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Der inoffizielle Flüchtlingsfriedhof auf der griechischen Insel Lesbos. Jeder Holzstock steht für ein Grab. Foto: Max Klöckner / PRO ASYL

Mindestens 120 Flüchtlinge sind im vergangenen Jahr bei Bootsunglücken in griechischen Gewässern gestorben oder gelten als vermisst. Das offenbart ein Bericht von Refugee Support Aegean (RSA). Natassa Strachini vertritt als Anwältin die Überlebenden und Familien der Toten. Im Interview spricht sie über die aktuellen Zahlen und ihre Arbeit.

RSA, die grie­chi­sche Schwes­ter­or­ga­ni­sa­ti­on von PRO ASYL, hat heu­te einen Bericht zu den Schiffs­un­glü­cken mit Geflüch­te­ten in Grie­chen­land im Jahr 2024 ver­öf­fent­licht. Was sind die wich­tigs­ten Erkenntnisse? 

61 Flücht­lin­ge wur­den im Jahr 2024 bei 27 Schiffs­un­glü­cken in Grie­chen­land tot gebor­gen, wei­te­re 59 wer­den ver­misst und gel­ten nun als tot. Dar­über hin­aus wur­den auf der tür­ki­schen Sei­te der Ägä­is bei acht Schiffs­un­glü­cken min­des­tens 42 Todes­fäl­le und neun ver­miss­te Per­so­nen gemel­det. Wohl­ge­merkt ist das nur die Spit­ze des Eis­bergs. Wir ver­mu­ten sehr viel mehr Tote. Auf Flücht­lings­boo­ten wer­den schließ­lich kei­ne Pas­sa­gier­lis­ten geführt, sodass es schwer ist, bei Unglü­cken über­haupt her­aus­zu­fin­den, wer sich an Bord befand. Wir schät­zen, dass im Jahr 2024 ins­ge­samt min­des­tens 171 Men­schen in der Ägä­is bei 35 Schiffs­un­glü­cken von Flücht­lin­gen ihr Leben ver­lo­ren haben oder ver­misst werden.

Was ist über die Toten und Ver­miss­ten bekannt? Kennst du die Geschich­ten hin­ter den Zahlen? 

In eini­gen Fäl­len schon. Wir von RSA ver­tre­ten mit­hil­fe von PRO ASYL Fami­li­en­mit­glie­der der Toten vor Gericht und unter­stüt­zen sie bei ihrer Suche nach den sterb­li­chen Über­res­ten ihrer Ver­wand­ten. Jeder ein­zel­ne Fall, den ich im Lau­fe der Jah­re beglei­tet habe, ist eine Tra­gö­die. Ich den­ke da zum Bei­spiel an die bei­den Kin­der, deren Mut­ter bei einem Schiffs­un­glück über Bord ging. Sie über­leb­ten und wur­den auf die Insel Leros gebracht. Der Leich­nam ihrer Mut­ter wur­de schließ­lich gefun­den und sie wur­de auf Rho­dos begraben.

Nimmt die Zahl der Schiffs­un­glü­cke in Grie­chen­land und der Tür­kei kon­ti­nu­ier­lich zu oder wie sind die Zah­len ein­zu­ord­nen im Ver­gleich zu den letz­ten Jahren?

Wir stel­len fest, dass die Zahl der Schiff­brü­che zuge­nom­men hat. Das Feh­len siche­rer und lega­ler Wege für Men­schen, die in der EU Asyl suchen, in Ver­bin­dung mit sys­te­ma­ti­schen Abschre­ckungs­prak­ti­ken an den EU-Außen­gren­zen treibt unzäh­li­ge Men­schen in den Tod. Neu ist, dass nun auch Kre­ta zu einem Hot­spot zu wer­den scheint. Bis­her haben wir Schiffs­un­glü­cke vor allem in der öst­li­chen Ägä­is beob­ach­tet, rund um die Dode­ka­nes-Insel­grup­pe, etwa bei Les­bos, Rho­dos oder Kos. Im ver­gan­ge­nen Jahr hat hin­ge­gen die Zahl der Schutz­su­chen­den, die ver­su­chen, den Süden Kre­tas zu errei­chen, zuge­nom­men. Allein in der letz­ten Woche sind mehr als 600 Schutz­su­chen­de laut Medi­en­be­rich­ten dort ange­kom­men. Kre­ta ist dar­auf nicht vor­be­rei­tet, es gibt bis­lang kaum Aufnahmestrukturen.

Kurz vor Weih­nach­ten kam es vor Rho­dos zu einem Vor­fall, in dem die grie­chi­sche Küs­ten­wa­che invol­viert war, die laut Zeu­gen­aus­sa­gen ein Flücht­lings­boot ramm­ten. Was ist zu die­sem Fall bis­lang bekannt? 

Nach Aus­sa­gen von Über­le­ben­den hat am 20. Dezem­ber 2024 ein Schiff der grie­chi­schen Küs­ten­wa­che ein Boot mit 27 Per­so­nen vor Rho­dos gewalt­sam gerammt, was zum Tod von acht Per­so­nen führ­te. Ein vier­jäh­ri­ges Kind gilt noch immer als ver­misst. Von den acht Toten wur­den drei zer­stü­ckelt gebor­gen, ohne Kopf, ohne Arme oder Bei­ne. Das zeigt das Aus­maß der Bru­ta­li­tät. Bei dem kata­stro­pha­len Unglück vor Pylos, bei dem über 600 Men­schen ihr Leben ver­lo­ren haben, hat die Küs­ten­wa­che lan­ge nicht geret­tet, schließ­lich war es zu spät. Der Schiff­bruch vor der Küs­te von Rho­dos reiht sich also ein in eine erschre­cken­de Rei­he von Fäl­len, bei denen der Tod von Schutz­su­chen­den sei­tens der Küs­ten­wa­che bewusst in Kauf genom­men oder sogar her­bei­ge­führt wird.

Die Men­schen inter­es­siert das schon noch, aber es ist kein Schock mehr wie noch vor eini­gen Jahren.

Vor zehn Jah­ren ging das Bild des klei­nen Jun­gen Alan Kur­di, der tot an einen Strand ange­spült wur­de, um die Welt. Wie sieht das heu­te aus? Wird in grie­chi­schen Medi­en berich­tet über Vor­fäl­le wie den in Rho­dos oder haben Sie den Ein­druck, die Men­schen haben sich dar­an gewöhnt?

Die Men­schen inter­es­siert das schon noch, aber es ist kein Schock mehr wie noch vor eini­gen Jah­ren. Für die Bewohner*innen der Inseln, auf denen Flücht­lin­ge anlan­den oder tot ange­spült wer­den, hat das natür­lich eine ande­re Dimen­si­on. Ich habe selbst mein gan­zes Leben lang auf den Inseln Chi­os und Les­bos gelebt und weiß: Die loka­le Bevöl­ke­rung fühlt sich eben­so wie die Flücht­lin­ge gefan­gen und allein gelas­sen. Die Zustän­de sind kata­stro­phal, und das schon seit Jah­ren. Wenn, wie im letz­ten Herbst, vie­le Schutz­su­chen­de die Inseln errei­chen, müs­sen sie zum Schla­fen auf den nack­ten Boden aus­wei­chen. Auf Les­bos, Chi­os, Samos, Leros und Kos wer­den die Men­schen in EU-finan­zier­ten gefäng­nis­ar­ti­gen Zen­tren zunächst ein­ge­sperrt. Das mit­er­le­ben zu müs­sen, ist für die grie­chi­sche Bevöl­ke­rung auf den Inseln schwer. Vie­le sind erschöpft und ver­tre­ten zuneh­mend kon­ser­va­ti­ve Positionen.

Du und dei­ne Kolleg*innen beglei­ten mit Unter­stüt­zung von PRO ASYL vie­le Über­le­ben­de. Was genau tun Sie, um den Men­schen zu helfen?

Wir beglei­ten Über­le­ben­de, aber auch Ange­hö­ri­ge der Toten. Die Men­schen zu beglei­ten, ist herz­zer­rei­ßend. Wir hel­fen den Fami­li­en, die Toten zu iden­ti­fi­zie­ren und für ein wür­di­ges Begräb­nis zu sor­gen. Das kann hier in Grie­chen­land sein oder aber eine Rück­füh­rung des Leich­nams ins Hei­mat­land bedeu­ten. Letz­te­res ist teu­er: Solch eine Rück­füh­rung – etwa nach Afgha­ni­stan – kos­tet rund 5000 Euro. Das ist für vie­le Geflüch­te­te kaum zu finan­zie­ren. Die Iden­ti­fi­zie­rung der Toten ist enorm wich­tig für Ange­hö­ri­ge, um die Trau­er ver­ar­bei­ten zu kön­nen. Wer den Leich­nam nicht gese­hen hat, dem fällt es oft schwer, zu begrei­fen, dass der gelieb­te Mensch tat­säch­lich tot ist. Wir ver­mit­teln bei die­sem Pro­zess zwi­schen den grie­chi­schen Behör­den und den Flücht­lin­gen bezie­hungs­wei­se ihren Angehörigen.

Die stän­di­ge Unter­stüt­zung durch PRO ASYL in der­ar­ti­gen Fäl­len ist für unse­re Arbeit äußerst wichtig.

Du und das Team von RSA leis­tet auch juris­ti­sche Unter­stüt­zung und zieht vor Gericht.

Ja, wenn Gewalt­an­wen­dung sei­tens der Küs­ten­wa­che ver­mu­tet wird, unter­stüt­zen wir die Betrof­fe­nen vor Gericht – und zwar vom ers­ten Schritt bis zum letz­ten. Die Pro­zes­se zie­hen sich zum Teil über Jah­re hin. Im Fall des Unglücks von Farm­a­ko­ni­si etwa hat der Euro­päi­sche Gerichts­hof für Men­schen­rech­te erst acht Jah­re spä­ter ent­schie­den – und Grie­chen­land in allen zen­tra­len Punk­ten ver­ur­teilt. Die stän­di­ge Unter­stüt­zung durch PRO ASYL in der­ar­ti­gen Fäl­len ist für unse­re Arbeit äußerst wichtig.

Im Lau­fe dei­ner Zeit bei RSA hast du viel Erfah­rung mit der Auf­ar­bei­tung von Schiffs­un­glü­cken und der Unter­stüt­zung von Hin­ter­blie­be­nen sam­meln müs­sen. Wel­cher Fall lässt dich nicht los?

2018 starb bei einem Unglück vor der Insel Aga­tho­ni­si eine gan­ze Fami­lie. Ins­ge­samt kamen sech­zehn Per­so­nen ums Leben, dar­un­ter sie­ben Kin­der und zwei Säug­lin­ge. Das kann ich nicht ver­ges­sen. Ein wei­te­rer Fall ist der des Mäd­chens Res­wa­na.  Sie floh mit ihrer Fami­lie im Okto­ber 2015 aus Afgha­ni­stan über das Mit­tel­meer. Das Boot ken­ter­te, unter den vie­len Toten waren auch Res­wa­nas Eltern und ihre Geschwis­ter. Sie war damals 14 Jah­re alt und über­leb­te als Ein­zi­ge ihrer Fami­lie. Die­ses Schiffs­un­glück vor der Küs­te von Les­bos war eines der schlimms­ten für mich. Mir wur­den Kin­der in die Arme gedrückt, die dem Tod nahe waren und die ich und mei­ne Kolleg*innen zusam­men mit Kran­ken­schwes­tern versorgten.

Wie schaffst du es, all die tra­gi­schen Todes­fäl­le nicht gedank­lich mit nach Hau­se zu neh­men, son­dern pro­fes­sio­nel­le Distanz zu wahren? 

Das ist nicht ein­fach. Ich bin emo­tio­nal sehr invol­viert. Pro­fes­sio­nel­le Distanz zu wah­ren, gelingt nicht immer. Wenn es um die Iden­ti­fi­zie­rung von Toten geht, um Begräb­nis­se und die Trau­er der Ange­hö­ri­gen, kann man das nicht nur aus pro­fes­sio­nel­ler War­te betrach­ten, es rührt mich mensch­lich an. Ich mache die­se Arbeit, weil es mir wich­tig ist, den Über­le­ben­den und den Toten ihre Wür­de und ihre Rech­te zurückzugeben.

Haben Sie für sich Struk­tu­ren ent­wi­ckelt, um mit die­ser enor­men psy­chi­schen Belas­tung umzugehen?

Zeit­wei­se haben wir Unter­stüt­zung durch Super­vi­si­on. Aber was uns antreibt, sind die Geflüch­te­ten selbst. Sie benö­ti­gen unse­re Unter­stüt­zung und wir kon­zen­trie­ren uns dar­auf, wie wir hel­fen kön­nen. Wir ver­su­chen, Lösun­gen zu fin­den, wie sie ihre toten Fami­li­en­mit­glie­der in Anstand und Wür­de beer­di­gen und von ihnen Abschied neh­men kön­nen. Unse­re Kraft schöp­fen wir aus der Stär­ke, die die Geflüch­te­ten selbst mit­brin­gen. Sie sind so viel stär­ker als wir.

Inwie­fern hat sich durch die­se Arbeit dein Blick auf die EU verändert? 

Ich glau­be immer noch an die Wer­te der EU. Aber dass ande­re EU-Län­der und Insti­tu­tio­nen vor den schreck­li­chen Tra­gö­di­en, die sich hier bei uns abspie­len, die Augen ver­schlie­ßen und so tun, als wüss­ten sie nichts davon, fin­de ich empö­rend. Da heißt es dann schnell, Län­der wie Grie­chen­land täten nicht genug, um die Flücht­lin­ge men­schen­wür­dig auf­zu­neh­men, dabei trägt Euro­pa eine Mit­schuld. Ich wün­sche mir, dass Geflüch­te­te mit dem glei­chen Respekt behan­delt wer­den wie EU-Bürger*innen – die Leben­den und die Toten.

Natas­sa Strach­i­ni ist Anwäl­tin, sie koor­di­niert das RSA-Team und die juris­ti­sche Arbeit von RSA. Sie lebt und arbei­tet auf der Insel Chi­os. PRO ASYL unter­stützt sie seit 2007 in ihrer Anwalts­tä­tig­keit für Geflüch­te­te. Seit 2017 ist sie für RSA tätig. 

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