Hintergrund
Gesundbeten und abschieben: Wende im Umgang mit afghanischen Flüchtlingen

Im Herbst 2015 entdeckt die Bundesregierung »sichere« Fleckchen in Afghanistan und erklärt seither Abschiebungen wieder für denkbar. Hintergrund: Steigende Flüchtlingszahlen aus Afghanistan. Tatsächlich ist die Lage für die Menschen dort schlimmer denn je.
In Afghanistan lässt es sich leben – meint jedenfalls Bundesinnenminister de Maizière und macht die Speerspitze der neuen Anti-Flüchtlingspolitik – mit dilettantischen Ausflügen in die Entwicklungspolitik. Es sei schließlich viel Entwicklungshilfe aus Deutschland nach Afghanistan geflossen, so de Maizière am 28.10.2015 bei einer Pressekonferenz: »Da kann man erwarten, dass die Afghanen in ihrem Land bleiben.« Diese Erwartung nennt man dann wohl Fluchtursachenbekämpfung.
Die Idee, dass entwicklungspolitische Gelder in Afghanistan Flucht verhindern könnten, krankt nicht nur an der endemischen Korruption im Lande selbst. Der Afghanistankrieg zeige, wie zunehmende Militarisierung und Privatisierung entwicklungspolitische Prinzipien systematisch außer Kraft gesetzt hätten, schrieb der Afghanistanexperte Thomas Ruttig in einer Bilanz nach 13 Jahren NATO-Einsatz »Militarisierte Entwicklungshilfe«. Die Aufwendungen der Geberländer für Afghanistan würden inzwischen auf eine Billion (1.000 Milliarden) US-Dollar geschätzt, 90 Prozent davon gingen in den Sicherheitssektor. (…) Entwicklungsziele wie die Überwindung der Armut oder die Verteidigung der Menschenrechte habe man dem Anti-Terror-Kampf weitgehend untergeordnet, so Ruttig.
Ein wirtschaftliches Desaster
Afghanistan nach inzwischen fast 15 Jahren Intervention: In einem der ärmsten Länder der Welt sind 60 Prozent der Kinder mangelernährt, 7,4 Millionen Menschen leiden unter akuter Nahrungsmittelknappheit. Die Zahl der Binnenvertriebenen beträgt nahezu eine Million.
Bereits ab 2010 nahmen die Transfers aus den Geberländern ab. Seit 2014, parallel zum Abzug der ISAF Truppen, erlebt Afghanistan einen wirtschaftlichen Einbruch. Mehrmals stand das Land am Rande der Zahlungsunfähigkeit. Nur durch Sonderüberweisungen westlicher Regierungen konnten wenigstens die Gehälter für die nationalen Sicherheitskräfte Afghanistans gezahlt werden, damit diese nicht ins Lager der Regierungsgegner überliefen.
Die Sicherheitssituation in Afghanistan hat sich gleichzeitig kontinuierlich verschlechtert. War schon 2014 nach einem UN-Bericht das schlimmste Jahr für Zivilisten, seit es eine Opferstatistik der UNO gibt, so setzte sich diese Tendenz fort. Auch die afghanischen Sicherheitskräfte, die gegen die Taliban vorgehen, zahlen einen hohen Preis mit vielen Toten und Verletzten.
Miserable Sicherheitssituation
Die Rückschläge bei der Sicherheitssituation führten dazu, dass die Bundesregierung im Herbst 2015 das noch im Lande verbliebene Bundeswehrkontingent aufstockte und das Mandat bis Ende 2016 verlängerte. Schlagzeilen hatte kurz zuvor die fast zweiwöchige Besetzung der nordafghanischen Provinzhauptstadt Kunduz gemacht, ehemals Standort eines großen deutschen Feldlagers. Diese erstmalige Besetzung einer Provinzhauptstadt durch die Taliban war ein Symbol und ein Wendepunkt. Seitdem fliehen Menschen aus vielen Regionen Nordafghanistans. Das Einflussgebiet der Taliban ist heutzutage insgesamt sogar größer als zu Beginn der NATO Intervention im Jahr 2001. Schlechter kann die Bilanz des als »War on Terror« ausgerufenen Feldzuges wirklich nicht sein.
Das Einflussgebiet der Taliban ist heute größer als zu Beginn der NATO-Intervention im Jahr 2001.
Der afghanische Flüchtlingsminister hat zur Sicherheitssituation im Lande eine Einschätzung geliefert, die sich in einem Lagebericht des Auswärtigen Amtes wiederfindet. Drei Provinzen in Afghanistan seien sicher: Kabul, Bamiyan, Panjshir. Das ist ein winziger Teil der Landesfläche, lediglich Kabul ist per Flugzeug ohne weiteres erreichbar. Auch ist die Vorstellung abwegig, man könne etwa sunnitische Flüchtlinge aus Nordafghanistan einfach in eine von Schiiten bewohnte Gebirgsregion schicken. Das Auswärtige Amt stellt fest, dass eine innerafghanische Aufnahme von Flüchtlingen ohnehin eigentlich nur in größeren Städten realistisch sei. Die aber platzen aus allen Nähten, insbesondere die Hauptstadt, wo die informellen Siedlungen (Slums) größer sind als die Kernstadt.
Politische Propaganda
Allen Fakten zum Trotz diskreditiert de Maizière die Fluchtgründe afghanischer Asylsuchender bei jeder Gelegenheit: Die Sicherheitslage in Afghanistan erlaube zumindest in einigen Regionen eine Rückkehr ausreisepflichtiger afghanischer Staatsangehöriger und auch Abschiebungen seien dorthin möglich. Dem hat sich auch die Innenministerkonferenz im Dezember 2015 angeschlossen, nachdem Abschiebungen nach Afghanistan über viele Jahre hinweg sehr zurückhaltend vollzogen worden sind und sich auf Straftäter beschränkten.
Absurd: Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer brachte Afghanistan gar als »sicheres Herkunftsland« ins Gespräch.
Die Ankündigung von Abschiebungen dient zunächst einmal der Verunsicherung afghanischer Flüchtlinge: solcher, die bereits im Lande sind und solcher, die sich mit dem Gedanken tragen, aus Afghanistan zu fliehen. Die deutsche Botschaft wurde mit Gegenpropaganda beauftragt. Beunruhigt versuchten im Spätherbst in Deutschland ankommende Flüchtlinge, insbesondere in die skandinavischen Länder weiterzufliehen.
Auch die in Deutschland lebenden Afghaninnen und Afghanen nehmen wahr, dass sie trotz bislang sehr hoher Schutzquote nicht mehr als Flüchtlinge mit guten Gründen gelten. Indem sie von Sprach- und Integrationskursen während des Asylverfahrens mit der Begründung ausgeschlossen bleiben, sie hätten »keine Bleibeperspektive«, führt man ihnen vor Augen, dass sie mit einem weiter verschärften Kurs rechnen müssen. Absurd: Bayerns ranghöchster Populist Seehofer brachte Afghanistan gar als »sicheres Herkunftsland« ins Gespräch.
Geheimer EU-Plan
Im März 2016 wurde ein geheimer EU-Plan bekannt. Danach wird die Abschiebung von 80.000 Afghaninnen und Afghanen »in naher Zukunft« ins Auge gefasst. Man befürchtet weitere Fluchtbewegungen und nennt sogar die Gründe: Die sich verschlechternde Lage durch zunehmende Gewalt im Lande, der Druck auf afghanische Flüchtlinge in den Erstaufnahmestaaten Iran und Pakistan. Das aber soll nicht zu Aufnahme und Schutz führen.
Stattdessen will man »eine Verstärkung der Interventionen, Zufluchtsmöglichkeiten in der Region zu erhalten.« Nach den jüngsten Erfahrungen mit dem Türkei-Deal kann man vermuten, dass hier versucht werden soll, mit dem Iran und Pakistan ähnliche Abmachungen zu treffen: Fluchtverhinderung und materielle Gegenleistungen von EU-Seite, eventuell die beschränkte Aufnahme einiger Flüchtlingskontingente. Afghanistan selbst will man vor dem Hintergrund, dass das Land in hohem Maße von Entwicklungshilfe und sonstigen internationalen Gebern abhängig ist, in die Pflicht nehmen: Man will ein Rückübernahmeabkommen schließen und erwartet Kooperation bei der Aufnahme Abgeschobener.
Strategie der Verunsicherung
Zwar gibt es noch keine Massenabschiebungen. Aber immer mal wieder werden Abschiebungen demonstrativ vorbereitet, auch von Menschen, die viele Jahre unbehelligt im Deutschland gelebt haben. Am 5. Februar 2016 schrieb der Bundesinnenminister einen Brief an die Innenministerkonferenz. Nach Gesprächen mit der afghanischen Regierung sei es jetzt an der Zeit, rasch zu praktischen Schritten zu kommen: »Daher bitte ich Sie um Ihre Unterstützung, damit noch in diesem Monat mindestens ein Flug nach Afghanistan mit zurückkehrenden afghanischen Staatsangehörigen durchgeführt werden kann.« Im Klartext: Verunsicherungsstrategie gepaart mit demonstrativem Abschiebungscharter und Druck auf die Länder, dabei mitzumachen.
»Resolute Support« heißt die NATO Folgemission in Afghanistan, mit der 13.000 inzwischen überwiegend nur noch beratend tätige Militärs angeblich schaffen sollen, was 130.000 Soldaten mit Kampfauftrag 14 Jahre lang nicht geschafft haben: Sicherheit in Afghanistan herzustellen. Man wird alles daran setzen müssen, das deutsche und europäische Begleitprogramm der »Resolute Deportation« ins unsichere Afghanistan zu verhindern.
Bernd Mesovic
(Dieser Beitrag erschien im Juni 2016 im Heft zum Tag des Flüchtlings 2016.)