PRO ASYL und der Flücht­lings­rat Nie­der­sach­sen bekla­gen per­ma­nen­ten Verfassungsbruch

Durch geziel­te Maß­nah­men ver­hin­dert die Bun­des­re­gie­rung, dass aner­kann­te Flücht­lin­ge ihren Rechts­an­spruch auf Fami­li­en­nach­zug ein­lö­sen kön­nen. Das ergibt die Aus­wer­tung eines Pro­jekts zum Fami­li­en­nach­zug, das PRO ASYL zusam­men mit dem Flücht­lings­rat Nie­der­sach­sen gestar­tet hat.

Der Fami­li­en­nach­zug von syri­schen Flücht­lin­gen zu ihren in Deutsch­land aner­kann­ten Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen wird von der Bun­des­re­gie­rung sys­te­ma­tisch unter­gra­ben und auf die lan­ge Bank gescho­ben. Die Inte­gra­ti­on und der Neu­be­ginn in Deutsch­land könn­te für syri­sche Schutz­su­chen­de viel unge­stör­ter ver­lau­fen, wenn die­se sich nicht mona­te- oder jah­re­lang Sor­gen um ihre Ange­hö­ri­gen in den aus­ge­bomb­ten syri­schen Städ­ten oder in über­füll­ten Lagern in der Tür­kei machen müssten.

Ein Blick auf die abso­lu­ten Zah­len beim Fami­li­en­nach­zug aus Syri­en ver­deut­licht die Pro­ble­ma­tik der sys­te­ma­ti­schen Ver­hin­de­rung des Fami­li­en­nach­zugs: Seit 2011 bis Anfang 2016 wur­de nach Zah­len des Bun­des­amts für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) rund 230.000 Per­so­nen aus Syri­en in Deutsch­land Schutz gewährt.[1] Allein in den Jah­ren 2014 und 2015 wur­de 127.000 Syrer*innen Schutz gewährt. Dage­gen wur­den im Zeit­raum Anfang 2014 bis Okto­ber 2015 nur 18.400 Visa für syri­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge zum Fami­li­en­nach­zug zu Schutz­be­rech­tig­ten erteilt.

Eine Visum­an­trag­stel­lung ist auf­grund des Kriegs in Syri­en nur in den Nach­bar­län­dern mög­lich. Die Bear­bei­tung der Visums­an­trä­ge erfolgt sehr schlep­pend und nur bei weni­gen Aus­lands­ver­tre­tun­gen, die für die Betrof­fe­nen nur schwer zu errei­chen sind. Die für vie­le Flücht­lin­ge leich­ter erreich­ba­re deut­sche Aus­lands­ver­tre­tung in Erbil/Nordirak stellt bei­spiels­wei­se nur Geschäfts­vi­sa aus, kei­ne Visa für den Fami­li­en­nach­zug. Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge war­ten vie­le Mona­te oder sogar mehr als ein Jahr auf ihre Ter­mi­ne bei den deut­schen Außen­ver­tre­tun­gen in der Tür­kei, in Jor­da­ni­en und im Liba­non. Allein in Bei­rut beträgt die War­te­zeit auf einen Ter­min min­des­tens 14 Mona­te. Dort gab es Ende Dezem­ber 2015 bereits 6.000 fest­ste­hen­de Ter­mi­ne für Anträ­ge auf Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung für ins­ge­samt ca. 18.000 Per­so­nen.[2] Auch in der Tür­kei beträgt die War­te­zeit für einen Ter­min der­zeit min­des­tens 14 Monate.

Als neue­res Pro­blem ist nun die Ein­füh­rung der Visums­pflicht für Syrer in der Tür­kei hin­zu­ge­kom­men. Obwohl die Visums­pflicht offi­zi­ell nur Syrer betrifft, die über Dritt­län­der in die Tür­kei ein­rei­sen, ste­cken Tau­sen­de von Flücht­lin­gen an der syrisch-tür­ki­schen Gren­ze fest und wer­den nicht ins Land gelas­sen. Weil ein Visum für die Tür­kei nicht oder nicht zeit­nah beschafft wer­den kann, ver­fal­len Ter­mi­ne, auf die die Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen mona­te­lang gewar­tet haben. Ach­sel­zu­ckend ver­weist die Bun­des­re­gie­rung auf Sicher­heits­pro­ble­me in der Tür­kei und wäscht ihre Hän­de in Unschuld: So teil­te das Aus­wär­ti­ge Amt in der ver­gan­ge­nen Woche mit, dass die Bun­des­re­gie­rung sich – anders als im Liba­non –  in der Tür­kei nicht in der Lage sehe, vom Aus­wär­ti­gen Amt benann­ten Ein­zel­per­so­nen eine Ein­rei­se auch ohne Visum zu ermög­li­chen. Auch dies ist offen­kun­dig eine Fol­ge des Deals der Euro­päi­schen Uni­on mit der Türkei.

Mit ähn­li­chen Schwie­rig­kei­ten kämp­fen Ange­hö­ri­ge von Syrern, die Ter­mi­ne für die Visum­an­trag­stel­lung zwecks Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung über die deut­sche Bot­schaft in Jor­da­ni­en gebucht haben. Nach Jor­da­ni­en kann die nach­zie­hen­de Per­son nur ein­rei­sen, wenn dem Antrag auf Ein­rei­se sei­tens des jor­da­ni­schen Innen­mi­nis­te­ri­ums zuge­stimmt wird. Eine sol­che Ein­rei­se­ge­neh­mi­gung wird in etli­chen Fäl­len ver­wei­gert. Nach­dem das Sechs-Mil­lio­nen-Ein­woh­ner­land Jor­da­ni­en bereits rund 1,2 Mil­lio­nen syri­sche Flücht­lin­ge auf­ge­nom­men hat, müs­sen Tau­sen­de von Flücht­lin­gen in der Wüs­te vor der Gren­ze ver­har­ren und sind ausgesperrt.

PRO ASYL und der nie­der­säch­si­sche Flücht­lings­rat fordern:

  1. Das Aus­wär­ti­ge Amt soll end­lich ernst­haft han­deln und im Kon­takt mit den Län­dern Tür­kei, Jor­da­ni­en und Liba­non dafür sor­gen, dass Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge von in Deutsch­land aner­kann­ten Flücht­lin­gen schnell und unbü­ro­kra­tisch einen Ter­min zur Vor­spra­che bei einer deut­schen Aus­lands­ver­tre­tung erhalten.
  1. Drin­gend erfor­der­lich, aber bis heu­te nicht umge­setzt ist die Aus­wei­tung eines Pilot­pro­jekts des AA für die Bear­bei­tung von Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rungs­fäl­len in Ber­lin, das im letz­ten Jahr gestar­tet ist. Wenn Fami­li­en­nach­zugs­fäl­le von Syrern zen­tral in Ber­lin bear­bei­tet wür­den, könn­ten Fami­li­en­nach­zugs­an­trä­ge inner­halb von drei Mona­ten ent­schie­den werden.
  1. Auch soll­te das AA es ermög­li­chen, dass Syrer in allen rund 30 Staa­ten, in die sie visa­frei ein­rei­sen kön­nen, Fami­li­en­nach­zugs­an­trä­ge bei den dor­ti­gen deut­schen Ver­tre­tun­gen stel­len kön­nen. Der­zeit ist dies nach Kennt­nis des Flücht­lings­rats und PRO ASYL nur in deut­schen Ver­tre­tun­gen in Indo­ne­si­en und Tan­sa­nia mög­lich. War­um nicht in Kai­ro oder Teheran?

Die Schwie­rig­kei­ten bei der Visum­ser­tei­lung könn­ten bewäl­tigt wer­den, wenn der poli­ti­sche Wil­le da ist, und wenn die hohen büro­kra­ti­schen Hür­den gezielt abge­baut wer­den. Der Fami­li­en­nach­zug zu aner­kann­ten Flücht­lin­gen ist eine der weni­gen lega­len und unge­fähr­li­chen Ein­rei­se­mög­lich­kei­ten. Gera­de im Hin­blick auf das EU-Tür­kei-Abkom­men und die völ­li­ge Abschot­tung der Gren­ze zu Grie­chen­land sind hier schnell Ver­bes­se­run­gen erforderlich.

wei­te­re Informationen:

Karim Alwa­si­ti
Flücht­lings­rat Nie­der­sach­sen e.V.
Röp­kestr. 12
30173 Hannover
Tel.: 0511/98 24 60 32
Mo-Fr: 10.00 bis 12.30, Di+Do: 14.00 bis 16.00
Fax: 0511/98 24 60 31

www.nds-fluerat.org
www.facebook.com/Fluechtlingsrat.Niedersachsen

Anhang 1: Aku­te Pro­ble­me beim Familiennachzug

Anhang 2: Fallbeispiele


[1]     Bun­des­tags­druck­sa­che 18/7200, Sei­te 18 + eige­ne Berech­nung nach Asyl­sta­tis­ti­ken des BAMF; 192.000 Flücht­lin­ge stell­ten einen Asyl­an­trag, knapp 40.000 fan­den im Rah­men von Auf­nah­me­ak­tio­nen von Bund und Län­dern Schutz in Deutschland

[2]     Quel­le Bun­des­tags­druck­sa­che 18/7200, Sei­te 19 Anla­ge: 1

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