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Bericht über gravierende Missstände in Lagern auf griechischen Inseln

Menschenunwürdige Bedingungen, rigide Überwachung, Verfahrensprobleme – die systematischen Missstände in den Flüchtlingslagern auf den Ägäis-Inseln halten an. Ein neuer Bericht der PRO ASYL-Schwesterorganisation Refugee Support Aegean (RSA) zeigt die harte Realität, die mit der EU-Asylrechtsreform an sämtlichen Außengrenzen droht.
Auch mehr als vier Jahre nach dem Brand des Flüchtlingslagers von Moria, der international für Entsetzen sorgte und die Verantwortlichen unter Druck setzte, ist es noch immer nicht gelungen, menschenwürdige Zustände für Asylsuchende auf den ägäischen Inseln zu etablieren – trotz Einrichtung einer europäischen Task Force, vollständiger EU-Finanzierung und Überwachung durch die EU-Kommission.
Im Gegenteil, hinter hohen Zäunen hält die Elendsverwaltung an. So lässt sich der aktuelle Bericht »Refugee Facilities on the Aegean Islands« von Refugee Support Aegean (RSA), der griechischen Schwesterorganisation von PRO ASYL, zu den Bedingungen in den CCAC-Lagern zusammenfassen. Die sicherheitstechnisch hoch aufgerüsteten und gefängnisähnlichen neuen Lagerstrukturen (Closed Controlled Access Centres – CCAC) beziehungsweise die auf Lesbos und Chios genutzten Provisorien sind größtenteils überbelegt und nur wenige Jahre nach ihrer Errichtung schon wieder marode. Die Deckung selbst elementarer Grundbedürfnisse wie Kleidung, Wasser, medizinische Versorgung und Lebensmittel ist nicht gesichert. Nicht einmal für besonders schutzbedürftige Menschen sieht die Lage besser aus – sogar unbegleitete Kinder hausen weiterhin unter katastrophalen Bedingungen in als »sicher« deklarierten Bereichen der Lager. Kurzum: Es mangelt an allem.
Die Deckung selbst elementarer Grundbedürfnisse wie Kleidung, Wasser, medizinische Versorgung und Lebensmittel ist nicht gesichert.
Die Einrichtungen haben einen europäischen Anstrich. Sie werden nicht nur mit europäischen Mitteln finanziert, vielmehr übt die EU-Kommission auch eine Kontrollfunktion über die Lager aus. Aufgrund dessen und der dortigen Verfahrensabläufe gelten die CCACs als Testballon für die Umsetzung der beschlossenen Reform des gemeinsamen europäischen Asylsystems.
Der Bericht »Refugee Facilities on the Aegean Islands« liefert einen Überblick über die Abläufe und Verfahren in den fünf sogeannten Closed Controlled Access Centern (CCAC) auf den griechischen Ägäis-Inseln und stellt detailliert die Lebensbedingungen und Missstände auf Samos, Kos, Leros, Lesbos und Chios dar. Zahlreiche Aussagen von Schutzsuchenden werden mit fotografischen und audiovisuellen Eindrücken veranschaulicht und durch Grafiken ergänzt.
Die von RSA vorgelegte Analyse stützt sich auf die fortlaufende Begleitung und Vertretung von Asylsuchenden, die sich in CCACs aufhalten. RSA hat Standorte auf Chios und Lesbos, zusätzlich führten Mitarbeitende der Organisation zwischen den 20. September 2024 und dem 20. November 2024 Ortsbesuche auf den anderen Inseln durch. Ausgewertet wurden zudem offizielle Statistiken, Dokumente der EU-Kommission, Berichte von Betroffenen, Personal und Freiwilligen sowie Aussagen der Behörden und von Mitarbeitenden des UN-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR).
RSA berichtet regelmäßig über die Situation in griechischen Unterbringungsstrukturen. Bereits 2023 erschien mit »What is happening today in refugee structures on the Aegean islands« ein erster Überblick über die anhaltenden Probleme in den EU-Haftlagern auf den Ägäis-Inseln. Der aktuelle Bericht knüpft daran.
Wochenlange Inhaftierung statt rechtsstaatlicher Standards im Vorverfahren (Screening)
Auch von rechtsstaatlichen Asylverfahren kann trotz Unterstützung der Asylagentur der Europäischen Union nicht die Rede sein, berichten die Kolleg*innen von RSA: Schon der Zugang zu den CCACs, um einen Asylantrag zu stellen, ist für Neuankömmlinge nicht gesichert. Die Folge: Viele Asylsuchende auf den Inseln sind zunächst obdachlos, bis sie einen Asylantrag stellen können. Darüber hinaus werden die Mobiltelefone von neu ankommenden Schutzsuchenden auf mehreren Inseln ohne Einleitung eines formellen Verfahrens auf unbestimmte Zeit beschlagnahmt. Diese Praxis ist klar rechtswidrig, wird aber von den griechischen Behörden systematisch angewandt.
Vor Beginn des eigentlichen Asylverfahrens durchlaufen Schutzsuchende in den CCACs ein sogenanntes Screening-Verfahren. Dieses dient formell dazu, die Asylsuchenden zu registrieren und herauszufinden, ob jemand zum Beispiel aufgrund von Krankheit oder einer Behinderung besonders schutzbedürftig ist. Laut Screening-Verordnung der EU muss ein solches Verfahren in maximal sieben Tagen abgeschlossen sein.
Auf den Inseln wird das Verfahren vor allem genutzt, um pauschal alle Asylsuchenden für mehrere Wochen de facto in den CCACs zu inhaftieren. Der Zugang zu einem Rechtsbeistand ist während dieser Zeit regelmäßig versperrt, weil sich der zuständige Aufnahme- und Identifizierungsdienst (Reception and Identification Service – RIS) weigert, die für die Bevollmächtigung eines Rechtsbeistands notwendige Beglaubigung einer Unterschrift durchzuführen. Da es in den CCACs bei weitem nicht genügend medizinisches Personal gibt (siehe unten), bleibt die Feststellung medizinischer Schutzbedarfe aus. Regelmäßig werden bei der Registrierung falsche Staatsangehörigkeiten eingetragen, was für die betroffenen Menschen im anschließenden Asylverfahren zu großen Problemen führt. Ohne Rechtsbeistand haben die Asylsuchenden effektiv keine Möglichkeit, ihre Rechte durchzusetzen – sie sind den Behörden schutzlos ausgeliefert, das Screening-Verfahren wird zur Farce.
Mangelhafte Grenzverfahren ohne rechtlichen Beistand
Auch im eigentlichen Asylverfahren fehlt es an rechtlichem Beistand, der auf den Inseln von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie der PRO ASYL-Schwesterorganisation RSA geleistet wird. Der Bedarf an rechtlicher Beratung und anwaltlicher Vertretung kann von den Organisationen nicht einmal ansatzweise gedeckt werden. Erst in der zweiten Instanz haben Asylsuchende die Möglichkeit, eine staatlich finanzierte anwaltliche Vertretung einzuschalten. Zu diesem Zeitpunkt können jedoch Fehler im bisherigen Verfahren oftmals nicht mehr korrigiert werden. Zudem haben die staatlich finanzierten Anwält*innen ihre Arbeit zeitweise niedergelegt, weil sie vom griechischen Staat seit November 2023 nicht mehr bezahlt werden.
Besonders dramatisch ist der mangelhafte Zugang zu rechtlicher Beratung und Vertretung, weil die griechische Asylbehörde auf den Inseln willkürlich beschleunigte Grenzverfahren mit eingeschränkten Verfahrensgarantien und verkürzten Fristen durchführt. Solche Verfahren sind selbst mit qualifizierter anwaltlicher Vertretung rechtsstaatlich höchst bedenklich. Ohne anwaltliche Vertretung und rechtliche Beratung führen sie systematisch dazu, dass Sachverhalte nicht ausreichend aufgeklärt werden und Asylsuchende nicht ausreichend Gelegenheit erhalten, ihre Fluchtgründe vorzutragen. In der Konsequenz bleibt den Menschen der Schutz verwehrt, der ihnen rechtlich eigentlich zusteht. Dabei hat die überwiegende Mehrheit der Asylsuchenden auf den Inseln Anspruch auf internationalen Schutz, weil sie aus Herkunftsländern mit hohen Anerkennungsquoten kommen.
Ein weiteres Problem ist das Auseinanderfallen von Anhörer*innen und Entscheider*innen: Anhörungen werden auf den Inseln vom Personal der EU-Asylagentur durchgeführt. Die Entscheidung über den Asylantrag wird jedoch vom Personal der griechischen Asylbehörde gefällt. Das bedeutet, es wird nach Aktenlage entschieden, die zuständigen Entscheider*innen können sich keinen persönlichen Eindruck von den Asylsuchenden verschaffen, über deren Schicksal sie entscheiden. Das ist jedoch vor allem, wenn es um Fragen der Glaubwürdigkeit geht, enorm wichtig.
Die Kolleg*innen von RSA weisen in ihrem Bericht auf eine Reihe weiterer schwerwiegender Missstände bei der Unterbringung und Versorgung hin. Ein Auszug:
Die CCACs sind nicht nur mehrfach mit Stacheldraht umzäunt, sondern werden zudem teilweise mit hochmodernen Sicherheitssystemen überwacht. Neben Ein- und Ausgangskontrollen, bei denen wie am Flughafen auch biometrische Daten erfasst werden (teilweise vollautomatisiert), wird auch der Innenbereich mit Kameras überwacht. Dabei kommt ein System namens »Centaur« zum Einsatz, das mithilfe von KI-gestützten Kameras und Drohnen Bewegungsanalysen erstellt. Die griechische Datenschutzbehörde hat die Verwendung von Centaur und von Hyperion, dem vollautomatisierten Kontrollsystem bei der Einlasskontrolle, als rechtswidrig eingestuft und dem griechischen Migrationsministerium eine Geldstrafe in Höhe von 175.000 Euro auferlegt. Trotzdem sind beide Systeme weiterhin im Einsatz. Schutzsuchende werden in den CCACs wie Schwerverbrecher*innen in einem Hochsicherheitsgefängnis behandelt und rund um die Uhr überwacht. Das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter (CPT) hält die CCACs wegen »übermäßiger Sicherheitsvorkehrungen und unnötiger Stacheldrahtzäune nicht für die Unterbringung von Kindern und verletzlichen Personen geeignet«.
Die Einrichtungen sind keine fünf Jahre alt – dennoch ist der Zerfall in vollem Gange. Zur Unterbringung genutzte Container und Sanitäranlagen sind verdreckt und zum Teil unbenutzbar, notwenige Reparaturen bleiben aus. Die offizielle Kapazität der Lager weicht somit von der tatsächlich nutzbaren Kapazität ab.
Die Versorgungslage in den CCACs unterscheidet sich, durchweg ist sie jedoch von Missständen geprägt. Einige Eindrücke: Die Bewohner*innen erzählen von »Betten« ohne Matratzen, von Bettwanzen und Kakerlaken (etwa auf Samos). Sie klagen über auch im Winter fehlende Möglichkeiten heiß zu Duschen (etwa auf Lesbos), und zeitlich begrenzter Wasserversorgung wegen anhaltender infrastruktureller Probleme (etwa auf Samos und Leros) und fragwürdige Wasserqualität (auf Kos). Auf Samos gibt es zudem auch Probleme bei der Abwasserentsorgung. Die verteilten Lebensmittel sind mancherorts mangelhaft, aus Lesbos etwa wird von ungenießbaren Speisen sowie Insekten im Essen berichtet. Zusätzlich erhielten die Menschen hier im November lediglich eineinhalb Liter Trinkwasser pro Tag. Bewohner*innen auf Kos beklagen, dass die Speisung nicht nur einseitig, sondern vor allem zu gering sei.
Hinzukommt die vielerorts unzureichende Bereitstellung von Non-Food-Items, wie saisonale Kleidung und Hygieneartikel. So fehlen Bewohner*innen auf Leros und Samos grundlegende Dinge wie Seife und Toilettenpapier, wodurch den Menschen in den Massenunterkünfte eine ausreichende tägliche Hygiene unmöglich gemacht wird.
Rechtsstaatlich ein großes Problem ist, dass Rechtsanwält*innen, die ihre Mandant*innen treffen wollen, der Zugang zu den hermetisch abgeriegelten CCACs immer wieder verweigert oder nur unter erschwerten Bedingungen genehmigt wird. Ein Beispiel: Als Anwält*innen der PRO ASYL-Schwesterorganisation RSA ihren neuen Mandanten im CCAC auf Samos für eine Beratung und zur Vollmachtsunterschrift besuchen wollten, wurde ihnen der Zutritt zunächst verweigert. Dieser sei erst nach der Vollmachtsvorlage möglich – hier beißt sich die sprichwörtliche Katze in den Schwanz.
Laut einer Antwort, die RSA vom zuständigen Aufnahme- und Identifizierungsdienst erhielt, gab es mit Stand vom 11. November 2024 nur in dem Lager auf Lesbos eine*n Allgemeinmediziner*in – alle anderen CCAC waren ohne allgemeinmedizinische Versorgung. Zu diesem Zeitpunkt waren mehr als 10.000 Menschen in den CCACs untergebracht. Zahlreiche Stellen für medizinisches Fachpersonal sind unbesetzt. Allerdings würde selbst das vollständig eingeplante medizinische Personal nicht ausreichen, um die Bewohner*innen der CCACs angemessen versorgen zu können. Auch das Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter (CPT) appelliert in seinem jüngsten Bericht eindringlich an die griechischen Behörden, dass jedes CCAC über mindestens eine Ärztin und drei Krankenpfleger*innen für jeweils 500 Personen verfügen sollte, um eine grundlegende Gesundheitsversorgung zu gewährleisten.
Asylsuchende in Griechenland haben Anspruch auf einen monatlichen Bargeldbetrag von 75 Euro für eine Einzelperson bis zu 210 Euro für Familien. Die Gelder stammen aus dem europäischen Asyl‑, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF). Seit Mai 2024 wurden die Gelder jedoch nicht mehr ausgezahlt, Asylsuchende erhielten über Monate und ohne eine Begründung schlicht keine Geldleistungen durch die zuständige griechische Behörde. Erst im Oktober wurden die Zahlungen wieder sukzessiv aufgenommen, mehrere Raten für den Zeitraum davor stehen jedoch noch aus.
Wegen ausbleibender Zahlungen durch das griechische Migrationsministerium hat die Nichtregierungsorganisation METAdrasi ihre Dolmetschertätigkeiten in ganz Griechenland eingestellt, die sie bis dahin im Rahmen einer Vereinbarung mit dem Migrationsministerium erbracht hatte. Seitdem fehlen im ganzen Land Dolmetscher*innen, so auch in den CCACs. Dolmetscher*innen, die zwischenzeitlich von der EU-Asylagentur zur Verfügung gestellt wurden, können die Lücken nicht schließen.
Asylsuchende, die als Flüchtlinge anerkannt werden, müssen die CCAC innerhalb von 30 Tagen ab Schutzgewährung verlassen. Die eh schon defizitären Unterstützungsleistungen, die sie während der Unterbringung im CCAC erhalten, werden dann umgehend eingestellt. Sie sind ab sofort komplett auf sich allein gestellt, ein weiterer Aufenthalt in den Lagern wird nicht geduldet. Dies gilt selbst in solchen Fällen, in denen die Schutzberechtigten noch auf die Ausstellung ihrer Aufenthaltstitel warten. In der Folge campieren zahlreiche anerkannte Flüchtlinge auf den Inseln ohne jegliche Versorgung, ohne Zugang zu fließendem Wasser und Sanitäranlagen in leerstehenden Gebäuden, Parks und an Stränden. Betroffen sind ausnahmslos alle – auch Familien mit kleinen Kindern und Menschen mit Behinderungen oder gesundheitlichen Problemen.
Im Fall einer siebenköpfigen Familie mit einem wenige Wochen alten Säugling, die nach Erhalt der Flüchtlingsanerkennung das CCAC auf Kos verlassen musste, aber noch auf die Ausstellung von Dokumenten wartete, verpflichtete der EGMR im Eilverfahren Griechenland im Juli 2024, die Familie angemessen unterzubringen und zu versorgen. Die Familie hatte zu diesem Zeitpunkt mit dem Säugling bereits zwei Wochen bei extremer Hitze ohne jegliche Versorgung und Zugang zu Sanitäreinrichtungen auf der Straße gelebt. In Reaktion auf die Anordnung aus Straßburg wurde die Familie im CCAC auf Kos zwar wieder aufgenommen und mit Brot und Wasser versorgt. Sie wurden jedoch in einem kaputten und verdreckten Container ohne Türen und Fenster in einem geschlossenen Bereich des Lagers untergebracht – obwohl funktionierende Container im normalen Bereich des CCAC verfügbar waren.
Trotz bekannter Mängel: Modell für zukünftige EU-Grenzverfahren
Die Erkenntnisse in dem Ende 2024 veröffentlichen Bericht werden unter anderem auch vom Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter (CPT) bestätigt, das die Lebensbedingungen in den Lagern in seinem jüngsten Bericht als »unmenschlich und erniedrigend« bezeichnet. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Lage erkannt und Griechenland in mehreren Eilverfahren verpflichtet, besonders schutzbedürftige Asylsuchende aus den CCACs menschenwürdig unterzubringen. Wie katastrophal die Bedingungen sind, belegt eine Entscheidung des EGMR von Februar 2024 zu einer alleinerziehenden Mutter mit einem Kleinkind im CCAC auf Samos: Sie musste ohne gesicherten Zugang zu Verpflegung, Hygieneartikeln und medizinischer Versorgung wochenlang die gleiche Kleidung tragen und sich ein Etagenbett mit einem fremden Mann teilen.
Es sind eben jene Lager, in denen ab 2026, wenn die beschlossene Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) in Kraft tritt, alle Asylsuchenden im Screening- und Grenzverfahren festgehalten werden sollen. Sie gelten als Prototypen für die Umsetzung der Reform. Der EU-Kommission sind die Zustände in den CCACs bestens bekannt, sie hat jedoch trotz der zentralen Rolle, die sie bei der Planung, der Finanzierung und dem Monitoring der Lager innehat, bisher keine wirksamen Schritte unternommen, um die Situation zu verbessern.
(ame, mz)