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Systemische Mängel: Gericht stoppt Abschiebung von Flüchtling nach Ungarn
Das Asylsystem in Ungarn leidet unter systemischen Mängeln. Dies hat das Verwaltungsgericht Berlin in einem richtungsweisenden Eilverfahren festgestellt. Es hat Abschiebungen nach Ungarn für unzulässig erklärt, da eine „ernstliche Befürchtung der systematisch willkürlichen und unverhältnismäßigen Inhaftierung von alleinstehenden und volljährigen Dublin-Rückkehrern“ bestehe. Dabei stützt sich das Gericht auf einen von PRO ASYL jüngst veröffentlichten Stellungnahme zur Situation in Ungarn.
Kollabiertes Aufnahmesystem: Asylantragssteller verzwanzigfacht
Ungarn ist in den letzten Jahren ein immer wichtigeres Ersteinreisland für Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa geworden. In nur zwei Jahren hat sich die Anzahl der Asylantragssteller in Ungarn verzwanzigfacht. 2014 wurden 42.777 Asylanträge gestellt. Zwei Jahren zuvor waren es gerade einmal 2.157 Anträge. Bleiben möchte in Ungarn jedoch kaum jemand. Das Aufnahmesystem ist vollständig überlastet – überfüllte Flüchtlingslager und Obdachlosigkeit sind die Folge.
Wer ein Asylantrag stellt, dem droht zudem die Inhaftierung. Alleine zwischen dem 1.7.2013 und dem 31.8.2014 wurden 3.626 Asylsuchend eingesperrt. Die Tendenz ist steigend, denn seit September 2014 werden in Ungarn auch verstärkt asylsuchende Familien inhaftiert. In zahlreichen Menschenrechtsberichten sowie zuletzt auch durch den Menschenrechtsbeauftragten des Europarats, Nils Muižnieks, wird die Inhaftierungspraxis scharf kritisiert.
Schaffen es Flüchtlinge aus Ungarn weiterzureisen und kommen sie etwa nach Deutschland, droht die Abschiebung im Rahmen eines sogenannten Dublin-Verfahrens. Von Januar bis November 2014 hat Deutschland Ungarn um die „Übernahme“ von 1941 Flüchtlingen gebeten – ihnen droht damit die Abschiebung. Dies, obwohl insbesondere Personen ‚die ein Dublin-Verfahren durchlaufen, die umgehende Inhaftierung droht. Die Anzahl der Übernahmeersuchen geht aus zwei Bundestagsdrucksachen (1, 2) hervor.
Systemische Mängel: Eine richtungsweisende Eil-Entscheidung
Das Verwaltungsgericht Berlin hat nun in einer richtungsweisende Eil-Entscheidung die Abschiebung eines Flüchtlings nach Ungarn gestoppt (Beschl. v. 15.01.2015, Az. VG 23 L 899.14). „Die Praxis dieses Staates, Asylbewerber und hier insbesondere die im Dublin-Verfahren überstellten Personen nahezu ausnahmslos in Asylhaft zu nehmen, verstoße gegen das in Art. 6 der EU-Grundrechtecharta kodifizierte Recht auf Freiheit. Aktuelle Berichte insbesondere des UNHCR, von Pro Asyl und auch des Auswärtigen Amtes belegten, dass Ungarn Asylbewerber ohne Angabe von Gründen zum Teil bis zu sechs Monate inhaftiere, ohne dass dies tatsächlich notwendig sei“, schreibt das Verwaltungsgericht Berlin in einer Pressemitteilung vom Montag, den 19.01.2015. Bei seinen Ausführungen über die als willkürlich und unverhältnismäßig eingestufte Haftpraxis stützt sich das Gericht immer wieder auf die jüngste Stellungnahme von PRO ASYL. Ebenfalls hatte UNHCR die menschenrechtlich höchst umstrittene Inhaftierung von Dublin-Rückkehrern in einer Stellungnahme kritisiert.
Was folgt aus der Entscheidung?
Ob andere Gerichte sich der Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin anschließen, bleibt abzuwarten. Bis entweder höchstinstanzlich die Entscheidung bestätigt wird oder die Bundesregierung einen Überstellungsstopp erlässt, muss in jedem Einzelfall um einen Verbleib in Deutschland gerungen werden.
Die Feststellung systemischer Mängel ist jedoch juristisch von großer Bedeutung: Nachdem der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Jahr 2011 das Vorliegen solcher Mängel bezüglich Griechenland feststellte, wurden sämtliche Überstellungen aus Deutschland nach Griechenland gestoppt. Das Neue an der Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlins ist, dass die systemischen Mängel nicht aufgrund einer drohenden Verletzung von Art. 4 Grundrechte-Charta (Verbot der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung) sondern von Art. 6 Grundrechte-Charta (Recht auf Freiheit) angenommen wird. Zurecht entwickelt das Gericht die Rechtsprechung des EuGH weiter und bietet nun auch einen Schutz vor Dublin-Abschiebungen, wenn die Inhaftierungspraxis anderer Dublin-Staaten nicht mit wesentlichen Freiheitsgarantien des europäischen Rechts in Einklang stehen.
PRO ASYL fordert, dass Dublin-Abschiebungen nach Ungarn umgehend ausgesetzt werden. Das Bundesministerium des Innern muss das zuständige Bundesamt anweisen, in diesen Fällen vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen, so dass die Betroffenen in Deutschland ein Asylverfahren erhalten.
Beschl. v. 15.01.2015, Az. VG 23 L 899.14 des Verwaltungsgericht Berlin
PRO ASYL Stellungnahme an das VG Düsseldorf, 30.10.2014
PRO ASYL Stellungnahme an das VG München, 30.10.2014
Kein Schutz für niemanden: Ungarn verabschiedet sich vom Flüchtlingsrecht (07.07.15)