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Völlig zerstört: die ehemalige »IS«-Hochburg Mossul im Irak, September 2017. Foto: dpa/Marc-Antoine Pelaez

Seit der Vertreibung des »Islamischen Staats« werden politische Forderungen nach einer Rückkehr vor allem irakischer Flüchtlinge lauter. Dabei wäre ihre Zukunft in dem destabilisierten Land alles andere als sicher.

Es wird noch gekämpft im Irak und in Tei­len Syri­ens. Mit der Zurück­drän­gung des soge­nann­ten »Isla­mi­schen Staats« hat sich die Zahl der kämp­fen­den Akteu­re mit den unter­schied­lichs­ten Inter­es­sen nicht verkleinert.

Absurde Rückkehrforderungen

Den­noch wer­den seit der Ver­trei­bung des »IS« aus gro­ßen Tei­len Syri­ens und des Irak in Deutsch­land poli­ti­sche For­de­run­gen nach einer bal­di­gen Rück­kehr vor allem ira­ki­scher Flücht­lin­ge in ihr Her­kunfts­land immer lau­ter. Die Bun­des­re­gie­rung will im Irak, in Bag­dad und Erbil, Migra­ti­ons­be­ra­tungs­zen­tren eröff­nen. Über das Pro­gramm »Per­spek­ti­ve Hei­mat« sol­len bis zu 10.000 ira­ki­sche Flücht­lin­ge zur Rück­kehr bewegt wer­den. Gleich­zei­tig soll der Wie­der­auf­bau im Irak in die­sem Jahr mit 350 Mil­lio­nen Euro unter­stützt werden.

Der Irak ist nach wie vor ein poli­tisch, kon­fes­sio­nell und ter­ri­to­ri­al tief gespal­te­nes Land, ein in vie­ler­lei Hinsicht
geschei­ter­ter Staat.

Aus­ge­blen­det wird, dass es zwar eine Viel­zahl von Rückkehrer*innen und Rück­kehr­ver­su­chen ins­be­son­de­re in befrei­te Tei­le des Irak gibt, dass jedoch nie­mand zu sagen wagt, wie eine halb­wegs sta­bi­le poli­ti­sche Ord­nung aus­se­hen könn­te, in der Men­schen nicht damit rech­nen müs­sen, erneut ver­folgt und ver­trie­ben zu wer­den. In man­cher Hin­sicht waren das schnel­le Auf­tau­chen und der zeit­wei­li­ge Erfolg des »IS« ein Ergeb­nis der vor­her exis­tie­ren­den poli­ti­schen Struk­tu­ren, deren Zer­rüt­tung eine lan­ge Geschich­te hat – eine Geschich­te, die  mit exter­nen Akteu­ren, wie den Kolo­ni­al­mäch­ten und der spä­te­ren Inter­es­sen­po­li­tik des Wes­tens zu tun hat.

Am Ende des 1. Welt­krie­ges hat­ten Bri­ten und Fran­zo­sen nicht nur die ehe­mals zum Osma­ni­schen Reich gehö­ren­den Gebie­te Nord­afri­kas über­nom­men. Bei den Frie­den­ver­hand­lun­gen in Paris 1919 wur­de auch ein gro­ßer Teil Ara­bi­ens in bri­ti­sche und fran­zö­si­sche Ein­fluss­ge­bie­te unter­teilt. Vor­an­ge­gan­gen war ein 1916 geschlos­se­nes Geheim­ab­kom­men, das den Namen der Unter­händ­ler trägt: Sykes-Picot. Was sie taten, wuss­ten die Han­deln­den. Im bri­ti­schen Außen­mi­nis­te­ri­um nann­te man die Akti­on: »Die gro­ße Plün­de­rung«. Die Bri­ten raff­ten drei ehe­mals weit­ge­hen­de auto­no­me Pro­vin­zen des Osma­ni­schen Rei­ches in Meso­po­ta­mi­en zu einem Gebiet zusam­men und nann­ten es »Irak«. Im Nor­den leb­ten Kur­den, im mitt­le­ren Irak sun­ni­ti­sche Ara­ber und im Süden ara­bi­sche Schii­ten. Das wesent­lich grö­ße­re ex-osma­ni­sche Groß­sy­ri­en wur­de in klei­ne­re Teil­staa­ten zer­legt – einer davon das neue klei­ne­re Syrien.

Die Metho­de der Ein­fluss­nah­me hat­ten die Kolo­ni­sa­to­ren zuvor bereits in ande­ren Tei­len der Welt, so im nicht­ara­bi­schen Afri­ka ange­wandt. Man mach­te eine Min­der­heit zu loya­len Ver­wal­tern, davon aus­ge­hend, dass eine sol­che Min­der­heit an der Macht aus Eigen­in­ter­es­se und Selbst­schutz immer zur Koope­ra­ti­on bereit wäre. Im Irak setz­ten die Bri­ten einen König ein, der kei­ner­lei Ver­bin­dung zu Unter­ta­nen und Regio­nen hat­te. In einem über­wie­gend von Schii­ten bewohn­ten Land ent­stand eine sun­ni­ti­sche Domi­nanz. In Syri­en, sun­ni­tisch  geprägt, brach­ten die Fran­zo­sen die schii­ti­sche Min­der­heit der Ala­wi­ten an die Macht. Unter den inho­mo­ge­nen und auf­ok­troy­ier­ten Natio­nal­staa­ten exis­tier­ten die alten sozia­len Ord­nun­gen wei­ter, Geflech­te der Loya­li­tä­ten zwi­schen Stäm­men und Fami­li­en­clans. In die­sem Sys­tem spiel­ten die Euro­pä­er je nach Inter­es­sen­la­ge alle Akteu­re gegen­ein­an­der aus. Selbst als die Kolo­ni­al­mäch­te Zug um Zug Staa­ten in die Unab­hän­gig­keit ent­lie­ßen, sicher­ten sie sich in Ver­trä­gen Mili­tär­ba­sen und die fak­ti­sche Kon­trol­le über die Außenpolitik.

Nach dem 2. Welt­krieg jedoch ent­wi­ckel­ten sich mit dem Zer­fall der Kolo­ni­al­im­pe­ri­en neue Kräf­te: der ara­bi­sche Natio­na­lis­mus. Gleich­zei­tig wur­den öko­no­misch bis dahin eher unin­ter­es­san­te Staa­ten wie der Irak auf­grund gro­ßer Ölfun­de plötz­lich geo­po­li­tisch inter­es­sant. In den künst­li­chen Natio­nal­staa­ten des Nahen Ostens wur­den Köni­ge und Par­la­men­te aus dem Weg geräumt. Pan­ara­bi­sche Mili­tärs ergrif­fen in Syri­en und im Irak, aber auch anders­wo, die Macht, die sog. Baath-Regime. In Syri­en und im Irak ent­wi­ckel­ten sich bru­ta­le auto­kra­ti­sche Regime mit all­ge­gen­wär­ti­gen Geheim­diens­ten, die gegen jede Art ernst­haf­ter Oppo­si­ti­on gewalt­tä­tig vor­gin­gen, wie etwa Sad­dam Hus­sein 1988 gegen die Kur­den im Irak, wo Zehn­tau­sen­de getö­tet, Hun­der­tau­sen­de zwangs­um­ge­sie­delt wur­den. Den­noch bau­ten Iraks und Syri­ens Gewalt­herr­scher zugleich Min­der­hei­ten in ihre Regie­run­gen ein, die am Sta­tus Quo inter­es­siert waren. Eines hat­ten die Auto­kra­ten gemein­sam: Isla­mis­ti­sche Bestre­bun­gen wur­den streng über­wacht und verfolgt.

Der Wes­ten, ins­be­son­de­re die USA, betrieb, was man als Real­po­li­tik ver­stand. Nach dem Sturz des Schah im Iran wur­de Iraks Dik­ta­tor Sad­dam Hus­sein vom Feind der USA zu einem neu­en Ver­bün­de­ten. Man woll­te auch nicht wahr­ha­ben, wie der neue Freund mit der Anfal-Ope­ra­ti­on gegen die Kur­den im Nor­den vor­ging und igno­rier­te den Gift­gas­an­griff auf die Stadt Hal­abdscha mit meh­re­ren Tau­send Toten. Die­ses De fac­to-Bünd­nis ende­te erst, als der Irak 1990 in Kuweit ein­mar­schier­te. Ein inter­na­tio­na­les Mili­tär­bünd­nis reagier­te dar­auf mit der Inva­si­on des Iraks im Rah­men der Ope­ra­ti­on Desert Storm. Die Regie­rung Bush moti­vier­te die Bevöl­ke­rung, gegen das Regime auf­zu­ste­hen. Kur­den und Schii­ten folg­ten sol­chen Auf­ru­fen, muss­ten aber erle­ben, dass die USA Sad­dam Hus­sein wei­ter­hin als Gegen­spie­ler des Iran erhal­ten woll­ten und den Rück­zug antra­ten. Die sich anbah­nen­den Mas­sa­ker führ­ten dazu, dass die USA und ihr Mili­tär­bünd­nis eine Schutz­zo­ne in Ira­kisch-Kur­di­stan und Flug­ver­bots­zo­nen im Nor­den und Süden des Lan­des einrichteten.

Im Som­mer 1992 bil­de­te sich der auto­no­me kur­di­sche Nord­irak mit eige­ner Regie­rung her­aus. Damit wur­den die Kur­den zum Akteur mit eige­nem Ter­ri­to­ri­um, was Macht­pro­por­tio­nen inner­halb der seit dem Ende des 1. Welt­krie­ges exis­tie­ren­den künst­li­chen Gren­zen ver­schob. Ver­ein­facht gesagt: In dem Maße, wie sich die Kur­den aus dem Land ver­ab­schie­de­ten, ver­schärf­te sich der Kon­flikt zwi­schen der gro­ßen schii­ti­schen Mehr­heit im rest­li­chen Irak und der bis dato unan­ge­foch­te­nen domi­nie­ren­den sun­ni­ti­schen Minderheit.

Im 2. Irak­krieg, der offi­zi­ell mit der Lüge begrün­det wur­de, der Irak ver­fü­ge über Mas­sen­ver­nich­tungs­waf­fen, rech­ne­ten die USA damit, als Befrei­er vom Baath-Regime begrüßt zu wer­den. Wider­stand im sog. »sun­ni­ti­schen Drei­eck« ver­such­ten die Ame­ri­ka­ner mit alten Metho­den zu bekämp­fen. Sie unter­stütz­ten das sog. »sun­ni­ti­sche Erwa­chen«, das die Gegen­sät­ze zwi­schen den reli­giö­sen Bekennt­nis­sen und den Stäm­men anfach­te. Was folg­te, war eine bei­spiel­lo­se Ket­te von Fehl­leis­tun­gen. Die Koali­ti­ons­trup­pen sahen zu, wie sich die künf­ti­gen Auf­stän­di­schen aus Sad­dam Hus­s­eins Waf­fen­de­pots bedien­ten, wäh­rend der US-Chef der zivi­len Über­gangs­ver­wal­tung das ira­ki­sche Mili­tär auf­lös­te. Hun­dert­tau­sen­de von Män­nern, an Waf­fen geschult, wur­den auf einen Schlag arbeits­los. Es folg­ten Mas­sen­ent­las­sun­gen von Per­so­nen, denen Ver­bin­dun­gen zur frü­her regie­ren­den Baath-Par­tei zur Last gelegt wur­den. Zehn­tau­sen­de ver­lo­ren damit ihre Jobs, gan­ze Stäm­me ihren Ein­fluss und die wirt­schaft­li­che Basis.

2004 begann ein Bür­ger­krieg mit vie­len Fron­ten. Die Wur­zeln des »Isla­mi­schen Staa­tes«, der erst etwa zehn Jah­re spä­ter unter die­sem Eti­kett ope­rier­te, lie­gen in die­ser unbe­dach­ten Aus­gren­zungs­po­li­tik, die die Grä­ben im Irak ver­tief­te. Öl ins Feu­er waren auch Beschlüs­se und Vor­ge­hen der schii­tisch domi­nier­ten Regie­rung Nuri al-Mali­ki. 2008 begann die US-Regie­rung unter Bush mit dem schritt­wei­sen Abzug ihrer Trup­pen, woll­te aber ein Trup­pen­kon­tin­gent für die Zukunft im Land belas­sen. Die schii­ti­sche Regie­rung wei­ger­te sich jedoch, US-Mili­tärs und Sicher­heits­un­ter­neh­men Immu­ni­tät für künf­ti­ge Ver­bre­chen zuzu­ge­ste­hen – einer von meh­re­ren Anläs­sen dafür, dass die US-Trup­pen den Irak bis zum Jahr 2012 verließen.

Im Früh­ling des Jah­res 2014 gelang es einer zah­len­mä­ßig nicht gro­ßen Trup­pe des »IS« vom west­li­chen Irak aus eine demo­ra­li­sier­te ira­ki­sche Armee in die Flucht zu schla­gen. Ver­mut­lich weni­ge Tau­send Kämp­fer des »IS« erober­ten die Bal­lungs­zen­tren des Zen­tral­irak, in denen Mil­lio­nen Men­schen leben, eig­ne­ten sich die moder­nen Waf­fen­sys­te­me der geschla­ge­nen ira­ki­schen Armee an und began­nen mit dem Auf­bau einer qua­si staat­li­chen Ord­nung.  Der »IS« finan­zier­te »sei­nen Staat« u.a. durch den Ver­kauf von Öl aus den besetz­ten Ölfel­dern und Zwangs­steu­ern und zahl­te so sei­ne bewaff­ne­ten Söld­ner. Erklär­bar ist die­ser Erfolg nur mit der Igno­ranz, mit der die schii­tisch domi­nier­te Regie­rung acht Jah­re lang die Sun­ni­ten schi­ka­niert hat­te, die sich nun­mehr zum Teil aus Über­zeu­gung dem »IS« anschloss oder sich sei­nem Regime als dem gerin­ge­ren Übel unter­stell­ten. Gräu­el­ta­ten an den Schii­ten wur­den in bis dahin nicht dage­we­se­ner Wei­se demons­tra­tiv öffent­lich ver­übt und über Medi­en kommuniziert.

Noch im Som­mer 2014 wur­de deut­lich, wel­che Zie­le sich die Ver­nich­tungs­po­li­tik des »IS« wei­ter aus­su­chen wür­de. Chris­ten, Schii­ten und Kur­den waren im Visier. Es traf jetzt die Ezi­den, eine reli­giö­se Min­der­heit unter den Kur­den. Eines ihrer Sied­lungs­ge­bie­te liegt weit außer­halb des kur­di­schen Nord­iraks im Shin­gal-Gebir­ge im äußers­ten Nord­wes­ten. Anfang August griff der »IS« an. Kur­di­sche Peschmer­ga zogen sich, so der Vor­wurf der Ezi­den bis heu­te, weit­ge­hend kampf­los und z.T. unter Zurück­las­sung von Aus­rüs­tung zurück. Am 3. August 2014 begann der »IS« mit einem Völ­ker­mord an den Ezi­den. 5.000 Men­schen wur­den getö­tet, Tau­sen­de gefan­gen genom­men, Frau­en ver­sklavt. Ezi­di­schen Selbst­ver­tei­di­gungs­streit­kräf­ten und YPG-Trup­pen gelang es, eine gro­ße Grup­pe der Ezi­den vom Shin­gal-Gebir­ge zu eva­ku­ie­ren. Zehn­tau­sen­de Ezi­den, die über­lebt haben, leben seit­dem in Lagern im Nord­irak. Die Stadt Shin­gal wur­de in Kämp­fen zer­stört und von den Kur­den zurück­er­obert. Dass vie­le Ara­ber nach dem Rück­zug des IS in ihrer Hei­mat­re­gi­on geblie­ben sind, macht die­je­ni­gen miss­trau­isch, die unter dem »IS« gelit­ten haben. Was waren die Nach­barn in der Zwi­schen­zeit? Pro­fi­teu­re des »IS«? Kol­la­bo­ra­teu­re? Oder auch nur – man­gels Aus­weich­al­ter­na­ti­ve – Unbe­tei­lig­te oder gar Opfer?

Wäh­rend der Kriegs­si­tua­tio­nen im Irak und in Syri­en wur­de immer deut­li­cher, dass auch die Tür­kei eine wesent­li­che Rol­le in den Kon­flik­ten spielt. Der Tür­kei wird vor­ge­wor­fen, isla­mis­ti­sche Grup­pen beim Weg nach Syri­en ein­fach durch­ge­wun­ken zu haben, auch als der »IS« bereits eta­bliert war. Von Syri­en aus konn­ten die­se Kämp­fer pro­blem­los wei­ter in den Irak gelan­gen. Die Tür­kei hat in ihrer Poli­tik gegen­über dem Iran und Syri­en das mas­si­ve Inter­es­se, die Eta­blie­rung wei­te­rer kur­di­scher Struk­tu­ren – über den kur­di­schen Nord­irak hin­aus – mög­lichst zu ver­hin­dern. De fac­to von den jewei­li­gen Zen­tral­staa­ten rela­tiv unab­hän­gi­ge oder auto­no­me Gebil­de soll es nicht geben, kein Roja­va, kein Kobanê. Es han­delt sich um die außen­po­li­ti­sche Fort­set­zung des radi­ka­len Vor­ge­hens gegen die Kur­den im eige­nen Land, das die Erdo­gan-Regie­rung nach dem Ende des Frie­dens­pro­zes­ses mit der PKK propagiert.

Der Irak ist nach wie vor ein poli­tisch, kon­fes­sio­nell und ter­ri­to­ri­al tief gespal­te­nes Land, ein in vie­ler­lei Hin­sicht geschei­ter­ter Staat. Nicht zuletzt bleibt die Fra­ge, wie sich die ein­fluss­rei­chen Akteu­re außer­halb des Irak ver­hal­ten wer­den. Der Anti-»IS«-Koalition gehö­ren ja auch so illus­tre Part­ner wie die Tür­kei oder Sau­di-Ara­bi­en an, die dar­an mit­ge­wirkt haben, dass der »IS«-Terror sei­ne dau­er­haf­te Ver­wirk­li­chung in Gestalt eines Kali­fats-Staa­tes fast erreicht hät­te. Und nicht zuletzt ste­hen sich in der Regi­on erneut die geo­po­li­ti­schen Inter­es­sen Russ­lands und der USA sowie der grö­ße­ren Regio­nal­mäch­te gegenüber.

Kooperation mit einem Terror-Regime

Syri­ens Assad-Regime sieht sich mili­tä­risch gestärkt. Ob ein mög­li­cher Sieg im Bür­ger­krieg Frie­den brin­gen wird, ist nach lan­gen Jah­ren des mit äußers­ter Grau­sam­keit geführ­ten Krie­ges jedoch zwei­fel­haft. Eine Renais­sance der Assad-Herr­schaft wür­de deut­sche Politiker*innen aber mög­lich­wei­se ermu­ti­gen, sich an Zei­ten bes­ter Bezie­hun­gen zum Regime zu erin­nern. Anfang 2009, da war über das Regime und sei­ne Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen das Meis­te bekannt, trat ein deutsch-syri­sches Rück­über­nah­me­ab­kom­men in Kraft. Aus Deutsch­land abge­scho­be­ne Syrer*innen wur­den seit­her immer wie­der in Damas­kus in Haft genom­men, ohne Kon­takt zur Außenwelt.

PRO ASYL übte mehr­fach Kri­tik an der Kol­la­bo­ra­ti­on mit Syri­en, doch das Abschie­be­ab­kom­men wur­de selbst dann nicht auf­ge­kün­digt, als Syri­en längst in Flam­men stand und Flücht­lin­ge nicht mehr abge­scho­ben wur­den. Inzwi­schen meh­ren sich die Anzei­chen, dass das Assad-Regime für ein Syri­en plant, in dem Mil­lio­nen Flücht­lin­ge, die als Regime­geg­ner ange­se­hen wer­den, kei­nen Platz mehr haben. Die Tür­kei wie­der­um drängt auf die Schaf­fung von Sicher­heits­zo­nen in Nord­sy­ri­en, in die Flücht­lin­ge zurück­ge­schickt wer­den könnten.

Das Schicksal der Minderheiten

Von der poli­ti­schen Desta­bi­li­sie­rung im Irak und dem Bür­ger­krieg in Syri­en sind die­je­ni­gen am stärks­ten betrof­fen, die sich kei­nem der gro­ßen Inter­es­sen­blö­cke zuord­nen kön­nen: Die Min­der­hei­ten der Ezid*innen, Christ*innen, Alevit*innen, Kurd*innen und ande­re. Zu Hun­dert­tau­sen­den wur­den sie ver­trieben und ver­folgt, zu Tau­sen­den ermordet.

Wirk­sa­men staat­li­chen Schutz für die reli­giö­sen Min­der­hei­ten gibt es prak­tisch nirgendwo.

Bei­spiel Afrin/Syrien: Der völ­ker­rechts­wid­ri­ge Ein­marsch der tür­ki­schen Armee im nord­sy­ri­schen Afrin, der in Koope­ra­ti­on mit der Frei­en Syri­schen Armee und Dschi­ha­dis­ten erfolg­te, ver­trieb im Früh­jahr die­ses Jah­res 170.000 Men­schen aus der Regi­on. Die ver­blie­be­ne Bevöl­ke­rung blieb vie­ler­orts abge­schot­tet von medi­zi­ni­scher Ver­sor­gung, ohne Zugang zu Was­ser und Lebens­mit­teln. Die kur­di­sche Spra­che ist ver­bo­ten, Christ*innen und Ezid*innen ist die Aus­übung ihres Glau­bens unter­sagt. Christ­li­che Kir­chen, Geschäf­te und Häu­ser von Christ*innen wur­den aus­ge­raubt und in Brand gesteckt. Afrin war mit etwa 30.000 ezi­di­schen Bewohner*innen deren Hoch­burg in Syri­en. Es galt als eine der letz­ten rela­tiv siche­ren Regio­nen – bis zum tür­ki­schen Einmarsch.

Bei­spiel Shingal/Irak: Der tür­ki­sche Prä­si­dent Erdo­gan hat eine Inter­ven­ti­on auch in die­ser Regi­on ange­kün­digt, wo Tau­sen­de der dort als Mehr­heits­be­völ­ke­rung leben­den Ezid*innen 2014 dem Ter­ror des »IS« zum Opfer gefal­len und 400.000 geflo­hen sind, die meist unter schwie­ri­gen Ver­hält­nis­sen in Flücht­lings­la­gern im Nord­irak leben. Die Zer­stö­run­gen in der Regi­on Shin­gal sind immens. Auch von ira­ki­scher Regie­rungs­sei­te wer­den der Wie­der­auf­bau und die Rück­kehr dort­hin behin­dert. Mit einer wei­te­ren Desta­bi­li­sie­rung der Hei­mat vie­ler Ezid*innen, wo ihre reli­giö­sen Stät­ten lie­gen, wür­de eine uralte Reli­gi­on gro­ßen­teils ausgelöscht.

Wirk­sa­men staat­li­chen Schutz für die reli­giö­sen Min­der­hei­ten gibt es prak­tisch nir­gend­wo. Das Erbe jahr­tau­sen­de­al­ter Reli­gio­nen und ihrer Kul­tu­ren droht ver­lo­ren zu gehen. Und dies eben nicht allein als Resul­tat der Ter­ror­herr­schaft des »IS«, son­dern auch durch ein tür­kisch-dschi­ha­dis­ti­sches Bünd­nis, des­sen Aktio­nen auf »eth­ni­sche Säu­be­run­gen« und eine Ansied­lung ande­rer Bevöl­ke­rungs­grup­pen in die­sen Regio­nen hinauslaufen.

Rückkehr um jeden Preis?

Was soll nun wer­den inmit­ten all die­ser Zer­stö­rung, all der Kon­flik­te und der eth­ni­schen Segre­ga­tio­nen? Wer wird wohin zurück­keh­ren kön­nen? Wer wird sich unter wel­cher Regie­rung sicher füh­len? Wel­che Jus­tiz wird Mord und Völ­ker­mord süh­nen? Wer garan­tiert die Exis­tenz der fra­gi­len auto­no­men Gebie­te? Der kur­di­sche Nord­irak, häu­fig als Modell geprie­sen, hat eige­ne inter­ne Probleme.

Die Idee einer bal­di­gen Rück­kehr des Groß­teils der ira­ki­schen Flücht­lin­ge ist poli­tisch blind und verantwortungslos.

Es zeich­net sich ab, dass die deut­sche Regie­rung ver­su­chen wird, den Aus­rei­se- und Abschie­bungs­druck Rich­tung Irak zu erhö­hen: Mit der Kon­struk­ti­on von inlän­di­schen Flucht­al­ter­na­ti­ven, dem Wider­ruf bereits gewähr­ten Schut­zes, mit Ver­un­si­che­rung der Betrof­fe­nen anstel­le einer sub­stan­zi­el­len Unter­stüt­zung frei­wil­li­ger Rück­kehr für die­jenigen, für die eine sol­che Rück­kehr irgend­wann in Fra­ge kommt. Die ange­kün­dig­te Ein­rich­tung von Migra­ti­ons­zen­tren in Bag­dad und Erbil muss miss­trau­isch machen: Pseu­do­pro­jek­te haben wir auf dem Sek­tor der Unter­stüt­zung für Rückkehrer*innen all­zu oft gesehen.

Vor dem Hin­ter­grund einer Viel­zahl völ­lig unge­klär­ter Pro­ble­me, die im bes­ten Fall noch über Jah­re andau­ern wer­den, im schlech­tes­ten Fall neue gewalt­tä­ti­ge Kon­flik­te zur Fol­ge haben wer­den, ist die Idee einer bal­di­gen Rück­kehr des Groß­teils der ira­ki­schen Flücht­lin­ge poli­tisch blind und verantwortungslos.

Bernd Meso­vic

(Eine gekürz­te Fas­sung die­ses Arti­kels erschien im Heft zum Tag des Flücht­lings 2018.)


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