30.05.2023
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Bogdan Ivanel im Interview.

Asylsuchende in Rumänien berichten von brutalen Push-Backs, gleichzeitig erhalten ukrainische Geflüchtete mit einer eigens geschaffenen Webplattform Hilfe. Die treibende Kraft hinter dem Online Tool ist die NGO Code for Romania. Gründer und Geschäftsführer Bogdan Ivanel, der auch die NGO Commit Global leitet, berichtet im Interview von der Arbeit.

Kannst du bit­te kurz dar­auf ein­ge­hen, wann und war­um Code for Roma­nia gegrün­det wurde?

Code for Roma­nia wur­de vor sie­ben Jah­ren gegrün­det, zu einem Zeit­punkt, als die rumä­ni­sche Zivil­ge­sell­schaft an einem Wen­de­punkt stand: Ende 2015 kamen bei einem Brand in einem Buka­res­ter Kon­zert­club mehr als 60 Men­schen ums Leben. Ich traf mich mit ande­ren Rumän*innen, die in den Nie­der­lan­den leb­ten, und wir stell­ten fest, dass in Rumä­ni­en digi­ta­le Tech­no­lo­gie als Mit­tel für sozia­len Wan­del kaum zum Ein­satz kommt. So ent­stand Code for Roma­nia. Unser Ziel war es, ande­re NGOs mit digi­ta­len Werk­zeu­gen aus­zu­stat­ten, um bes­se­re Arbeit leis­ten zu kön­nen. In Rumä­ni­en gibt es tra­di­tio­nell sehr gute IT-Ingenieur*innen und vie­le von ihnen hat­ten das Bedürf­nis, sich ehren­amt­lich zu enga­gie­ren. Im Jahr 2019 waren wir mit über 2.000 frei­wil­li­gen Helfer*innen bereits die zweit­größ­te zivil­ge­sell­schaft­li­che Tech­no­lo­gie­ge­mein­schaft welt­weit. Im März 2020 fan­den wir uns im Zuge der Coro­na-Pan­de­mie plötz­lich in der Rol­le wie­der, nicht nur die Zivil­ge­sell­schaft, son­dern auch die rumä­ni­sche Regie­rung zu unter­stüt­zen. Dies ist vor dem Hin­ter­grund zu sehen, dass es in Rumä­ni­en kei­ne staat­li­che Insti­tu­ti­on gibt, die sich mit Digi­ta­li­sie­rung beschäf­tigt. Daher waren wir es, die die digi­ta­le Infra­struk­tur zur Bewäl­ti­gung der Coro­na-Kri­se auf­ge­baut haben und die von nahe­zu der gesam­ten Bevöl­ke­rung Rumä­ni­ens genutzt wur­de. Und gera­de als wir dach­ten, alles wür­de sich wie­der ein Stück weit nor­ma­li­sie­ren, begann der Krieg in der Ukraine.

Wie habt ihr nach dem Angriff Russ­lands reagiert?

Bereits am ers­ten Tag des Krie­ges haben wir beschlos­sen, alle ande­ren Pro­jek­te, an denen wir gear­bei­tet haben, auf Eis zu legen. Wir haben uns umge­hend mit der rumä­ni­schen Regie­rung, den UN-Orga­ni­sa­tio­nen und ande­ren Orga­ni­sa­tio­nen der rumä­ni­schen Zivil­ge­sell­schaft in Ver­bin­dung gesetzt. Inner­halb weni­ger Stun­den gelang es uns, eine brei­te Koali­ti­on zu bil­den und nach nur 48 Stun­den ging die Infor­ma­ti­ons­platt­form »dopomoha.ro « online. »Dopo­mo­ha« ist das ukrai­ni­sche Wort für Hil­fe. Die Web­sei­te stellt Infor­ma­tio­nen für Geflüch­te­te aus der Ukrai­ne auf Ukrai­nisch, Rus­sisch, Eng­lisch und Rumä­nisch zur Ver­fü­gung. In ande­ren Län­dern gibt es vie­le ver­schie­de­ne Platt­for­men: Die UN-Orga­ni­sa­tio­nen ver­brei­ten Infor­ma­tio­nen, die NGOs vor Ort und die Behör­den machen das eben­falls. Oft sind die zugäng­li­chen Infor­ma­tio­nen wider­sprüch­lich und die Art der For­mu­lie­rung unter­schei­det sich stark. Das bringt Risi­ken für die Geflüch­te­ten mit sich, weil sie nicht wis­sen, wem sie ver­trau­en kön­nen. Im Gegen­satz dazu ist es uns in Rumä­ni­en gelun­gen, alle rele­van­ten Akteu­re zusam­men­zu­brin­gen, um mit einer Stim­me zu spre­chen. Die­se Stim­me ist »dopomoha.ro«. Der Rest unse­rer Akti­vi­tä­ten wur­de dar­um her­um auf­ge­baut. Die Geflüch­te­ten müs­sen sich nur an »dopomoha.ro« erin­nern, dort erhal­ten sie Zugang zu wich­ti­gen Infor­ma­tio­nen, aber auch zu Wohn­raum, psy­cho­lo­gi­scher Unter­stüt­zung und Gesundheitsversorgung.

Wie ist es euch gelun­gen, die ver­schie­de­nen Akteur*innen von der Not­wen­dig­keit einer gemein­sa­men digi­ta­len Platt­form zu überzeugen?

Ein sehr wich­ti­ger Punkt war die Geschwin­dig­keit, mit der wir gehan­delt haben. Inner­halb weni­ger Stun­den hat­ten wir Kon­takt zu den rele­van­ten Akteur*innen auf­ge­nom­men und mit der Arbeit an der Platt­form begon­nen. Hät­ten wir zu viel Zeit ver­strei­chen las­sen, hät­ten ver­mut­lich vie­le ihre eige­nen Platt­for­men ein­ge­rich­tet. Erfah­rungs­ge­mäß ist es schwie­ri­ger, jeman­den wie­der von etwas abzu­brin­gen, was er bereits tut. Der zwei­te wich­ti­ge Punkt war, dass wir die Fähig­kei­ten und Res­sour­cen hat­ten, um schnell han­deln zu kön­nen. Es ist uns gelun­gen, die Infor­ma­tio­nen, die wir von unter­schied­li­chen Sei­ten bekom­men haben, in  »dopomoha.ro« zu inte­grie­ren und dabei For­mu­lie­run­gen zu ver­wen­den, die Geflüch­te­te auch ver­ste­hen kön­nen. Vor allem mit den Behör­den gab es des­we­gen vie­le Gesprä­che, weil sie zu einer sehr tech­no­kra­ti­schen Spra­che neigen.

Kannst du bit­te noch etwas detail­lier­ter auf die ver­schie­de­nen Berei­che ein­ge­hen, die ihr mit eurer Arbeit unterstützt?

Unser pri­mä­res Ziel war es, Zugang zu Infor­ma­tio­nen zu gewähr­leis­ten. Wir haben dann aber schnell gemerkt, dass weder die Behör­den, noch die UN-Orga­ni­sa­tio­nen oder die loka­len NGOs über eine effi­zi­en­te digi­ta­le Infra­struk­tur ver­füg­ten. Des­we­gen haben wir zunächst eine Platt­form zur Ver­wal­tung von Unter­brin­gungs­plät­zen ent­wi­ckelt. Wenn Geflüch­te­te über »dopomoha.ro« Unter­brin­gungs­be­darf anmel­den, wird die­se Anfra­ge zunächst an die zustän­di­ge Behör­de wei­ter­ge­lei­tet, wel­che sich dann in Koope­ra­ti­on mit ande­ren Orga­ni­sa­tio­nen dar­um küm­mert. So ist es mög­lich, den Geflüch­te­ten eine Unter­kunft zur Ver­fü­gung zu stel­len, die ihren Bedürf­nis­sen ent­spricht. Mit einer wei­te­ren von uns ent­wi­ckel­ten Platt­form ist es mög­lich, alle ande­ren Arten von Hil­fe zu koor­di­nie­ren: Von Trans­port über Medi­ka­men­te bis hin zu Klei­dung und Lebens­mit­teln. Das war nicht nur not­wen­dig, damit die Orga­ni­sa­tio­nen vor Ort effi­zi­en­ter arbei­ten kön­nen und kei­ne Excel-Tabel­len oder ähn­li­ches ver­wen­den müs­sen, son­dern auch, um die Sicher­heit der Geflüch­te­ten zu gewähr­leis­ten. Wenn Sie bei­spiels­wei­se eine Frau mit zwei klei­nen Kin­dern sind und sich plötz­lich in einem Land wie­der­fin­den, in dem Sie noch nie zuvor waren und des­sen Spra­che sie nicht ver­ste­hen, kann es leicht pas­sie­ren, dass sie jemand mit­nimmt, der Ihnen eine Mit­fahr­ge­le­gen­heit oder eine Unter­kunft anbie­tet. Selbst wenn 99 % der Men­schen ein­fach nur hel­fen wol­len, muss den­noch unbe­dingt ver­mie­den wer­den, dass Schlim­mes pas­siert. Ein wei­te­res Pro­jekt von uns zielt auf chro­nisch kran­ke Men­schen ab, die die Gren­ze nicht ohne wei­te­res über­que­ren kön­nen. Wir spre­chen hier von Krank­hei­ten wie Krebs, HIV oder Mul­ti­ple Skle­ro­se. Die­se Men­schen brau­chen drin­gend kon­ti­nu­ier­li­chen Zugang zu medi­zi­ni­scher Ver­sor­gung, wes­halb wir digi­ta­le Werk­zeu­ge für das Fall­ma­nage­ment ent­wi­ckelt haben: Ukrainer*innen kön­nen mitt­ler­wei­le bereits in ihrem Hei­mat­ort über »dopomoha.ro« auf medi­zi­ni­sche Diens­te zugrei­fen und kön­nen sicher sein, dass jemand auf sie war­tet und sie ärzt­lich ver­sorgt wer­den. Außer­dem haben wir ein digi­ta­les Gesund­heits­zen­trum für Frau­en ein­ge­rich­tet, die schwan­ger sind, Babys haben oder einen Schwan­ger­schafts­ab­bruch vor­neh­men las­sen möch­ten. Mehr als 40 rumä­ni­sche und mol­daui­sche Orga­ni­sa­tio­nen koope­rie­ren in die­sem Bereich, um Frau­en, die Hil­fe, die sie benö­ti­gen, zur Ver­fü­gung stel­len zu kön­nen. Dar­über hin­aus arbei­ten wir momen­tan an einer Platt­form für psy­cho­lo­gi­sche Hil­fe, da wir fest­ge­stellt haben, dass es einen immensen Bedarf an ukrai­nisch­spra­chi­gen Psycholog*innen gibt.

Wie funk­tio­niert die Unter­brin­gungs­platt­form in der Pra­xis und wie vie­le Men­schen wur­den über sie bereits vermittelt?

In ver­schie­de­nen Län­dern sind zahl­rei­che Unter­brin­gungs­in­itia­ti­ven ent­stan­den. Es geht jedoch nicht nur dar­um, die Nach­fra­ge mit Men­schen zusam­men­zu­brin­gen, die Wohn­raum anbie­ten wol­len, son­dern auch dar­um, zu gewähr­leis­ten, dass der ange­bo­te­ne Wohn­raum sicher und geeig­net ist. Über die Woh­nungs­platt­form wer­den ver­schie­de­ne Unter­brin­gungs­for­men ver­wal­tet: Staat­li­che Ein­rich­tun­gen und Ein­rich­tun­gen, die von NGOs betrie­ben wer­den. Hin­zu kom­men Zim­mer, die  von Unter­neh­men wie Hotels ange­bo­ten wer­den, und Woh­nun­gen von Pri­vat­per­so­nen. Letz­te­re wer­den vor der Ver­mitt­lung von den Behör­den kon­trol­liert. Bei der Zutei­lung von Wohn­raum wer­den zunächst staat­li­che Ein­rich­tun­gen berück­sich­tigt und dann Wohn­raum, der von Unter­neh­men und NGOs ver­wal­tet wird. Die­ser ist leich­ter zu ver­wal­ten und zu kon­trol­lie­ren als der von Pri­vat­per­so­nen zur Ver­fü­gung gestell­te Wohn­raum. Allein in den letz­ten bei­den Wochen sind über die Unter­brin­gungs­platt­form mehr als 9.000 Anfra­gen ein­ge­gan­gen, wobei eine Anfra­ge meh­re­re Per­so­nen betref­fen kann. Auch die Dau­er der gewünsch­ten Unter­brin­gung unter­schei­det sich: Man­che Men­schen wol­len nur ein paar Tage in Rumä­ni­en blei­ben und dann wei­ter­rei­sen, ande­re wol­len län­ger bleiben.

Wie arbei­tet Code for Roma­nia intern?

Ein wesent­li­cher Punkt, der Code for Roma­nia von vie­len ande­ren zivil­ge­sell­schaft­li­chen IT-Initia­ti­ven unter­schei­det, ist, dass wir sehr viel recher­chie­ren, bevor wir die ers­te Zei­le Code schrei­ben. Wir hat­ten das Glück, dass wir vor eini­gen Jah­ren zur Vor­be­rei­tung auf ein Erd­be­ben in Buka­rest recher­chiert hat­ten, was in den nächs­ten Jah­ren pas­sie­ren könn­te. Dabei wur­de uns klar, dass es einen Bedarf an digi­ta­len Werk­zeu­gen zur Zutei­lung von Wohn­raum gibt, also ent­war­fen wir ers­te Lösun­gen. Aber wir hat­ten nicht die finan­zi­el­len Mit­tel und die Ener­gie, um die­ses Pro­jekt wei­ter­zu­füh­ren. Als der Krieg aus­brach, war die Arbeit bereits zur Hälf­te erle­digt: Wir wuss­ten, was wir pro­gram­mie­ren müs­sen, und das hat uns eine Men­ge Zeit gespart. Zudem waren wir in der kom­for­ta­blen Situa­ti­on, unse­re gro­ße Gemein­schaft von ehren­amt­li­chen Helfer*innen ein­bin­den zu kön­nen. Im ers­ten Monat haben 500 Men­schen Tag und Nacht gear­bei­tet. Die Platt­for­men für die Zutei­lung von Wohn­raum und die zur Koor­di­na­ti­on sons­ti­ger Hil­fen wur­den von ihnen ent­wi­ckelt. Als der Druck dann nach eini­ger Zeit etwas nach­ließ und wir Gel­der akqui­rie­ren konn­ten, haben wir bezahl­te Mitarbeiter*innen ein­ge­stellt. Frei­wil­li­ge kön­nen die­ses Arbeits­pen­sum nicht dau­er­haft bewältigen.

»In Rumä­ni­en kön­nen ukrai­ni­sche Geflüch­te­te auf eine zeit­ge­mä­ße digi­ta­le Infra­struk­tur zurückgreifen«

Bog­dan Ivanel

Was ist eure Visi­on für die Zukunft?

In Rumä­ni­en kön­nen ukrai­ni­sche Geflüch­te­te auf eine zeit­ge­mä­ße digi­ta­le Infra­struk­tur zurück­grei­fen. In ande­ren Län­dern ist das nicht der Fall. Des­we­gen sehen wir uns in der Ver­ant­wor­tung, unse­re Infra­struk­tur auch anders­wo zur Ver­fü­gung zu stel­len. Wir füh­ren bereits Gesprä­che mit Behör­den und NGOs in ande­ren Län­dern. Begon­nen haben wir mit Mol­dau, weil hier die Sprach­bar­rie­re am gerings­ten ist. Aber wir haben auch ers­te Kon­tak­te nach Bul­ga­ri­en, Finn­land und Deutsch­land geknüpft, um her­aus­zu­fin­den, wie wir mög­li­cher­wei­se hel­fen kön­nen und wel­che unse­rer Lösun­gen dort anwend­bar sind. Mit­tel­fris­tig wol­len wir sicher­stel­len, dass unse­re digi­ta­le Infra­struk­tur erhal­ten bleibt und welt­weit dort ein­ge­setzt wer­den kann, wo sie gebraucht wird. Zu die­sem Zweck haben wir eine neue Orga­ni­sa­ti­on namens »Com­mit Glo­bal« gegrün­det.

Das Inter­view führ­te Marc Speer, der im Rah­men eines gemein­sa­men Pro­jekts von PRO ASYL und bordermonitoring.eu über die Situa­ti­on von ukrai­ni­schen Geflüch­te­ten in den Nach­bar­staa­ten der Ukrai­ne berichtet.