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Flüchtlinge in Bulgarien leben häufig in unmenschlichen Bedingungen. Deshalb hat der EuGH jetzt geurteilt, dass eine Weiterflucht innerhalb der EU zulässig ist. Foto: picture alliance / NurPhoto

Kaum von der Öffentlichkeit wahrgenommen hat der EuGH mit einem Beschluss gegen Deutschland bekräftigt: Unmenschliche Lebensverhältnisse innerhalb der EU können nicht ignoriert werden. Wenn Geflüchteten in dem EU-Mitgliedsstaat, in dem sie anerkannt sind, Menschenrechtsverletzungen drohen, darf ihr Antrag hier nicht als unzulässig abgelehnt werden.

Kon­kret ging es in dem Ver­fah­ren um syri­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge, die in Bul­ga­ri­en einen Flücht­lings­sta­tus bekom­men haben und 2014 auf­grund der schlech­ten Lebens­be­din­gun­gen für Flücht­lin­ge von dort wei­ter nach Deutsch­land geflo­hen sind. Hier haben sie erneut Asyl­an­trä­ge gestellt. Das Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) lehn­te die­se Asyl­an­trä­ge wegen der schon bestehen­den Flücht­lings­an­er­ken­nung in Bul­ga­ri­en als »unzu­läs­sig« ab.

Die­ses Vor­ge­hen hat der EuGH nun ver­ur­teilt. Nach der Ent­schei­dung  Hamed und Omar gegen Deutsch­land vom 13. Novem­ber 2019 ist eine sol­che Unzu­läs­sig­keits­ent­schei­dung nicht mehr erlaubt. Damit führt der EuGH sei­ne Recht­spre­chung zu »Aner­kann­ten« fort. Tat­säch­lich ließ sich die­ses Ergeb­nis auch schon aus der Ibra­him-Ent­schei­dung vom März die­ses Jah­res ablei­ten, doch die genaue Inter­pre­ta­ti­on der Ibra­him-Ent­schei­dung war umstritten.

Gegenseitiges Vertrauen? Nicht bei Menschenrechtsverletzungen!

Dahin­ter steht Fol­gen­des: Grund­sätz­lich gilt im euro­päi­schen Asyl­recht der Grund­satz des gegen­sei­ti­gen Ver­trau­ens. Das heißt, dass Mit­glied­staa­ten davon aus­ge­hen dür­fen, dass in einem ande­ren Mit­glied­staat euro­päi­sches Recht geach­tet wird und es ent­spre­chend funk­tio­nie­ren­de Asyl­ver­fah­ren und men­schen­wür­di­ge Auf­nah­me­be­din­gun­gen gibt.

Das ist aber viel­fach nicht der Fall. In Grie­chen­land zum Bei­spiel besteht der Schutz für Flücht­lin­ge nur auf dem Papier. Unter­brin­gun­gen vom UNHCR sind nur für beson­ders schutz­be­dürf­ti­ge Asyl­su­chen­de, vie­le sind also obdach­los – die War­te­lis­te bei Obdach­lo­sen­un­ter­künf­ten wie­der­rum lang. Ohne Woh­nung gibt es kei­ne Sozi­al­leis­tun­gen. In Ita­li­en ver­lie­ren Per­so­nen, die von Ita­li­en in ein ande­res Land wei­ter gegan­gen sind, ihren Anspruch auf eine Unter­brin­gung und sind in Fol­ge des­sen nach einer Rück­füh­rung obdach­los. Dass es in Ita­li­en gene­rell kaum sozia­le Unter­stüt­zung vom Staat gibt, trifft Flücht­lin­ge ohne sozia­les und fami­liä­res Umfeld beson­ders hart, sie leben unter oft kata­stro­pha­len Bedingungen.

Dazu muss man wis­sen: Aner­kann­te Flücht­lin­ge haben inner­halb der Euro­päi­schen Uni­on nur ein­ge­schränk­te Frei­zü­gig­keits­rech­te. Wenn sie in Ita­li­en oder Ungarn von Ver­elen­dung bedroht sind, kön­nen sie also nicht ein­fach nach Deutsch­land zie­hen und hier leben.

Wenn eine star­ke Men­schen­rechts­ver­let­zung droht, dann kann der Grund­satz des gegen­sei­ti­gen Ver­trau­ens in der EU nicht mehr gel­ten, eine Abschie­bung darf nicht stattfinden.

Ent­spre­chend ent­wi­ckel­te sich eine umfang­rei­che Recht­spre­chung, die ihren Aus­gangs­punkt in der Ent­schei­dung des Euro­päi­schen Gerichts­hofs für Men­schen­rech­te (EGMR) M.S.S. gegen Bel­gi­en und Grie­chen­land hat. Hier ent­schied der EGMR im Jahr 2011, dass die Zustän­de in Grie­chen­land für Asyl­su­chen­de so kata­stro­phal waren, dass eine Über­stel­lung im Rah­men der Dub­lin-Ver­ord­nung eine Ver­let­zung von Art. 3 EMRK, dem Ver­bot der Fol­ter und unmensch­li­cher Behand­lung, dar­stel­len würde.

Die­se Recht­spre­chung wur­de vom EuGH auf­ge­grif­fen und wei­ter geführt. Mitt­ler­wei­le ist klar: wenn eine so star­ke Men­schen­rechts­ver­let­zung droht, dann kann der Grund­satz des gegen­sei­ti­gen Ver­trau­ens nicht mehr gel­ten, eine Abschie­bung darf nicht stattfinden.

Berücksichtigung der Situation nach der Anerkennung

Dass bei der Beur­tei­lung einer mög­li­chen men­schen­un­wür­di­gen Situa­ti­on auch die Lage nach der Aner­ken­nung als Schutzberechtigte*r zählt, wur­de bereits im März im Urteil Jawo gegen Deutsch­land klar gestellt.  Dies­be­züg­lich hielt der EuGH fest: Es ist »für die Anwen­dung von Art. 4 der Char­ta [Ver­bot der Fol­ter und unmensch­li­cher Behand­lung] gleich­gül­tig […], ob es zum Zeit­punkt der Über­stel­lung, wäh­rend des Asyl­ver­fah­rens oder nach des­sen Abschluss dazu kommt, dass die betref­fen­de Per­son einer ernst­haf­ten Gefahr aus­ge­setzt wäre, eine sol­che [unmensch­li­che] Behand­lung zu erfah­ren« (Rn. 88).

Im Fall Ibra­him gegen Deutsch­land, über den am glei­chen Tag wie Jawo ent­schie­den wur­de, ging es um eine ähn­li­che Kon­stel­la­ti­on wie in Hamed und Omar, näm­lich, dass die Klä­ger bereits einen Schutz­sta­tus haben und dann in Deutsch­land einen neu­en Asyl­an­trag gestellt haben. Schon hier hat­te der EuGH fest­ge­stellt, dass bei der Fra­ge der Unzu­läs­sig­keit auch mög­li­che Ver­stö­ße gegen Art. 4 Grund­rech­te-Char­ta geprüft wer­den müssen.

Menschenunwürdige Lebensbedingungen = Verfahren in Deutschland

Die rele­van­te Fra­ge bezüg­lich der Betrof­fe­nen ist letzt­lich: Wie geht es dann mit ihnen im jet­zi­gen Mit­glied­staat wei­ter? In der Regel wird der Asyl­an­trag eines bereits Aner­kann­ten for­mal als »unzu­läs­sig« abge­lehnt. Wenn eine Men­schen­rechts­ver­let­zung in dem Mit­glied­staat, in wel­chem sie aner­kannt wur­den, droht, ertei­len BAMF oder Gerich­te den Betrof­fe­nen ledig­lich ein soge­nann­tes Abschie­bungs­ver­bot hin­sicht­lich die­ses EU-Mit­glied­staats. Dies führt wie­der­um dazu, dass ihnen – obwohl sie aner­kann­te Schutz­be­rech­tig­te sind – nicht die Rech­te gewährt wer­den, die ihnen als Aner­kann­te zustehen.

Der EuGH kommt zum Ergeb­nis, dass (min­des­tens) ein neu­es Asyl­ver­fah­ren im Mit­glied­staat durch­ge­führt wer­den muss, damit die Betrof­fe­nen zu ihren Rech­ten kommen.

Mit Hamed und Omar machen es die Euro­päi­schen Richter*innen nun glas­klar: Den Mit­glied­staa­ten ist es ver­bo­ten, einen Asyl­an­trag als »unzu­läs­sig« abzu­leh­nen, wenn der betrof­fe­nen Per­son in dem Staat, der ihr Schutz erteilt hat, unmensch­li­che Lebens­be­din­gun­gen dro­hen. Eine Unzu­läs­sig­keits­ent­schei­dung wür­de der Flücht­lings­ei­gen­schaft nicht gerecht. Der EuGH kommt zum Ergeb­nis, dass (min­des­tens) ein neu­es Asyl­ver­fah­ren im Mit­glied­staat durch­ge­führt wer­den muss, damit die Betrof­fe­nen zu ihren Rech­ten kommen.

PRO ASYL hält es dabei nicht für sinn­voll, dass das BAMF ein kom­plett neu­es Asyl­ver­fah­ren durch­führt. Schließ­lich wur­de der Schutz­be­darf bereits fest­ge­stellt und muss nicht auf­wen­dig neu geprüft wer­den. Die Poli­tik soll­te ent­spre­chend die Mög­lich­keit schaf­fen, dass das BAMF den Schutz­sta­tus aus dem ande­ren Mit­glied­staat aner­kennt. Alter­na­tiv wäre es end­lich an der Zeit, ech­te Frei­zü­gig­keits­rech­te für aner­kann­te Schutz­be­rech­tig­te inner­halb der EU zu gewähren!

(wj)