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»Unsicherheit und Angst vor Abschiebung zerstören die Erfolge in Bildung und Integration«
Mit dem Chancen-Aufenthaltsgesetz, das seit Anfang 2023 gilt, verbinden sich viele Hoffnungen. Doch viele junge, gut integrierte Geflüchtete stehen unter Druck, weil ihr Weg zu einer Aufenthaltserlaubnis erschwert wurde. Beraterin Sara Pfau spricht über Chancen, Verzweiflung und Angstattacken. Die Lösung: Rücknahme des Vorduldungsjahres.
Vor einem Jahr ist das Gesetz zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts in Kraft getreten, das vielen Menschen den Weg zu einem gesicherten Aufenthalt ebnen soll. Darin gibt es auch Veränderungen bei den Bleiberechtsregelungen für gut integrierte Jugendliche und junge Erwachsene – leider nicht nur zum Vorteil dieser Gruppe. Welche Erfahrungen haben Sie in der Begleitung von jungen Leuten im vergangenen Jahr gesammelt?
Gemischte Erfahrungen. Die Änderungen im Paragrafen 25a im Aufenthaltsgesetz (Bleiberechtsregelung für gut integrierte Jugendliche und jungen Volljährigen) haben auf der einen Seite großes Potenzial, jungen gut integrierten Geflüchteten eine stabile Bleibeperspektive zu bieten. Positiv ist, dass die Altersgrenze von 21 auf 27 Jahre erhöht und die notwendige Voraufenthaltszeit in Deutschland von vier auf drei Jahre gesenkt wurde, sodass weit mehr junge Leute als bisher die Chance auf einen gesicherten Aufenthalt bekommen. Auf der anderen Seite gerät aber ein Teil der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in eine sehr prekäre aufenthaltsrechtliche Situation, was zu Angst, Unsicherheiten und Schwierigkeiten in Schule und Ausbildung führen kann.
Wieso führt ein Teil der neuen Regelungen im Bleiberecht zu Angst und Unsicherheit?
Weil die jungen Leute, anders als bisher, eine einjährige sogenannte Vorduldungszeit vorweisen müssen. Das heißt, sie müssen eine Aufenthaltserlaubnis nach dem Chancen-Aufenthaltsrecht (Paragraf 104c Aufenthaltsgesetz) haben oder sie müssen mindestens zwölf Monate geduldet sein, bevor sie eine Aufenthaltserlaubnis nach Paragraf 25a Aufenthaltsgesetz beantragen können. Bis zum 1. Januar 2023 mussten sie zwar eine Duldung haben, wenn sie den Antrag stellten, aber es spielte keine Rolle, wie lange sie bereits geduldet waren.
Bei uns in der Beratung sind 35 Jugendliche, die nach der vorherigen Regelung des 25a Aufenthaltsgesetz zwischen Juli und Dezember 2023 bei der Ausländerbehörde ihren Antrag auf einen Aufenthaltstitel nach Bleiberecht für junge, gut integrierte Jugendliche hätten einreichen können. Weil sie aber nun das Vorduldungsjahr vorweisen müssen, können nach aktuellem Stand nur zwei ihren Antrag einreichen. Das heißt, nur zwei von 35 können von dem neuen Bleiberecht für junge Geflüchtete profitieren.
Das Chancen-Aufenthaltsrecht (Paragraf 104 Aufenthaltsgesetz) gilt seit dem 1. Januar 2023. Diese 18-monatige Aufenthaltserlaubnis auf Probe stellt sozusagen eine Brücke zu den Aufenthaltserlaubnissen nach Paragraf 25a Aufenthaltsgesetz und Paragraf 25b Aufenthaltsgesetz dar. Doch im Zuge der monatelangen Verhandlungen im Jahr 2022 über den Referentenentwurf, den neuen Paragrafen 104c und besonders die Änderung des Stichtages setzte die FDP eine Verschlechterung für junge gut integrierte Geflüchtete in der Bleiberechtsregelung des Paragrafen 25a für gut integrierte Jugendliche und junge Erwachsene durch. Neben Integrationsleistungen wie einem erfolgreichen Schulbesuch und einem dreijährigen erlaubten, geduldeten oder gestatteten Aufenthalt im Bundesgebiet kam eine weitere Voraussetzung hinzu: Die jungen Leute müssen nun in dem Jahr, das der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangeht, durchweg geduldet sein.
Selbst wenn ein Jugendlicher also beispielsweise bereits länger als die verlangte Voraufenthaltszeit ein Asylverfahren durchlaufen hat und in dieser Zeit gestattet war, soll der bloße Wechsel in den geduldeten Aufenthalt mit der Ablehnung des Asylantrags oder der Beendigung des Asylprozesses nicht mehr ausreichen. Vielmehr muss er zuerst noch eine Mindestduldungszeit von einem Jahr erreichen.
Diese Vorduldungszeit verschafft Ausländerbehörden zusätzliche Spielräume, gut integrierte Jugendliche abzuschieben, bevor die Bleiberechtsregelung überhaupt greift – obwohl ein junger Mensch zum Beispiel mitten im Schulabschluss steckt.
Was bedeutet das für die jungen Leute? Sie sind ja nah dran an ihnen, weil Sie in der auch von der Stiftung PRO ASYL unterstützten Asylverfahrensberatung für den Trägerkreis Junge Flüchtlinge e.V. an der SchlaU Schule und an der Berufsschule zur Berufsintegration in München arbeiten.
Angst und Stress. Seit der Gesetzesänderung zum Bleiberecht für junge gut integrierte Geflüchtete merke ich im Beratungsalltag, dass die Schüler*innen und Auszubildenden unter erhöhtem emotionalen Stress stehen. Sie selbst sagen, dass das von der Ungewissheit kommt, die durch die zwölfmonatige Vorduldungszeit für sie entsteht. Viele der jungen Geflüchteten, die zu mir in die Beratung kommen, sind ohnehin durch diverse Faktoren stark belastet: zum Beispiel durch traumatische Erlebnisse im Herkunftsland oder auf der Flucht, durch die Trennung von der Familie – aber auch durch die unklare Aufenthaltsperspektive.
Viele kannten die alten Regelungen der Aufenthaltserlaubnis nach Paragraf 25a Aufenthaltsgesetz und hofften, nach ihrem Schulabschluss den Antrag auf Aufenthaltserlaubnis stellen zu können. Durch die Neuregelungen durch das Chancen-Aufenthaltsrecht und viele weitere umgesetzte und anstehende Änderungen im Aufenthaltsgesetz kommt eine neue Ungewissheit für die jungen Menschen hinzu, bei der auch ich als Beraterin oft keine eindeutigen Hinweise geben kann.
Das heißt, die Schüler*innen leben in ständiger Angst?
Ja. Erst vor kurzem erzählte uns ein Schüler, dass sein Bruder, der in einer anderen Stadt in Bayern wohnt, von der Polizei in seiner Schule gesucht wird. Der junge Heranwachsende besuchte dort die 11. Klasse eines Gymnasiums und war erst seit sehr kurzer Zeit geduldet. Viele unserer Schüler*innen mit Duldung haben diese Angst: Wird die Polizei in die Schule kommen, um mich zu holen? Oder kommt die Polizei mitten in der Nacht in mein Zuhause? Sie berichten, dass sie sich im Unterricht schwer konzentrieren können und nachts schlecht schlafen. Diese Ängste sind oft subjektiv und spiegeln nicht unbedingt die tatsächliche Gefahr einer Abschiebung im konkreten Einzelfall wider. Trotzdem haben diese Ängste tatsächliche Auswirkungen auf die schulischen Leistungen und verhindern, trotz großer Motivation der einzelnen Schüler*innen und trotz ihres großen Fleißes, immer wieder die Lernerfolge.
Aber gilt nicht: Wer in einer Ausbildung ist, kann nicht abgeschoben werden?
In der Regel werden Menschen, die eine Ausbildung absolvieren, nicht abgeschoben, weil sie eine Ausbildungsduldung haben. Da aber nicht alle die hohen Voraussetzungen für eine Ausbildungsduldung erreichen können, liegt es manchmal im Ermessen der Ausländerbehörde vor Ort, ob sie eine Ausbildungsduldung erteilt oder nicht. Zudem gibt es je nach Einreisedatum unterschiedliche Fristen für die Identitätsklärung. Zu den hohen Anforderungen gehört deshalb für manche der jungen Menschen, dass sie in den ersten sechs Monaten, nachdem sie nach Deutschland eingereist sind, zumindest versucht haben müssen, ihre Identität zu klären – und das nachweisen können müssen, zum Beispiel durch eine Dokumentation ihrer Bemühungen. Wobei man an dieser Stelle erwähnen muss, dass nicht jede Form der Identitätsklärung im Asylverfahren erfolgen sollte. Zum Beispiel sollten Betroffene sich im laufenden Asylverfahren nicht an ihre Botschaft zur Passbeschaffung wenden.
In der Praxis erleben wir aber häufig, dass die jungen Menschen davon erst zu spät überhaupt erfahren. Erst in der Anhörung zu den Asylgründen beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) werden die jungen Menschen oft das erste Mal gefragt, ob sie Identitätsdokumente haben. Unserer Schüler*innen, die minderjährig eingereist sind, haben diesen Termin aber oft erst mehr als sechs Monate nach ihrer Einreise.
Zum Beispiel haben wir einen Schüler, der bei Einreise nach Deutschland seine Geburtsurkunde dabei hatte. Er wurde aber erst circa neun Monate nach seiner Einreise nach Identitätsdokumenten gefragt – und erfüllt somit nicht die Voraussetzung der Ausbildungsduldung, obwohl es einfach für ihn gewesen wäre, innerhalb der ersten sechs Monate seine Identität nachzuweisen, wenn er es denn gewusst hätte.
Manchen unserer Schüler*innen droht während des Abschlussjahrs oder während der Ausbildung konkret die Abschiebung. Und das, obwohl sie, mit Ausnahme des einjährigen Vorduldungsjahrs, alle Voraussetzungen der Aufenthaltserlaubnis nach Paragraf 25a Aufenthaltsgesetz erfüllen würden. Manche Schüler*innen können sich dann durch die Ausbildungsduldung vor einer Abschiebung schützen. Viele haben diese Möglichkeit nicht, da sie Voraussetzungen der Ausbildungsduldung nicht erfüllen – weil sie keinen Zugang zu den Informationen hatten!
Das war ein wichtiger Exkurs in die Tücken der Ausbildungsduldung. Kommen wir wieder zurück zum Vorduldungsjahr: der neuen Bedingung, um eine Aufenthaltserlaubnis nach Paragraf 25a Aufenthaltsgesetz zu bekommen. Haben Sie da konkrete Menschen aus Ihrer Beratung vor Augen?
Da ist zum Beispiel ein junger Mann aus Gambia, ich nenne ihn hier mal Yero, der bisher in Deutschland schon sehr viel geschafft hat. Er floh 2019 aus Gambia und kam Anfang 2020, als damals 17-Jähriger, nach Deutschland. Er absolvierte einen Deutschkurs und schloss nach nur einem Schuljahr im Juli 2022 erfolgreich mit dem Mittelschulabschluss ab. Gleich danach, im August 2022, begann er eine zweijährige Ausbildung, die er voraussichtlich im August 2024 erfolgreich abschließen wird und die ihn vor einer Abschiebung schützt. Nach den alten Regelungen des Paragrafen 25a könnte er bereits Anfang 2024 eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen. Doch nun braucht er das Jahr Vorduldungszeit.
Da aber sein Asylantrag Ende 2020 negativ entschieden worden war, klagte er dagegen. Bisher hat die mündliche Verhandlung noch nicht stattgefunden, Yero hat weiter eine Aufenthaltsgestattung – und keine Duldung, das bedeutet, er kann derzeit nichts dafür tun, um die Bedingung Vorduldungsjahr zu erfüllen. Yero ging mit der Information in die Ausbildung, dass er, falls auch seine Klage abgelehnt wird, nach diesem negativen Abschluss seines Asylverfahrens einen Antrag auf Bleiberecht für junge gut integrierte Geflüchtete stellen kann, da er die Voraussetzungen, die vor der Änderung bestanden, bereits erfüllt. Jetzt aber steht er kurz vor dem Abschluss seiner Ausbildung und ist konfrontiert mit einer ungewissen aufenthaltsrechtlichen Perspektive: Wie wird es nach der Ausbildung weitergehen? Welche aufenthaltsrechtlichen Perspektiven hat er ohne das Duldungsjahr, also ohne die Möglichkeit, einen Antrag auf einen Aufenthalt nach 25a Aufenthaltsgesetz stellen zu können? Yero macht sich große Sorgen, ist nervös und bekommt immer wieder unkontrollierte Angstanfälle.
Das ist psychisch extrem belastend. Wie gehen die jungen Menschen damit um?
Einige sind verzweifelt, fühlen sich überfordert, können nicht schlafen, ihre bisher guten Leistungen in Schule oder Ausbildung lassen rapide nach. Ein anderen junger Mann aus dem Irak, ich nenne ihn Zoran, hatte einen Notendurchschnitt von 1,5, keine Fehlzeiten und wurde von seinen Lehrer*innen und Klassenkamerad*innen als pünktlich, motiviert und fröhlich beschrieben. Nach der alten Regelung hätte er direkt nach dem Schulabschluss den Aufenthalt nach Paragraf 25a beantragen können. Das geht nun nicht mehr.
Seitdem er weiß, dass er das Vorduldungsjahr braucht, und nachdem jetzt auch noch seine Klage abgelehnt wurde, ist seine Stimmung gedrückt, er ist hoffnungslos und frustriert und sieht sich im absoluten Kontrollverlust. Dennoch hat er vor einigen Monaten seinen Schulabschluss geschafft und eine Ausbildung begonnen. Doch die Angst vor einer Abschiebung in den Irak lähmt ihn und beeinträchtigt seine Ausbildungsfähigkeit. In der Beratung müssten wir eigentlich über die nächsten praktischen Schritte wie Identitätsklärung und den Antrag auf Ausbildungsduldung bei der Ausländerbehörde sprechen. Doch wir sind im Wesentlichen damit beschäftigt, Zoran zu stabilisieren.
So werden die jungen Menschen und ihre jahrelangen Erfolge zerstört. Die ewige Unsicherheit und die Angst vor Abschiebungen zerstören die Erfolge in Bildung und Integration und jedes Vertrauen und jede Zuversicht in die Zukunft.
Gäbe es aus Ihrer Sicht einen Ausweg aus dieser Situation?
Ja, das ist recht einfach: Das Vorduldungsjahr muss wieder abgeschafft werden. Jugendliche und junge Heranwachsende brauchen Stabilität, um sich auf den Schulabschluss und die Ausbildung konzentrieren zu können. Durch die Duldung geraten sie unter zusätzlichen Druck, der, zumindest mit einer hohen Wahrscheinlichkeit, ihre schulischen Leistungen beeinträchtigt.
Sara Pfau arbeitet in der Asylverfahrensberatung für den Trägerkreis Junge Flüchtlinge e.V. an der SchlaU Schule und an der Berufsschule zur Berufsintegration in München. SchlaU steht für »Schulanaloger Unterricht«. Das Projekt wird von der Stiftung PRO ASYL unterstützt.
(wr)