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Chance vertan? Erster Umsetzungsvorschlag fürs Chancen-Aufenthaltsrecht enttäuscht
Ein halbes Jahr nach Amtsantritt wird ein erstes migrationspolitisches Vorhaben aus dem Koalitionsvertrags auf den Weg gebracht: Das Chancen-Aufenthaltsrecht. Doch der Entwurf ist so restriktiv, dass die Regelung leer laufen könnte. Es muss nachgebessert werden! Vorgesehene Verschärfungen bei Ausweisung und Abschiebungshaft gehören gestrichen.
Es ist eins der zentralen Vorhaben aus dem Kapitel zu Integration, Migration und Flucht des Koalitionsvertrags der Ampel-Regierung und könnte für 100.000 Menschen lebensverändernd sein: Das Chancen-Aufenthaltsrecht. Über 240.000 Menschen leben in Deutschland nur mit einer sogenannten Duldung. Das bedeutet oft, dass sie jederzeit abgeschoben werden könnten. Es fehlt somit an Sicherheit und Perspektive, viele dürfen nicht einmal arbeiten. Für fast die Hälfte von ihnen, etwa 100.000 Menschen, könnte das Chancen-Aufenthaltsrechts eine Kehrtwende bedeuten. Denn sie sind schon seit fünf Jahren oder länger in Deutschland und könnten damit durch das Chancen-Aufenthaltsrecht eine Aufenthaltserlaubnis auf Probe bekommen, um anschließend in eine echte Bleiberechtsregelung reinzuwachsen.
Im Wortlaut heißt es im Koalitionsvertrag:
»Der bisherigen Praxis der Kettenduldungen setzen wir ein Chancen-Aufenthaltsrecht entgegen: Menschen, die am 1. Januar 2022 seit fünf Jahren in Deutschland leben, nicht straffällig geworden sind und sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennen, sollen eine einjährige Aufenthaltserlaubnis auf Probe erhalten können, um in dieser Zeit die übrigen Voraussetzungen für ein Bleiberecht zu erfüllen (insbesondere Lebensunterhaltssicherung und Identitätsnachweis gemäß §§ 25 a und b AufenthG)
Bis zur gesetzlichen Umsetzung droht die Abschiebung
Doch zunächst einmal folgte auf diese hoffnungsvolle Ankündigung im Koalitionsvertrag eine – meist weiterhin andauernde – Hängepartie: Denn solange es keine gesetzliche Umsetzung gibt, gibt es selbst für die Menschen, die eindeutig unter die Regelung fallen würden, noch keinen Schutz vor Abschiebung. Und vielerorts wird dies von Ausländerbehörden genutzt und entsprechende Abschiebungen durchgeführt. Um dies zu verhindert hat PRO ASYL die Kampagne #RechtAufZukunft gestartet, mit der die Bundesländer aufgefordert werden, über Vorgriffserlasse ihre Ausländerbehörden anzuweisen, solche Abschiebungen zu unterlassen.
Seit Mitte Juni liegt nun ein Referentenentwurf aus dem Bundesinnenministerium zur Umsetzung des Chancen-Aufenthaltsrecht sowie weiterer Regelungen vor – ein Inkrafttreten des Gesetzes ist damit erst im Herbst realistisch. Doch der Vorschlag ist so gestaltet, dass viele Menschen entgegen dem Koalitionsvertrag ausgeschlossen werden könnten oder die Gefahr besteht, dass sie den Wechsel in ein Bleiberecht nicht schaffen und nach der einjährigen Aufenthaltserlaubnis auf Probe wieder in der Duldung landen. PRO ASYL hat den Entwurf detailliert kommentiert (siehe Stellungnahme).
Regelung entfristen!
Laut Referentenentwurf sollen Personen mit Duldung, die bis zum 1. Januar 2022 fünf Jahre in Deutschland geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen gelebt haben, die Aufenthaltserlaubnis auf Probe bekommen (Achtung: weitere Bedingungen gelten, dazu weiter unten). Diese wird dann für ein Jahr ausgestellt.
Angesichts des unter anderem durch den Krieg in der Ukraine verzögerten Gesetzgebungsprozesses ist der im Koalitionsvertrag vorgesehene Stichtag vom 1. Januar 2022 aus Sicht von PRO ASYL nicht mehr angebracht. Bis das Gesetz in Kraft tritt werden viele der Begünstigten bereits sechs Jahre mit Duldung in Deutschland gelebt haben und weitere bereits seit fünf Jahren hier leben. Um auch in Zukunft Ketten-Duldungen zu vermeiden, wäre aus Sicht von PRO ASYL eine Entfristung der Regelung zielführend. Zumindest sollte der Stichtag aber mit dem Inkrafttreten der Regelung korrespondieren.
Chancen-Aufenthaltsrecht nicht einschränken!
Der vorliegende Referentenentwurf setzt zudem die Vorgaben des Koalitionsvertrags nicht ausreichend um und weist verschiedene Konstruktionsfehler auf. Laut dem aktuellen Vorschlag wird zum Beispiel nicht von der Erfüllung der Passpflicht als Voraussetzung für einen Aufenthaltstitel abgesehen. Damit würde absehbar ein Großteil der ansonsten begünstigten Personen vom Chancen-Aufenthaltsrecht ausgeschlossen werden. Denn die Beschaffung eines Passes ist oft die größte Hürde bei der Identitätsklärung, für die das Chancen-Aufenthaltsrecht gerade gedacht ist.
Der sächsische Flüchtlingsrat macht mit Fällen aus seiner Beratungspraxis auf die Probleme bei Identitätsklärung und insbesondere der Passbeschaffung deutlich:
Nach der Ablehnung seines zweijährigen Asylverfahrens wurde Ramin 2017 die Duldung erteilt. Damit konnte er weiterhin einer regelmäßigen Beschäftigung nachgehen, verdiente seinen Lebensunterhalt selbst, mietete seine eigene Wohnung an.
Im September 2020 wurde ihm die »Duldung light« erteilt. Eine Geburtsurkunde wurde nicht als ausreichend für die Identitätsklärung erachtet. Damit wurde Ramin seine Arbeitserlaubnis umgehend entzogen, er musste sich wieder um Asylbewerberleistungen registrieren und erhielt für einen gesamten Monat lediglich 160€ für Lebensmittel, Fahrkarten, um Termine wahrzunehmen, Körperhygiene, Kleidung etc.
Der Termin bei der afghanischen Botschaft zur Passbeantragung brachten ihm weder Duldung noch Arbeitserlaubnis zurück. In der Zwischenzeit regieren die Taliban wieder in Afghanistan. Aufgrund der daraus resultierenden Unmöglichkeit der Passbeschaffung erhielt er Ende 2021 Duldung und Arbeitserlaubnis zurück. Doch kann er, obwohl er inzwischen wieder in Vollzeit sozialversicherungspflichtig beschäftig ist, angesichts der restriktiven Praxis in Sachsen jemals einen Aufenthalt ohne gültigen Reisepass beantragen?
* Name zum Schutz der Person geändert
Harleen reiste 2013 aus Indien nach Deutschland ein. Ihr Ehemann in Indien hat sie geschlagen, getreten, eingesperrt. Wegen ihrer Flucht nach Deutschland will die Verwandtschaft nichts mehr mit ihr zu tun haben, versagt ihr jegliche Unterstützung.
Nach einem abgelehnten Asylantrag 2015 arbeitete Harleen im Status der Duldung jahrelang in einer Bäckerei und hatte große Freude daran. 2017 heiratete sie religiös ihren aus Pakistan stammenden Mann. Die Ende 2019 eingeführte »Duldung light« wurde ihr wegen fehlendem Pass umgehend von der Ausländerbehörde erteilt. Sie konnte nur eine Kopie ihres alten Reisepasses vorlegen, doch genügte dies nicht als Identitätsnachweis.
Wegen des Beschäftigungsverbotes, das mit der »Duldung light« einhergeht, musste sie den Arbeitsplatz kündigen. 2020 bekamen sie und ihr neuen Mann einen Sohn. Seit Januar 2020 bemüht sie sich um die Passbeschaffung und den Identitätsnachweis. Da sie gemäß indischem Recht nach wie vor verheiratet ist und für die Passbeantragung die Erlaubnis des Ehemannes vorliegen muss, versuchte sie ein Scheidungsverfahren über einen Vertrauensanwalt in Indien einzuleiten.
Für dieses Verfahren benötigt der Anwalt aber eine bei der Botschaft unterzeichnete Vollmacht. Allerdings verlangt die Botschaft dafür ein gültiger Reisepass. In der Quadratur des Kreises ist weder die Scheidung, noch die Passbeantragung möglich. Trotzdem fährt sie auf wiederholte Aufforderung der Ausländerbehörde immer wieder vergeblich zur Botschaft.
Außerdem sieht der Referentenentwurf die Einfügung des im Koalitionsvertrag nicht vorgesehenen Ausschlusses von Personen vor, deren Abschiebung aufgrund vermeintlich falscher Angaben oder Täuschung über ihre Identität oder Staatsangehörigkeit ausgesetzt ist. Damit wird nicht nur ein zusätzlicher Prüfungsschritt vorgesehen, es ist auch absehbar, dass dies in der Praxis in manchen Bundesländern, wie Sachsen oder Bayern, durch die örtliche restriktive Anwendung zum Ausschluss vieler Menschen führt, die vom Bundesgesetzgeber gar nicht gemeint sind.
Der Ausschlussgrund wegen Straffälligkeit ist außerdem viel zu niedrigschwellig angesetzt und es wird sogar eine extrem bedenkliche – nach Sicht vieler Jurist*innen und auch Gerichten verfassungswidrige – Form der Sippenhaftung eingeführt, die die gesamte Familie vom Chancen-Aufenthaltsrecht ausschließt, wenn ein Mitglied unter den Ausschlussgrund fällt. Dieser Verschärfungen der im Koalitionsvertrag vorgesehenen Regelung müssen wieder gestrichen werden!
Verlängerungsoption muss auf den Tisch
Angesichts der unklaren wirtschaftlichen Entwicklungen im Zuge des Kriegs in der Ukraine besteht die Gefahr, dass es für viele Menschen – insbesondere Familien – letztlich schwierig werden wird, alle Voraussetzungen für den Übergang in ein Bleiberecht zu erfüllen. Für ein Bleiberecht bei nachhaltiger Integration (§ 25b AufenthG) sind zum Beispiel neben der Identitätsklärung auch die überwiegende Sicherung des Lebensunterhalts – was letztlich einen regelmäßigen Job voraussetzt – und mündliche Deutschkenntnisse auf A2-Niveau notwendig. Letzteres kann eine Herausforderung werden, da viele Betroffene bislang keinen Anspruch auf z.B. einen Integrationskurs hatten. Daher sollte eine Verlängerungsmöglichkeit des Chancen-Aufenthaltsrechts für Fälle vorgesehen werden, in welchen die Betroffenen unverschuldet nicht in der Lage waren, sämtliche Voraussetzungen für ein Bleiberecht binnen Jahresfrist zu bewerkstelligen.
Um den Übergang in ein Bleiberecht nicht für viele zum Stolperstein zu machen muss auch ein weiteres Versprechen des Koalitionsvertrags eingelöst werden: Die Identitätsklärung per Versicherung an Eides statt. Denn wie die Beispiele vom sächsischen Flüchtlingsrat zeigen kann die Identitätsklärung für manche Menschen trotz entsprechender Bemühung ein dauerhaftes Problem und letztlich Sperre für Bleiberechtsregelungen sein. Sie müssen unter die Frage der vermeintlich ungeklärten Identität einen Schlussstrich ziehen können.
»Rückkehroffensive« bedeutet auch bei der Ampel-Regierung problematische Gesetzesverschärfungen
Auch eine weitere negative Überraschung hat der Referentenentwurf im petto: Neben dem Chancen-Aufenthaltsrecht und im Koalitionsvertrag vorgesehenen Verbesserungen – u.a. bei den Bleiberechtsregelungen für gut integrierte Jugendliche und Heranwachsende sowie für gut integrierte Erwachsene – sieht der Entwurf auch im Koalitionsvertrag nicht verankerte Verschärfung bei der Ausweisung von Schutzberechtigten sowie bei der Abschiebungshaft für Straftäter*innen vor.
Der Standard für eine Ausweisung, durch die der Aufenthaltstitel wegen einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, entzogen und die Person ausreisepflichtig wird, soll bei Asylberechtigten, Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigen– mit Verweis auf eine falsche europarechtliche Grundlage – abgesenkt werden. Unzulässig ist die vorgesehene Gesetzesänderung aber vor allem im Hinblick darauf, dass künftig auch generalpräventive Gründe – in Form der Abschreckung potentiell künftig straffälliger Ausländer*innen – für eine Ausweisung genügen sollen und nicht mehr darauf abgestellt werden soll, dass tatsächlich (noch) von der auszuweisenden Person selbst eine Gefahr ausgeht.
Im Regelfall darf Abschiebungshaft nur dann angeordnet werden, wenn die Abschiebung innerhalb von drei Monaten durchgeführt werden kann. Denn Abschiebungshaft muss stets ultima ratio sein und auf die kürzest mögliche Zeit begrenzt werden. Nach dem vorliegenden Referentenentwurf wird beabsichtigt, die Ausnahme für diese Drei-Monats-Grenze von »Gefährdern« auch auf manche Straftäter*innen auszuweiten. Die vorgeschlagene Regelung ist weder verhältnismäßig noch notwendig. Denn die Abschiebung kann bei Straftäter*innen unmittelbar nach Verbüßung der Strafhaft vor der Entlassung aus derselben vorgenommen werden – die Ausländerbehörden hatten genug Zeit diese während der Strafhaft vorzubereiten. Eine über die Strafhaft andauernde Abschiebungshaft stellt sich vor diesem Hintergrund in der Regel als unnötig und damit als unverhältnismäßig dar.
Selbst unter SPD-Führung lebt das Narrativ fort, dass jede Verbesserung durch eine Verschlechterung erkauft werden muss.
Seehofer-Mentalität lebt weiter im Bundesinnenministerium
In der Praxis wird Abschiebungshaft laut der Erfahrung von Rechtsanwält*innen circa in der Hälfte der Fälle rechtwidrig angeordnet (siehe hierzu auch das Interview mit PRO ASYL Menschenrechtspreisträger Rechtsanwalt Peter Fahlbusch anlässlich des Referentenentwurfs). Dies ist angesichts des hohen verfassungsrechtlichen Guts der Freiheit ein rechtstaatlicher Skandal und macht zwar den eigentlich notwendigen Reformbedarf deutlich, der aber gerade nicht durch die vorgesehene Verschärfung der Abschiebungshaft gedeckt wird.
Dass im Referentenentwurf das »Humanität und Ordnung«-Credo von Ex-Innenminister Seehofer direkt in der Einleitung zur Begründung der Verschärfung aufgenommen wird, zeigt: Selbst unter SPD-Führung lebt das Narrativ fort, dass jede Verbesserung durch eine Verschlechterung erkauft werden muss. Mit einem »Neuanfang in der Migrations- und Integrationspolitik« oder einem Paradigmenwechsel in der Flüchtlingspolitik, wie im Koalitionsvertrag versprochen, hat das nichts zu tun. Beide Verschärfungen sind aus Sicht von PRO ASYL aufgrund der genannten rechtlichen Bedenken aus dem Entwurf zu streichen.
Weitere Anliegen des Koalitionsvertrags im Entwurf unzureichend oder gar nicht umgesetzt
Wenn nicht vereinbarte Verschärfungen bei Ausweisung und Abschiebungshaft im Referentenentwurf zu finden sind, dann fragt man sich, warum z. B. die im Koalitionsvertrag explizit vorgesehene Streichung der »Duldung Light« noch nicht im Entwurf enthalten ist. Neben einem automatischen Arbeitsverbot wenn angeblich nicht alles Zumutbare für die Identitätsklärung getan wurde, fungiert die Duldung Light auch als Sperre zu Bleiberechtsregelungen. Entsprechend würde die Streichung sich sinnvoll in den vorliegenden Referentenentwurf eingliedern. Auch die versprochene Abschaffung sämtlicher Arbeitsverbote lässt der vorliegende Gesetzentwurf vermissen.
Neben der Einführung des Chancen-Aufenthaltsrechts und der Änderungen beim Bleiberecht werden weitere Änderungen durch den Referentenentwurf vorgeschlagen. Doch auch die vorgesehene Öffnung der Integrationskurse sowie das Absehen vom Erfordernis einfacher deutscher Sprachkenntnisse beim Ehegattennachzug werden nicht vollständig, dem Koalitionsvertrag entsprechend, umgesetzt (siehe hierzu die Ausführungen in der Stellungnahme).
Jede Woche, jeder Tag kann für die Menschen, die später vom Chancen-Aufenthaltsrecht profitieren können, den Unterschied ums Ganze machen, wenn sie weiterhin nicht vor Abschiebung geschützt sind.
Fazit: Grundlegende Überarbeitung dringend notwendig!
Die Analyse des Referentenentwurfs macht also deutlich: Wenn das Chancen-Aufenthaltsrecht ein Erfolg werden soll und tatsächlich einer signifikanten Zahl an Menschen zum ersten Mal eine Perspektive und Sicherheit in Deutschland geben soll, dann ist noch einiges zu tun. Basierend auf der detaillierten Stellungnahme setzt sich PRO ASYL nun für die notwendigen Verbesserungen ein. Der nächste Schritt ist, dass das Kabinett über den – hoffentlich bereits nachgebesserten – Entwurf abstimmen wird. Doch auch im anschließenden parlamentarischen Verfahren, das erst nach der Sommerpause starten wird, können noch Änderungen erfolgen.
Das Problem: Jede Woche, jeder Tag kann für die Menschen, die später vom Chancen-Aufenthaltsrecht profitieren können, den Unterschied ums Ganze machen, wenn sie weiterhin nicht vor Abschiebung geschützt sind. Unterstützt deswegen die Kampagne #RechtAufZukunft und macht euch gegenüber euren zuständigen Minister*innen und Senator*innen für entsprechende Vorgriffsregeln stark!
(wj)