Hintergrund
Balkanroute: Eine Chronik der Abschottung
Die Balkanroute 2015: Erst wurden Grenzen geöffnet, dann wieder geschlossen und sogar mit Zäunen abgeriegelt – nun sind viele Menschen im Niemandsland gestrandet.
Im Jahr 2015 wurde der Weg über Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn und schließlich Österreich zur Hauptfluchtroute von Schutzsuchenden – vor allem aus den Kriegs- und Krisengebieten in Syrien, dem Irak und Afghanistan. Auch vorher kamen bereits Menschen über die Balkanländer nach Europa – je nachdem, wie stark die Grenzen gesichert wurden, war mal der Landweg über Bulgarien und mal der Seeweg über Griechenland der meist genutzte Weg.
Fluchtroute verschiebt sich 2015 in die Ägäis
Ab dem April 2015 kamen mehr und mehr Menschen über die Ägäis auf den griechischen Inseln an und machten sich von dort auf den langen Weg nach Westeuropa. Nachdem das griechische Asylsystem bereits Jahre zuvor zusammengebrochen war und Dublin-Überstellungen in das Land gestoppt wurden, hatte sich Ungarn für viele Menschen zum faktischen Ersteinreiseland innerhalb der Europäischen Union entwickelt. Zwar gab es kaum Flüchtlinge, die dort bleiben wollten – menschenunwürdige Behandlung, Diskriminierung, Verbringung in Haftlager sind dort an der Tagesordnung – unter Zwang ließen sich dort aber viele als Asylsuchende registrieren, formal war also Ungarn für die Durchführung ihres Asylverfahrens zuständig.
Die Asylantragszahlen in Ungarn stiegen 2015 sprunghaft an – von ca. 18.000 im Jahr 2013 über 42.000 im Jahr 2014 auf über 170.000. Der Anstieg der Zahlen in Italien war vergleichsweise geringer (2013: 26.000 / 2014: 64.000 / 2015: 84.000) – ein Indiz dafür, dass sich die Fluchtroute über das Meer vom zentralen Mittelmeer in die Ägäis verschoben hatte. In Italien blieb die Zahl der Ankünfte über Frühling und Sommer hinweg bei konstant ca. 20.000 pro Monat, über die kürzere und ungefährlichere Ägäisroute kamen aber beispielsweise im Juni über 100.000 Menschen nach Europa – im April waren es noch 13.000 gewesen, in den Anfangsmonaten des Jahres kaum mehr als 1.000.
Europa baut wieder Zäune
Als erstes EU-Land kündigte Ungarn im Juli 2015 dann allerdings an, keine Flüchtlinge mehr ins Land lassen zu wollen und seine Grenze zu Serbien mit Zäunen abzuriegeln. Auch die Zustände in Mazedonien und Serbien wurden immer schlimmer, tagelang harrten die Menschen an verlassenen Bahnhöfen aus, schlugen sich zu Fuß bis zur nächsten Grenze durch, wurden Opfer von Polizeigewalt und Überfällen durch Banden. Direkte Auswirkungen auf die Fluchtrouten hatte das zunächst nicht, Ende August begann Ungarn jedoch, mehr und mehr Flüchtlinge daran zu hindern, in Züge nach Österreich und Deutschland zu steigen. Erst als von dort signalisiert wurde, diese Menschen aufzunehmen, durften sie weiterreisen. Zu jenem Zeitpunkt wurden in Deutschland auch Dublin-Verfahren für syrische Flüchtlinge ausgesetzt.
Kurz darauf, Mitte September, begannen einzelne westeuropäische Staaten – allen voran Deutschland – allerdings, Grenzkontrollen einzuführen. Die seit dem Schengen-Abkommen offenen Grenzen wurden so geschlossen, im Falle Deutschlands wurde nun an der österreichischen Grenze kontrolliert. Gleichzeitig stellte Ungarn auch den 175km langen Grenzzaun zu Serbien fertig, so dass die Flüchtlinge zunächst versuchten, über Kroatien und Slowenien in die EU-Staaten zu gelangen. Elende Zustände auch auf dieser Route waren die Folge – bis die Menschen in Westeuropa ankamen, gab es weder adäquate Unterbringung noch Versorgung. Oft wurden Flüchtlinge tagelang an einem Ort festgehalten, bis sie weiterreisen konnten.
Nach dem Dominoprinzip: Die Abschottung setzt sich fort
Nach dem EU-Beschluss, dass sich Flüchtlinge fortan in sogenannten „Hotspots“ in Griechenland und Italien registrieren sollten und von dort dann in EU-Länder verteilt würden, setzten die Staaten der Balkanroute die Abschottung sukzessive fort: Im November baute Slowenien einen Zaun zum Nachbarland Kroatien, auch Österreich und Mazedonien fingen an, Grenzzäune zu errichten, die griechisch-mazedonische Grenze blieb nun nur noch für Menschen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak geöffnet. Die EU verabredete derweil mit der Türkei einen ersten Deal, nachdem man dem Land großzügige finanzielle Unterstützung zukommen lassen will, im Gegenzug soll die Türkei dabei helfen, Europa abzuschotten und die Menschen an der Flucht über die Ägäis zu hindern.
Ende 2015 wurde das Camp im griechisch-mazedonischen Grenzort Idomeni, in dem sich Menschen verschiedenster Nationalitäten befanden, die die Grenze nicht passieren durften, geräumt. Die Flüchtlinge wurden zurück nach Athen gebracht. Immer rigider wurde in der Folge die Grenzpolitik in Mazedonien, bis irgendwann nur noch syrische Staatsangehörige passieren durften – und schließlich Anfang März die Grenze vollständig abgeriegelt wurde. Seitdem ist die Balkanroute faktisch dicht. Das Camp in Idomeni gibt es mittlerweile wieder. Die abgewiesenen Schutzsuchenden harren dort verzweifelt aus und hoffen darauf, dass die Grenzen doch noch einmal geöffnet werden.
Von der geschlossenen Route profitieren Schlepper
Von der geschlossenen Balkanroute profitieren vor allem Schlepper, die ihr lukratives Geschäft, das sie nach der weitgehenden Grenzöffnung im September aufgeben mussten, nun wieder aufnehmen können und Flüchtlinge illegal über die nun geschlossenen Grenzen bringen – oder neue Alternativrouten wie über Albanien und Italien ausarbeiten. Auch die weit gefährlichere zentrale Mittelmeerroute, bei der die Menschen oft tagelang mit kaum seetauglichen Booten unterwegs sind, könnte wieder an Zulauf gewinnen.