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»Gerade herrscht in Afghanistan Gender-Apartheid, das kann doch im Jahr 2023 nicht wahr sein!«

Seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 hat sich die politische Situation in Afghanistan in Windeseile verändert. Vor allem Frauen werden seither entrechtet und unterdrückt. PRO ASYL hat mit der afghanischen Künstlerin und Aktivistin Sara Nabil über das Aufwachsen in Afghanistan, ihre Arbeit und das Leben im Exil gesprochen.
Günter Burkhardt (Geschäftsführer PRO ASYL): Sara, du lebst seit fast acht Jahren in Frankfurt, aber du beschäftigst dich natürlich trotzdem mit der Situation in Afghanistan. Vor allem über deine politische Kunst mit glasklaren Botschaften. Was ist deine Hauptforderung an die Politik?
Sara Nabil (Künstlerin und Aktivistin aus Afghanistan): Wir müssen den Menschen zuhören und ihnen Hilfe geben. Das möchte ich über meinen Aktivismus und über meine Kunst vermitteln. Menschen sind keine Waren! Menschenrechte sollten nicht als politische Interessen angesehen werden, vielmehr sollte die Politik aufhören, mit dem Schicksal der Menschen für ihre eigenen Interessen zu spielen. Meine Kunstwerke sprechen von der Situation der Menschen und besonders von Frauen in Afghanistan und von dem, was die Menschen in dem Land brauchen. Ich glaube, die Forderung ist ganz klar.
»Menschen sind keine Waren«
Du bist in Afghanistan aufgewachsen. Dort ist vor allem in den Großstädten eine Generation herangewachsen, die für Menschenrechte steht. Für Frauenrechte, für Demokratie. All das, wovon heute nichts mehr zu sehen ist.
Ja, es ist sehr traurig, was man heutzutage in Afghanistan sieht. Ich gehöre zu den Leuten, die in den letzten 20 Jahren Möglichkeiten hatten. Wir hatten nach 1979 eine schlechte Zeit, zuerst war Russland in Afghanistan, danach die Mudschaheddin und die Taliban. Aber für uns gab es jetzt Chancen und Möglichkeiten. Zur Schule zu gehen, zur Uni zu gehen, sich zu entwickeln und für Menschenrechte einzusetzen. Aber wir haben gesehen, dass innerhalb von einem Tag alles zerbrechen kann. Jetzt leiden 35 Millionen Leute und man findet das vorherige Wertesystem nicht wieder. Die Taliban glauben überhaupt nicht an Menschenrechte, man sieht jeden Tag die schlimmsten Sachen. Das kann man sich überhaupt nicht vorstellen.
Was hast du in Afghanistan gemacht? Wie sah dein Leben aus und woher kommt dein Einsatz für Menschen- und Frauenrechte?
Meine Mutter war in ihrer Zeit Aktivistin und hat für ihre Werte gekämpft. Ich bin 1994 geboren, in einer ganz schlimmen Zeit in Afghanistan. Aber trotzdem habe ich von meiner Mutter gelernt und geerbt, dass ich mich für die Menschenrechte einsetze.
Ich habe das schlimmste und brutalste Regime erlebt. Ich habe Leichen gesehen, die in den Bäumen hingen oder die abgehackte Hände hatten. Das sind meine Erinnerungen, das war meine Kindheit, das war unser Alltag. Und meine Mutter war eine gut gebildete Frau, aber sie war wie im Gefängnis in ihrem eigenen Haus, das sie nicht alleine verlassen konnte. Als Kind habe ich mir die Frage gestellt: »Warum ist das so«? Ich habe immer einen Weg gesucht, um die Situation ändern zu können. Schon als Kind, mit sechs Jahren.
Glücklicherweise gab es 2001 Änderungen in Afghanistan. Danach habe ich die Möglichkeit gehabt, zur Schule zu gehen und ich habe mit der Kunst angefangen. Es war natürlich auch damals nicht immer so, dass du ganz klar sagen konntest, was du denkst. Es gab keine Pressefreiheit oder Meinungsfreiheit in Afghanistan. Also habe ich einen Weg gefunden, dass ich indirekt etwas sagen kann. Ich habe die Kunst gefunden und ich habe mich dadurch ausdrücken können. Ganz klar ausdrücken können.
Mein Einsatz kommt auch daher, dass ich selbst stark betroffen bin. Meine Rechte wurden in dieser Gesellschaft immer verletzt. Als Kind und speziell als Frau. Ich wollte nicht in dieser Opferrolle sein, sondern eine Stimme für Frauen und für Menschen mit dem gleichen Schicksal sein.
Bilderserie »Power 2014- 2022« von Sara Nabil.
Aus deutscher Perspektive haben wir kaum wahrgenommen, dass in Afghanistan eine solche demokratisch orientierte Gruppe gewachsen ist. Dass es eine moderne Verfassung gab, die Frauenrechte garantiert. Dass es eine eigene Staatsanwaltschaft gab, die gegen Verbrechen an Frauen vorging. Wie geht es den Menschen jetzt, die, wie du, in Afghanistan an eine Gesellschaft der Freiheit und Demokratie geglaubt haben?
Das ist sehr traurig. All diese Leute, die sind jetzt raus aus Afghanistan. Zumindest 80 % von ihnen. Das ganze Potenzial, das sich in den 20 Jahren im Land entwickelt hat, ist weg. Es war einfach eine zu große Gefahr für sie in Afghanistan. Das Regime ist zu brutal. Und deshalb sieht man auch so wenige Proteste. Ich werde oft gefragt, warum nicht ähnliches passiert wie im Iran momentan. Aber es ist leider nicht das gleiche – wir können daraus viel lernen, aber wir können es nicht vergleichen.
Wo ist denn der Unterschied?
Die beiden Länder sind nicht vergleichbar, denn in Afghanistan war auch in den letzten 20 Jahren ein aktiver Krieg im Land. Vielleicht nicht in Kabul oder anderen großen Städten, aber auch dort gab es ständig Terroranschläge der Taliban. Im Iran ist die islamische Revolution über 40 Jahre her. Dort gab es danach trotzdem die Möglichkeit, sich zu entwickeln und zur Schule zu gehen. Und dort wurde gleichzeitig Aufklärungsarbeit geleistet. Jetzt sehen wir das Ergebnis: Dass heute jeden Tag Menschen, Männer und Frauen, Schulter an Schulter, auf die Straße gehen und ihre Rechte einfordern. In Afghanistan haben wir diese Zeit bedauerlicherweise nicht gehabt. Wir hatten 20 Jahre, aber nicht für die ganze Bevölkerung, nicht für das ganze Land. Nur für eine bestimmte Gruppierung und die Elite.
Und deswegen, ist es so schwer, die zwei Länder jetzt zu vergleichen und dann das gleiche Ergebnis oder die gleiche Situation auch in Afghanistan zu erwarten. Dass beispielsweise die Männer auch auf die Straße kommen und mit den Frauen protestieren, so wie im Iran. In Afghanistan waren es nur die Frauen. Sie sind auf die Straße gegangen und haben ihre Rechte eingefordert und protestiert. Aber jetzt hat dieses Regime sie alle stumm gemacht. Man sieht sie nicht mehr. Die Taliban haben viele verhaftet, die Frauen müssen jetzt zu Hause bleiben, sie können nicht mehr in den Medien auftreten. Oder sie sind im Exil.
Du bist seit acht Jahren hier, aber hast viele Verbindungen zu afghanischen Frauen, Aktivist*innen, Menschenrechtler*innen, die in Nachbarstaaten sind. Wie ist ihre Situation?
Ja, ich bin seit acht Jahren hier, aber ein Teil von mir ist in Afghanistan geblieben. Immer noch, weil ich denke, dass die Menschen, die noch dort sind, uns brauchen und ich ihre Stimme sein kann. Das war auch eigentlich der Grund, vor acht Jahren das Land zu verlassen und hierherzukommen. Ich habe meine Arbeit nicht gestoppt, sondern wollte lauter und stärker arbeiten. Deswegen habe ich das Land verlassen. Ich habe nicht nur mit Aktivist*innen Kontakt, auch mit Künstlern und Künstlerinnen in Afghanistan, die in Afghanistan oder in Nachbarländern sind. Viele meiner Freundinnen sind immer noch in Pakistan, seit fast 1,5 Jahren. Seit der Machtübernahme oder kurz danach, als sie protestiert hatten. Die Taliban haben sie verhaftet und viele waren im Gefängnis. Sie sitzen jetzt in Pakistan, ohne eine klare Zukunft und dem Schicksal überlassen.
Die Bundesregierung hat ja im Koalitionsvertrag das Versprechen abgegeben, »Verbündete nicht zurückzulassen und diejenigen besonders zu schützen, die der Bundesrepublik als Partner zur Seite standen und sich für Demokratie und gesellschaftliche Weiterentwicklung eingesetzt haben«. Und jetzt gibt es ein Bundesaufnahmeprogramm, aber die, die in Nachbarstaaten sind, in Pakistan oder dem Iran, haben keine Chance. Was hörst du von Freund*innen und Bekannten?
Die Realität ist leider sehr bitter und anders, als von der Politik angekündigt. Die Menschen sind nach der Machtübernahme nach Pakistan, in den Iran, nach Tadschikistan, Usbekistan oder in andere Länder geflohen. Und jetzt bekommen sie nach 1,5 Jahren gesagt, dass sie nicht für das Bundesaufnahmeprogramm, auf das sie so lange gewartet haben, in Frage kommen?
Und auch von denjenigen, die in Afghanistan geblieben sind und immer noch unter dem Taliban-Regime leiden, haben einige keine Zusage bekommen. Meistens sind sie ohne Angabe von Gründen abgelehnt worden. Es gibt eine große Diskrepanz zwischen dem, was die Politik sagt und was sie macht.
Die Lücke zwischen den Versprechen der westlichen Staaten und der Realität ist riesengroß. Und wir haben ja auch viele Menschen in Europa, in Deutschland, mit Familienangehörigen in Afghanistan. Du hast das Glück, dass deine Familie nicht mehr dort ist. Kannst du jetzt frei sprechen? Wie ist die Situation der Menschen in Deutschland und der Angehörigen in Afghanistan? Was fordern sie? Was forderst du?
Ja, meine Familie ist hier und deswegen kann ich frei sprechen. Aber auch als sie nicht da waren, habe ich das schon gemacht. Ich will niemanden in Gefahr bringen, aber als ich mit dem Aktivismus angefangen habe, habe ich die Gefahr für mich akzeptiert, weil meine Aufgabe wichtiger ist.
In Afghanistan kann man überhaupt nicht vorhersehen, was passiert. Es kann sein, dass die Taliban in einer Sekunde in das Haus stürmen und alle Leute verhaften. Oder sie gleich erschossen werden. Das ist die Situation und das ist total schwer, auch für diejenigen, die in Deutschland sind. Sie sind hier und in Sicherheit, aber sie können sich nicht wohlfühlen, weil ihre Familien in Gefahr sind und sie mit dem Gefühl leben müssen, dass einer geliebten Person jede Sekunde etwas passieren könnte.
Deswegen können sie auch nicht so viel von hier aus leisten. Sie können nicht offen sprechen, sie können nicht so wie vorher arbeiten oder wieder anfangen, so radikal für die Werte, an die sie glauben, einzustehen.
Was können wir in Deutschland, was könnte Europa, was könnte die Weltgemeinschaft tun, um Druck auf die Taliban auszuüben?
Zuerst würde ich sagen: Wenn wir von Menschenrechten reden, dürfen wir keine Trennungen oder Bewertungen zwischen Menschen machen. Afghanistan, Ukraine, Iran: Menschen sind Menschen und wo Hilfe gebraucht wird, muss Hilfe gegeben werden. Und zwar nicht erst, wenn es zu spät ist. Es braucht humanitäre Hilfe. Für die Menschen, nicht an die Taliban. Sie bekommen Millionen Dollar und es gibt überhaupt keine Überwachung, wohin das Geld geht. Gleichzeitig bekommen wir von den Leuten dort mit, dass sie überhaupt nichts von der Hilfe sehen. Das Geld geht also an die Taliban und macht sie noch stärker und hält sie an der Macht.
An dem, was gerade in Afghanistan passiert, sind viele Länder beteiligt. Die Taliban konnten nicht »einfach so« in fünf Tagen das Land übernehmen. Dafür sind auch die damalige Regierung und die Friedensverhandlungen verantwortlich und die westlichen Länder, die nach 20 Jahren von einem Tag, auf den anderen das Land verlassen und sagen »Wir sind mit unserer Mission und unserer Arbeit hier fertig. Und jetzt gehen wir, ohne eine Verantwortung zu tragen.«
Also: Erstens Hilfe für die Menschen und zweitens Druck auf die Taliban machen. Zum Beispiel sollten sie nicht so frei reisen dürfen. Das Büro der Taliban in Doha muss geschlossen werden. Wir haben doch gesehen, was es uns gebracht hat: Gar nichts. Diese Terroristen haben Macht erhalten. Die westlichen Diplomaten sollten sie auf keinen Fall treffen. Und wenn, dann nur mit ganz klaren Forderungen. Die Weltgemeinschaft muss jetzt eine Entscheidung treffen. Dass es reicht, dass diese Terroristen 18 Monate an der Macht sind. Gerade herrscht in Afghanistan Gender-Apartheid, das kann doch im Jahr 2023 nicht wahr sein!
»Die Weltgemeinschaft muss jetzt eine Entscheidung treffen. Dass es reicht, dass diese Terroristen 18 Monate an der Macht sind«
Du hast formuliert: Menschen sind Menschen und hast Afghanistan und die Ukraine genannt. Wie blickst du auf die großartige Solidarität mit Geflüchteten in der Ukraine in Deutschland? Wie geht es dir damit, wenn du von den Leuten hörst, die in Afghanistan für Menschenrechte eingestanden haben und keine Solidarität erhalten?
Es geht mir schlecht, wenn ich diesen Unterschied so sehe. Ich glaube nicht an solche Sachen wie Nationalität, ich bin ein Mensch und glaube an Menschenrechte. Aber ich sehe, wie die Welt und wie die Politik damit umgehen. Für die sind Menschen nicht Menschen, sondern Menschen sind Interessen ihrer Politik. Afghanistan war in der Öffentlichkeit an erster Stelle, als die Machtübernahme der Taliban passierte. Aber jetzt ist es an dritter Stelle, erst kam die Ukraine und dann, als die Revolution angefangen hat, der Iran. Afghanistan ist fast in Vergessenheit geraten und niemand spricht mehr darüber, niemand kümmert sich darum. Und auf der anderen Seite sehen wir, dass die Terroristen von dieser Situation Gebrauch machen und es jeden Tag Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan gibt.
Umso wichtiger ist es, dass du hier bist, dass du so klar sprichst, dass deine Bilder, deine Kunst eine eindeutige Aussage haben. Vielen Dank!
PRO ASYL begleitet und unterstützt afghanische Frauen, wie z.B. die Gruppe »United Voice of Women for Peace« im Exil und hilft ihnen bei der Vernetzung, auch damit sie ihre Arbeit für die Menschenrechte in Afghanistan aus Deutschland und Europa fortsetzen können.