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Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan: Enttäuschung nach langem Warten
Auf das bereits im Koalitionsvertrag angekündigte und nun gestartete Bundesaufnahmeprogramm haben viele gefährdete Afghan*innen lange gewartet. Bis Ende 2025 sollen monatlich 1000 Personen aufgenommen werden. Wenngleich der Start des Programms erfreulich ist, lassen sich bei genauerem Blick einige Unzulänglichkeiten erkennen.
Am 17. Oktober 2022 haben das Auswärtige Amt und das Bundesinnenministerium auf einer eigens eingerichteten Website bekannt gegeben, dass das Bundesaufnahmeprogramm für gefährdete Afghan*innen beginnt. Die Not von gefährdeten Menschen aus Afghanistan ist riesengroß – und somit auch das Interesse an einem solchen Programm: Allein bei PRO ASYL gingen in den ersten fünf Tagen nach Bekanntgabe rund 600 Anfragen dazu ein.
Für das Aufnahmeprogramm ließ die Bundesregierung ein Online-Tool mit mehr als 100 Fragen entwickeln. Dabei werden neben den Daten zur Person auch medizinischer Behandlungsbedarf, Lebensumstände, tätigkeitsbezogene Gefährdungen, Vulnerabilität aufgrund von Geschlecht, Religionszugehörigkeit, sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität sowie ein möglicher Bezug zu Deutschland und eine Integrationsprognose abgefragt. Die Angaben sollen, soweit möglich, mit Dokumenten belegt werden. Am Ende vergibt ein IT-System Punkte und soll so feststellen, wer als individuell gefährdet eingestuft werden kann.
Zu der Online-Eingabe haben aber nur ausgewählte Organisationen überhaupt einen Zugang. Wer diese Organisationen sein werden, war bis zur Veröffentlichung dieses Textes noch nicht bekannt.
Afghan*innen können sich aktuell nicht direkt bewerben
Zu der Online-Eingabe haben aber nur ausgewählte Organisationen überhaupt einen Zugang. Wer diese Organisationen sein werden, war bis zur Veröffentlichung dieses Textes noch nicht bekannt. Aus den Fragen und Antworten geht hervor, dass diese »meldeberechtigten Stellen« selbst darüber entscheiden sollen, ob sie sich als solche zu erkennen geben. Kontakte der Betroffenen zu großen Organisationen sind folglich Grundvoraussetzung, um einen Antrag stellen zu können. Durch Intransparenz und Exklusivität wird so ein künstlicher Flaschenhals geschaffen.
Da die Bundesregierung angibt, dass zu Beginn des Programmes der Fokus auf bereits vorliegenden Fälle liegen soll, sollte schnellstmöglich eine Öffnung und somit ein transparenter Zugang für weitere Schutzsuchende sichergestellt werden. Eine Alternative liegt auf der Hand: Die Online-Eingabemaske sollte auf der Homepage zum Aufnahmeprogramm bereitgestellt werden, so dass Betroffene sich selbst registrieren können.
Afghan*innen haben also aktuell keine eigene Handlungsoption und wissen nicht, an wen sie sich wenden sollen. Würde eine »meldeberechtigten Stellen« bekannt geben, Anträge anzunehmen, wäre mit einer enorm hohen Anzahl an Anfragen zu rechnen, die von den häufig ohnehin schon unterfinanzierten Organisationen kaum zu bewältigen wäre. Folglich müssten Mitarbeitende auswählen, welche Ersuche sie bearbeiten und welche nicht.
Antragstellende aus Drittstaaten werden ausgeschlossen
Um überhaupt für das Programm in Frage zu kommen, müssen die Menschen die afghanische Staatsangehörigkeit besitzen und sich aktuell in Afghanistan aufhalten. Letzteres ist höchst problematisch: Menschen, die aufgrund ihrer akuten Gefährdung und der späten Bereitstellung von legalen Einreisemöglichkeiten bereits seit August 2021 in Nachbarländer von Afghanistan geflohen sind, werden ausgeschlossen. Es wird nicht berücksichtigt, dass sie dort in aller Regel keine Bleibeperspektive haben und unmittelbar von Abschiebung bedroht sind. Warum die Antragstellenden sich bei Antragstellung in Afghanistan aufhalten müssen, wird von der Bundesregierung nicht weiter begründet.
Menschen, die aufgrund ihrer akuten Gefährdung und der späten Bereitstellung von legalen Einreisemöglichkeiten bereits seit August 2021 in Nachbarländer von Afghanistan geflohen sind, werden ausgeschlossen.
Die Macht liegt beim Algorithmus
Durch den Fragenkatalog sollen Menschen identifiziert werden, die aufgrund ihres Einsatzes für Frauen- und Menschenrechte, ihrer Tätigkeit in den Bereichen Justiz, Politik, Medien, Bildung, Kultur, Sport oder Wissenschaft, aufgrund ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität oder wegen ihrer Religion besonders gefährdetet sind. Darüber hinaus sollen auch Verfolgungen oder Gefährdungen berücksichtigt werden, die sich aus „den besonderen Umständen des Einzelfalles ergeben«, heißt es. Nach der Eingabe der Daten wird zunächst anhand geschlossener Ja-Nein-Fragen durch einen Algorithmus priorisiert und somit vorsortiert. Erst danach sollen sich Mitarbeitende der Bundesbehörden die gefilterten Einzelfälle anschauen und Kurzbegründungen lesen.
Dieses Verfahren ist insgesamt jedoch ungeeignet. Es kann weder individuelle Biografien begreifen noch außergewöhnliche Fallkonstellationen berücksichtigen. Eine individuelle Gewichtung der Anträge ist somit nicht vorgesehen. Bei dem vorgesehenen IT-Scoringsystem, wonach die Anträge gefährdeter Afghan*innen mit digitalen Punktesystem und Algorithmen bewertet werden, besteht außerdem die Gefahr, dass ernsthaft gefährdete Menschen, die aber zum Beispiel möglicherweise nicht die nötigen Sprach- oder IT-Kenntnisse mitbringen, durch das Raster fallen.
Landesaufnahmeprogramme sind in der Planung
Eine mögliche Alternative für gefährdete Afghan*innen mit Familienangehörigen in Deutschland können geplante Landesaufnahmeprogramme sein. Bis zum 20. Oktober hatten mit Schleswig-Holstein, Bremen, Berlin, Thüringen und Hessen fünf Bundesländer Landesaufnahmeprogramme konkret beschlossen. Diese würden komplementär zum Bundesaufnahmeprogramm existieren und in der Regel eine Lebensunterhaltssicherung in Form einer Verpflichtungserklärung voraussetzen.
Damit die Programme umgesetzt werden können, muss jedoch noch das Bundesinnenministerium seine Zustimmung erteilen, was es nach eigenen Angaben in Kürze tun wird. Keines der geplanten Landesaufnahmeprogramme war bis zum 20. Oktober angelaufen.
Ortskräfteverfahren muss reformiert werden
Auch die Reform des Ortskräfteverfahrens ist noch immer nicht beschlossen: Weiterhin erhalten nur diejenigen eine Aufnahmezusage, die nach Ende 2012 in einem direkten Anstellungsverhältnis standen (zum Beispiel als Dolmetscher bei der Bundeswehr). Dies schließt Menschen aus, die in Subunternehmen für die deutsche Regierung tätig waren oder Honorarverträge hatten. Menschen, die bei der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) angestellt waren und Projekte der deutschen Entwicklungszusammenarbeit durchgeführt haben, erhalten nur eine Aufnahmeerlaubnis, wenn sie zusätzlich glaubhaft machen, dass eine individuelle Gefährdung vorliegt. Dabei ist zu bedenken: Erst durch das Handeln der westlichen Staaten wurden diese Menschen in Afghanistan in Gefahr gebracht. Wer als »verwestlicht « gilt, muss aus Afghanistan evakuiert und aufgenommen werden.
Mehr Informationen zum Bundesaufnahmeprogramm stehen auf der Informationsseite zum Bundesaufnahmeprogramm des Bundesinnenministeriums und des Auswärtigen Amtes. Dort gibt es auch ein FAQ.
(Annika Hesselmann, Flüchtlingsrat Niedersachsen und Mitarbeiterin des PRO ASYL-Afghanistannetzwerkes)