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Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen erzwungene Familientrennung
Ein Geflüchteter soll abgeschoben werden, obwohl seine zwei Kinder in Deutschland leben und hier aufenthaltsberechtigt sind. Mit Unterstützung von PRO ASYL hat er eine Verfassungsbeschwerde eingereicht und gewonnen. Wir haben seinen Rechtsanwalt Thomas Oberhäuser gefragt, warum diese Beschwerde notwendig war und was das Urteil bedeutet.
Herr Oberhäuser, fassen Sie uns kurz die Situation des Familienvaters, den Sie vertreten, zusammen.
Der äthiopische Staatsangehörige Berhane Rahel* ist im Jahr 2012 nach Deutschland eingereist und hat einen Asylantrag gestellt. Mit einer äthiopischen Frau, die in Deutschland als Flüchtling anerkannt und demnach aufenthaltsberechtigt ist, hat er zwei gemeinsame Kinder, die hier ebenfalls aufenthaltsberechtigt sind. Für sie teilt er sich mit der Mutter das gemeinsame Sorgerecht, kümmert sich auch um seine Kinder, wohnt mit ihnen aber nicht zusammen.
Nachdem sein Asylantrag abgelehnt wurde, erhielt er eine Duldung. Im Jahr 2022 verlängert die für ihn zuständige Ausländerbehörde diese nicht mehr, das heißt, die Behörde ging davon aus, dass die Ausreisepflicht vollstreckt, Herr Rahel also abgeschoben werden könne. Dagegen ging Herr Rahel rechtlich vor, verlor aber sowohl beim Verwaltungsgericht Würzburg als auch beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof. Die Gerichte argumentierten, dass es ihm zuzumuten sei, das Visumverfahren zum Zweck des Familiennachzugs aus dem Ausland nachzuholen, um über diesen Weg ein Leben in der Nähe seiner Kinder zu ermöglichen. Deshalb habe die Ausländerbehörde rechtmäßig gehandelt, als sie ihm die Duldung verweigerte – selbst für den Zeitraum, in dem noch nicht einmal über seinen Antrag auf einen humanitären Aufenthaltstitel entschieden worden war.
Was war der Inhalt Ihrer Verfassungsbeschwerde?
Ich kritisiere die fehlende Verhältnismäßigkeit. Die Forderung an ihn, sein Visumverfahren im Ausland nachzuholen, steht nämlich meines Erachtens nicht im Einklang mit dem Schutz der Familie nach Artikel 6 des Grundgesetzes (GG). Um einschätzen zu können, wie lange die Familie getrennt wäre, fehlt es bereits an einer belastbaren Prognose über die Dauer eines solchen Visumverfahrens. Diese ist aber notwendig, um überhaupt die Zumutbarkeit einer solchen Anforderung an ihn beurteilen zu können.
Und Sie hatten Erfolg.
Ja. Im Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes vom 02.11.2023 heißt es, dass die Nachholung des Visumverfahrens nicht das Grundrecht auf Schutz der Familie gemäß Artikel 6 GG verletzen darf, was aber geschieht, wenn Behörden in Kauf nehmen, dass die Trennung möglicherweise sehr lange andauert.
Weshalb war diese Verfassungsbeschwerde notwendig?
Das deutsche Aufenthaltsgesetz kennt kein Recht von Eltern, zu ihren aufenthaltsberechtigten Kindern nachzuziehen, es sei denn, diese sind deutsche Staatsangehörige oder unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Oder die Erteilung des Aufenthaltstitels dient der Vermeidung einer »außergewöhnlichen Härte« und die Behörde übt ihr Ermessen zu Gunsten des Elternteils aus. Der Gesetzgeber ist bis heute auch nicht willens, für diese Personengruppe eine Rechtsgrundlage zu schaffen. Entsprechend haben die Behörden nur in Ausnahmefällen die Möglichkeit, einem Elternteil für das Zusammenleben mit seinem Kind eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
»Das deutsche Aufenthaltsgesetz kennt kein Recht von Eltern, zu ihren aufenthaltsberechtigten Kindern nachzuziehen, es sei denn, diese sind deutsche Staatsangehörige oder unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.«
Ist eine Trennung zwischen einem Kind zu seinem Vater oder zu seiner Mutter nicht immer eine »außergewöhnliche Härte«?
Meiner Auffassung nach sollte jedes Kind mit beiden Elternteilen zusammenleben können. Im Migrationsrecht ist dies jedoch für ausländische Kinder keineswegs selbstverständlich. Es gibt juristisch die Abstufung »einfache Härte«, »besondere Härte« und »außergewöhnliche Härte«. Der Maßstab, den die Rechtsprechung an die Ausfüllung des letztgenannten Begriffs stellt und der auch für den Elternnachzug erfüllt sein muss, ist sehr hoch. Beispielsweise wird die Einreise eines kurz vor seinem Ableben stehenden Ausländers zu seinen in Deutschland lebenden Verwandten als notwendig erachtet, um eine »außergewöhnlichen Härte« zu vermeiden, also zum Abschied nehmen. Nicht aber, wenn dieser »erst« pflegebedürftig ist, die notwendige Pflege allerdings auch im Heimatland und von Dritten erbracht werden kann. Ähnlich »unbarmherzig« sind Teile der Rechtsprechung, wenn es um den Nachzug zu Kindern geht, die vom anderen Elternteil betreut und versorgt werden.
Der Wunsch meines Mandanten und seiner hier lebenden aufenthaltsberechtigten Kinder, nicht getrennt zu werden, stellt nach dieser Auslegung keine solche außergewöhnliche Härte dar. Obwohl man ja annehmen könnte, dass das Auseinanderreißen einer jeden Familie zu einer außergewöhnlichen Härte führt. Da aber viele Familien – gewollt oder erzwungen – getrennt leben, kann argumentiert werden, dass die Trennung von nur einem Elternteil nicht per se zu einer außergewöhnlichen Härte führt. Für diese Konstellation fehlt deshalb eine gesetzliche Grundlage, die ein Recht des Elternteils normiert, zu seinen Kindern einzureisen.
Im Inland behelfen sich die Behörden in aller Regel damit, dass sie dem Elternteil ein humanitäres Aufenthaltsrecht nach Paragraph 25 Absatz 5 Aufenthaltsgesetz erteilen. Dabei kann von relativ vielen Voraussetzungen abgesehen werden, die sonst üblicherweise erforderlich sind. Das funktioniert aber nur, solange der Elternteil im Inland ist.
Und wann funktioniert es nicht?
Das funktioniert nicht mehr, sobald sich ein Elternteil im Ausland befindet, weil der Paragraph 25 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz voraussetzt, dass jemand ausreisepflichtig ist. Wenn die Person bereits ausgereist ist, dann fehlt es an dieser Tatbestandsvoraussetzung. Das heißt: Ich habe vom Ausland aus keinen Anspruch auf ein humanitäres Aufenthaltsrecht zum Zwecke des Zusammenlebens mit meinem Kind. Die einzige Rechtsgrundlage ist dann der erwähnte Paragraph 36 Absatz 2 Aufenthaltsgesetz, der eine außergewöhnliche Härte verlangt, wofür aber die bloße Annahme, dass ein Kind beide Elternteile braucht, wie beschrieben nicht ausreicht.
Weshalb wird überhaupt gefordert, das Visumverfahren aus dem Ausland zu führen?
Der Gesetzgeber sieht das Visumverfahren als grundlegende Voraussetzung für den Zuzug nach Deutschland zur Steuerung der Migration. Gerade in Bayern ist das sowohl ein politisches Instrument als auch ein in der Rechtsprechung gern betontes Konstrukt, auf das sich Behörden häufig berufen. Es gibt zwar gesetzliche Ausnahmen bei Unzumutbarkeit und bei Härtefällen, jedoch sind hierfür die Anforderungen sehr hoch, so dass diese fast nie greifen.
In Deutschland gilt der Grundsatz: Man muss das richtige Visum zur Einreise eingeholt haben, um in Deutschland auch ein Aufenthaltsrecht bekommen zu können und nicht erst wieder ausreisen zu müssen. Dieser Grundsatz ist beispielsweise dann, wenn eine familiäre Beziehung im Inland etwa durch die Geburt eines Kindes erst entsteht, sehr zweifelhaft. Denn zum Zeitpunkt der Einreise gab es das Kind noch nicht, und damit auch keinen Anspruch, mit dem Kind zusammenzuleben. Aus Sicht der Behörden müsste trotzdem zunächst im Ausland das Visum geprüft werden.
Klingt unlogisch und familienfeindlich.
Es ist absurd. Warum sollte die Auslandsvertretung, wo dann das Visumverfahren durchgeführt werden muss, die Situation besser einschätzen können als die hiesige Ausländerbehörde? Warum sollen die Betroffenen erst aus- und dann wieder einreisen? Das ist nicht nachvollziehbar und übrigens auch europarechtlich hochproblematisch. Der Europäische Gerichtshof hat bereits in einer Entscheidung aus dem Jahr 2017 klargestellt, dass es unverhältnismäßig ist, etwas zu fordern, was für niemanden einen Mehrwert hat – auch nicht für Behörden. Allerdings muss das tausendfach vortragen werden, damit irgendwann auch mal ein Gericht entscheidet, dass das überflüssig ist.
Erläutern Sie uns ein wenig, welcher Grundrechtseingriff hier vorliegt?
Wenn Eltern von ihren Kindern getrennt werden, ist das ein Eingriff in das Recht auf Schutz der Familie (Artikel 6 GG). Aktuell ist es so geregelt, dass ein Elternteil des aufenthaltsberechtigten Kindes (meistens der Vater) zunächst wieder ausreisen und ein Visumverfahren nachholen muss, was zumindest übergangsweise zu einer Trennung des Vaters vom Kind führt und damit einen Eingriff in die geschützte familiäre Lebensgemeinschaft darstellt. Wenn diese Trennung lange dauert, stellt das eine unverhältnismäßige Folge einer solchen Verpflichtung dar und darf nicht gefordert werden.
Um diese Unverhältnismäßigkeit nachzuweisen, muss man verschiedene Faktoren bewerten. Beispielsweise, wie alt ein Kind ist oder wie lange es voraussichtlich dauert, bis das Elternteil wieder zurückkommt. Das Bundesverfassungsgericht hatte schon in früheren Entscheidungen gesagt, je jünger ein Kind ist, desto weniger verständlich sind ihm zeitweilige Trennungen. Denn kleinere Kinder erleben auch eher kurze Trennungen als dauerhaften Abbruch einer Bindung, weil sie noch kein Zeitverständnis haben. Daher ist es bei ihnen ganz besonders problematisch zu fordern, dass ein Elternteil erstmal ausreisen soll. Außerdem erweisen sich Trennungsprognosen oft als unrealistisch, denn wie schnell und mit welchem Ergebnis die Auslandsvertretungen entscheiden, ist zumeist nicht absehbar, und damit auch nicht, wie viel Zeit zwischen Ausreise und Wiedereinreise liegen werden.
Ist nun mit der gewonnenen Verfassungsbeschwerde eine Verbesserung zu erwarten?
Es ist schon betrüblich, um es vorsichtig auszudrücken, dass wir seit Jahrzehnten eine Rechtslage haben, die Eltern von aufenthaltsberechtigten drittstaatsangehörigen Kindern überhaupt nicht in den Blick nimmt. Mit Ausnahme der Konstellation der unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten, aber diese auch nur, weil das europäische Recht das fordert – andernfalls hätten wir auch für sie keine Gesetzesgrundlage.
Dass es Kinder gibt, die hier leben und ein Aufenthaltsrecht haben, aber nach der aktuellen Gesetzeslage nicht das Recht, dass ihre Eltern mit ihnen zusammenleben, das ist etwas, das ich noch nie verstanden habe. Eben sowenig die Untätigkeit des Gesetzgebers zu diesem Aspekt. Es liegt seit Jahrzehnten auf der Hand, dass das geregelt werden muss. Dass es für solche Konstellationen Verfassungsgerichtsentscheidungen braucht, um ein Aufenthaltsrecht für jemanden auch bloß denkbar werden zu lassen, ist absurd. Vor allem aber führt dies dazu, dass Rechte von Eltern und ihren Kindern untergehen, weil Verfassungsbeschwerden so arbeitsintensiv und teuer sind, dass man davon ausgehen muss, dass die allermeisten sich das nicht leisten können.
Ein Jahr vor unserer Beschwerden hatte das Bundesverfassungsgericht übrigens in einer nahezu gleichen Konstellation in der gleichen Weise entschieden. Es ist traurig, dass sich zumindest einige Richter*innen nicht daran halten und das Verfassungsgericht wieder eingreifen musste. Es ist dringend an der Zeit, dass der Gesetzgeber sich Gedanken macht und eine vernünftige rechtliche Lösung gestaltet. Der Deutsche Anwaltverein (DAV) hat dazu bereits einen Vorschlag gemacht.
*Aliasname
(skg, mhs)