr auf die Insel – als Voraussetzung für die Einleitung jeglicher Verfahren. In Deutschland wartet derweil ihre Tante auf die Brüder.
Haft in Folge von Protesten in den Hot Spots
Nach dem 20. März stieg nicht nur die Zahl der neuankommenden Minderjährigen, auch ihre Haftdauer verlängerte sich. So kam es in den Hot Spots auf Lesbos und Leros im April, Juni und Juli wiederholt zu Protesten. Die Minderjährigen protestierten vor allem gegen die Haft und forderten ihre Freilassung. Immer wieder reagierte die Polizei mit Gewalt, einige wurden in den Polizeizellen der Inseln oder in den Abschiebelagern Amygdaleza und Petrou Ralli auf dem Festland inhaftiert.
Sichere und legale Wege statt Gefängnis!
PRO ASYL weist seit Jahren darauf hin, dass unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Griechenland aufgenommen, altersgerecht untergebracht und versorgt werden müssen. Auch Europa steht hier in der Verantwortung und muss Griechenland mit allen verfügbaren Mitteln unterstützen.
Ankommenden Schutzsuchenden muss die Weiterreise in andere europäische Staaten ermöglicht werden – dafür müssen sichere und legale Wege eröffnet werden, vor allem über die Familienzusammenführung mit Angehörigen und die Einlösung der Zusagen im Rahmen des europäischen Relocation-Programms.