02.09.2016

PRO ASYL: EU-Kom­mis­si­on will dies künf­tig ver­hin­dern – Was heu­te rech­tens ist, soll mor­gen unrecht­mä­ßig sein 

Vor einem Jahr ver­hin­der­ten Bun­des­kanz­le­rin Mer­kel und der öster­rei­chi­sche Bun­des­kanz­ler Fay­mann eine huma­ni­tä­re Kata­stro­phe in Euro­pa. PRO ASYL wür­digt dies  als eine auch im Rück­blick huma­ni­tär gebo­te­ne, poli­tisch und recht­lich rich­ti­ge Ent­schei­dung. Die euro­pa­weit gel­ten­de Dub­lin-Ver­ord­nung ermög­licht Staa­ten, vom Selbst­ein­tritt Gebrauch zu machen und selbst Asyl­ver­fah­ren durchzuführen.

Doch die EU-Kom­mis­si­on will in Zukunft durch Ände­rung der EU-Dub­lin-Ver­ord­nung huma­ni­tä­res Ein­grei­fen durch Staa­ten unmög­lich machen. „Was rech­tens ist, darf künf­tig nicht unrecht sein. Der Vor­stoß der EU-Kom­mis­si­on ist empö­rend“, sagt PRO ASYL-Geschäfts­füh­rer Gün­ter Burk­hardt. Die EU-Kom­mis­si­on pla­ne „nicht nur die Gän­ge­lung von Mit­glieds­staa­ten son­dern auch einen Gene­ral­an­griff auf das indi­vi­du­el­le Asyl­recht in Euro­pa.“ Ihr Vor­stoß will das euro­pa­weit gel­ten­de Recht und vor allem die Recht­spre­chung des Euro­päi­schen Gerichts­hofs aushebeln.

Das Selbst­ein­tritts­recht von eigent­lich nicht zustän­di­gen EU-Staa­ten wird beschnit­ten, der Zugang zur Prü­fung der indi­vi­du­el­len Flucht­grün­de ver­baut. Bevor Flucht­grün­de geprüft wer­den oder geprüft wird, ob ein Recht auf Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung besteht, wer­den Rück­über­stel­lun­gen in Durch­rei­se­staa­ten geprüft. Wenn Flücht­lin­ge wei­ter­flie­hen, etwa aus Ungarn, Bul­ga­ri­en, Grie­chen­land oder Ita­li­en, wer­den sie ohne jede zeit­li­che Begren­zung in den Erst­ein­rei­se­staat zurück­ge­scho­ben. Dort kom­men sie nicht mehr in ein regu­lä­res Ver­fah­ren, ihre Flucht­grün­de wer­den nicht mehr geprüft. „Damit dro­hen tau­sen­de Flücht­lin­ge zu  refu­gees in orbit zu wer­den.“ Das sind Flücht­lin­ge, bei denen kein Staat in der EU bereit, ist ihren Asyl­an­trag zu bear­bei­ten. Solch eine Situa­ti­on  zu ver­hin­dern war das erklär­te Ziel der Dub­lin-Ver­ord­nung wie auch der EU-Ver­fas­sung (Ver­trag über die Arbeits­wei­se der Euro­päi­schen Uni­on (AEUV)).

PRO ASYL-Geschäfts­füh­rer Burk­hardt wirft der EU-Kom­mis­si­on vor, „die auf den Men­schen­rech­ten basie­ren­de Recht­spre­chung des Euro­päi­schen Gerichts­hof aus­he­beln zu wol­len und die Ver­fas­sung der EU zu miss­ach­ten.“ Das indi­vi­du­el­le Asyl­recht wird aus­ge­he­belt, wenn im Rah­men von Unzu­läs­sig­keits­ver­fah­ren nicht mehr die eigent­li­chen Flucht­grün­de von Asyl­su­chen­den geprüft und sie statt­des­sen in angeb­lich „siche­re Dritt­staa­ten“ außer­halb der Euro­päi­schen Uni­on über­stellt wer­den. Dies ist für PRO ASYL ein Ver­stoß gegen die EU-Ver­fas­sung. Arti­kel 78 Abs. des AEUV garan­tiert ein Recht auf Asyl inner­halb der Euro­päi­schen Uni­on und nicht außer­halb. Auch unbe­glei­te­te Min­der­jäh­ri­ge sol­len künf­tig euro­pa­weit hin und her­ge­scho­ben wer­den können.

PRO ASYL appel­liert an die Bun­des­kanz­le­rin, im Inter­es­se der Flücht­lin­ge, als auch im Inter­es­se der Hand­lungs­fä­hig­keit von Staa­ten und der Rechts­staat­lich­keit in Euro­pa sich gegen die­sen Ent­wurf der EU-Kom­mis­si­on zu posi­tio­nie­ren. Die Bun­des­kanz­le­rin hat am 31.08. ein­ge­stan­den, dass es sei­tens von Deutsch­land falsch war, jah­re­lang die Ver­ant­wor­tung für die Auf­nah­me und Ver­sor­gung von Asyl­su­chen­den in Euro­pa auf die Rand­staa­ten abzu­wäl­zen. Mit der neu­en Dub­lin IV-Ver­ord­nung wird der Druck auf die Rand­staa­ten der EU für die Auf­nah­me der Flücht­lin­ge ver­ant­wort­lich zu sein ver­stärkt. Die Schief­la­ge, an der Deutsch­land die Mit­ver­ant­wor­tung trägt, wird sich mit der Beschrän­kung des Selbst­ein­tritts­rechts und der jah­re­lang mög­li­chen Rück­schie­bung in den Ein­rei­se­staat durch Weg­fall von Fris­ten­re­ge­lun­gen wei­ter ver­schär­fen. „Die Aus­he­be­lung des Zugangs zu einem fai­ren Asyl­ver­fah­ren ver­schärft den Zer­falls­pro­zess eines Euro­pas der Wer­te und Rech­te“, sagt Burk­hardt. Gegen­wär­tig ist offen, wie sich die Bun­des­re­gie­rung zu die­sem Vor­ha­ben positioniert.

Eine aus­führ­li­che Stel­lung­nah­me von PRO ASYL zur Dub­lin-Reform gibt es hier.

Zum Posi­ti­ons­pa­pier (kur­ze Ver­si­on) von PRO ASYL zu Dub­lin IV geht es hier.

Zur Kri­tik von PRO ASYL im Einzelnen:

Unzu­läs­sig­keits­ver­fah­ren unter­gra­ben das indi­vi­du­el­le Recht auf Asyl 

Die neue Dub­lin-Ver­ord­nung führt ver­pflich­tend die Prü­fung von unzu­läs­si­gen Asyl­an­trä­gen ein. Im Rah­men der neu­en Ver­fah­ren soll z.B. geprüft wer­den, ob der Asyl­su­chen­de aus einem siche­ren Dritt­staat oder einem siche­ren Her­kunfts­staat stammt. Erfüllt der Antrags­stel­ler ein sol­ches Kri­te­ri­um, darf er nicht im Rah­men der Relo­ca­ti­on in einen ande­ren Staat ver­teilt werden.

Die Unzu­läs­sig­keits­ver­fah­ren bedeu­ten für die Asyl­su­chen­den, dass ihre eigent­li­chen Flucht­grün­de nicht mehr geprüft wer­den, son­dern allei­ne unter­sucht wird, ob sie in einem Dritt­staat außer­halb der EU angeb­lich „sicher“ sind. Dies unter­gräbt sys­te­ma­tisch das indi­vi­du­el­le Recht auf Asyl in der Euro­päi­schen Union.

Zu Arti­kel 78 AEUV: https://dejure.org/gesetze/AEUV/78.html

Mit der Ein­schrän­kung des Selbst­ein­tritts­rechts und der Auf­he­bung von Über­stel­lungs­fris­ten wer­den huma­ni­tä­re Spiel­räu­me abgeschafft

Rand­staa­ten der EU, die Flücht­lin­ge ein­rei­sen las­sen, sol­len für sie ohne jeg­li­che zeit­li­che Begren­zung zustän­dig blei­ben. Der Selbst­ein­tritt eines ande­ren EU-Staa­tes soll nur noch in Fami­li­en­kon­stel­la­tio­nen mög­lich sein.

Der EuGH hat im Grund­satz­ur­teil ent­schie­den, dass es im Inter­es­se der Mit­glied­staa­ten und der Flücht­lin­ge ist, dass durch die Mög­lich­keit des Selbst­ein­tritts schnell die Zustän­dig­keit für das Asyl­ver­fah­ren im Land des Auf­ent­hal­tes  geklärt wird.

Zum Urteil des EuGH:

http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=145404&pageIndex=0&doclang=DE&mode=req&dir=&occ=first&part=1

http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=117187&pageIndex=0&doclang=DE&mode=req&dir=&occ=first&part=1#

Abschaf­fung des Fris­ten­ab­laufs wird Tau­sen­de zu „refu­gees in orbit“ machen 

Bis­lang muss­te ein Mit­glied­staat, der eine Dub­lin-Abschie­bung durch­set­zen möch­te, eine Über­stel­lungs­frist ein­hal­ten. Läuft sie ab, geht die Zustän­dig­keit auf den Staat, in dem sich der Flücht­ling auf­hält, über.

Die EU-Kom­mis­si­on will nun die ver­bind­li­chen Fris­ten abschaf­fen. Die Fol­ge: Flücht­lin­ge kön­nen künf­tig auch noch nach Jah­ren abge­scho­ben wer­den – huma­ni­tä­re Spiel­räu­me bestehen nicht mehr.  Die Betrof­fe­nen wären nur noch gedul­det und müss­ten in der stän­di­gen Angst leben, doch noch nach Bul­ga­ri­en, Ungarn oder Ita­li­en zurück zu müs­sen. PRO ASYL befürch­tet, dass Tau­sen­de Schutz­su­chen­de so zu „refu­gees in orbit“ wer­den – also schutz­be­dürf­ti­ge Flücht­lin­ge, die kei­nen Zugang zum Flücht­lings­schutz haben: Im Staat, in dem sie sich auf­hal­ten, wird ihnen das Asyl­ver­fah­ren ver­wehrt. In dem Staat, der laut Dub­lin-Ver­ord­nung für sie zustän­dig ist, haben sie kei­ne men­schen­wür­di­gen Überlebenschancen.

Abschie­bun­gen von unbe­glei­te­ten min­der­jäh­ri­gen Flüchtlingen

Der Euro­päi­sche Gerichts­hof hat die Abschie­bung unbe­glei­te­ter Min­der­jäh­ri­ger in ande­re EU-Staa­ten unter­sagt. Abschie­bun­gen von unbe­glei­te­ten Min­der­jäh­ri­gen sind mit dem Kin­des­wohl nicht ver­ein­bar. Nach dem Vor­schlag der EU-Kom­mis­si­on sol­len künf­tig auch unbe­glei­te­te min­der­jäh­ri­ge Flücht­lin­ge abge­scho­ben wer­den können.

Urteil des EuGH:

http://www.asyl.net/rechtsprechungsdatenbank/suchergebnis/artikel/48194.html

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