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Ungarn: Asylsuchenden in Ungarn drohen Inhaftierung, Obdachlosigkeit und rassistische Übergriffe. Zwar wurde die Inhaftierungspraxis 2013 vorübergehend gelockert, doch seit Juli 2013 werden viele Asylsuchende wieder in Haftanstalten gesperrt. Foto: bordermonitoring.eu / Marc Speer

Das Asylsystem in Ungarn leidet unter systemischen Mängeln. Dies hat das Verwaltungsgericht Berlin in einem richtungsweisenden Eilverfahren festgestellt. Es hat Abschiebungen nach Ungarn für unzulässig erklärt, da eine „ernstliche Befürchtung der systematisch willkürlichen und unverhältnismäßigen Inhaftierung von alleinstehenden und volljährigen Dublin-Rückkehrern“ bestehe. Dabei stützt sich das Gericht auf einen von PRO ASYL jüngst veröffentlichten Stellungnahme zur Situation in Ungarn.

Kol­la­bier­tes Auf­nah­me­sys­tem: Asyl­an­trags­stel­ler verzwanzigfacht

Ungarn ist in den letz­ten Jah­ren ein immer wich­ti­ge­res Erst­einreis­land für Flücht­lin­ge auf dem Weg nach Euro­pa gewor­den. In nur zwei Jah­ren hat sich die Anzahl der Asyl­an­trags­stel­ler in Ungarn ver­zwan­zig­facht. 2014 wur­den 42.777 Asyl­an­trä­ge gestellt. Zwei Jah­ren zuvor waren es gera­de ein­mal 2.157 Anträ­ge. Blei­ben möch­te in Ungarn jedoch kaum jemand. Das Auf­nah­me­sys­tem ist voll­stän­dig über­las­tet – über­füll­te Flücht­lings­la­ger und Obdach­lo­sig­keit sind die Folge.

Wer ein Asyl­an­trag stellt, dem droht zudem die Inhaf­tie­rung. Allei­ne zwi­schen dem 1.7.2013 und dem 31.8.2014 wur­den 3.626 Asyl­su­chend ein­ge­sperrt. Die Ten­denz ist stei­gend, denn seit Sep­tem­ber 2014 wer­den in Ungarn auch ver­stärkt asyl­su­chen­de Fami­li­en inhaf­tiert. In zahl­rei­chen Men­schen­rechts­be­rich­ten sowie zuletzt auch durch den Men­schen­rechts­be­auf­trag­ten des Euro­pa­rats, Nils Muiž­nieks, wird die Inhaf­tie­rungs­pra­xis scharf kri­ti­siert.

Schaf­fen es Flücht­lin­ge aus Ungarn wei­ter­zu­rei­sen und kom­men sie etwa nach Deutsch­land, droht die Abschie­bung im Rah­men eines soge­nann­ten Dub­lin-Ver­fah­rens. Von Janu­ar bis Novem­ber 2014 hat Deutsch­land Ungarn um die „Über­nah­me“ von 1941 Flücht­lin­gen gebe­ten – ihnen droht damit die Abschie­bung. Dies, obwohl ins­be­son­de­re Per­so­nen ‚die ein Dub­lin-Ver­fah­ren durch­lau­fen, die umge­hen­de Inhaf­tie­rung droht. Die Anzahl der Über­nah­me­ersu­chen geht aus zwei Bun­des­tags­druck­sa­chen (1, 2) her­vor.

Sys­te­mi­sche Män­gel: Eine rich­tungs­wei­sen­de Eil-Entscheidung

Das Ver­wal­tungs­ge­richt Ber­lin hat  nun in einer rich­tungs­wei­sen­de Eil-Ent­schei­dung die Abschie­bung eines Flücht­lings nach Ungarn gestoppt (Beschl. v. 15.01.2015, Az. VG 23 L 899.14). „Die Pra­xis die­ses Staa­tes, Asyl­be­wer­ber und hier ins­be­son­de­re die im Dub­lin-Ver­fah­ren über­stell­ten Per­so­nen nahe­zu aus­nahms­los in Asyl­haft zu neh­men, ver­sto­ße gegen das in Art. 6 der EU-Grund­rech­te­char­ta kodi­fi­zier­te Recht auf Frei­heit. Aktu­el­le Berich­te ins­be­son­de­re des UNHCR, von Pro Asyl und auch des Aus­wär­ti­gen Amtes beleg­ten, dass Ungarn Asyl­be­wer­ber ohne Anga­be von Grün­den zum Teil bis zu sechs Mona­te inhaf­tie­re, ohne dass dies tat­säch­lich not­wen­dig sei“, schreibt das Ver­wal­tungs­ge­richt Ber­lin in einer Pres­se­mit­tei­lung vom Mon­tag, den 19.01.2015. Bei sei­nen Aus­füh­run­gen über die als will­kür­lich und unver­hält­nis­mä­ßig ein­ge­stuf­te Haft­pra­xis stützt sich das Gericht immer wie­der auf die jüngs­te Stel­lung­nah­me von PRO ASYL. Eben­falls hat­te UNHCR die men­schen­recht­lich höchst umstrit­te­ne Inhaf­tie­rung von Dub­lin-Rück­keh­rern in einer Stel­lung­nah­me kritisiert.

Was folgt aus der Entscheidung?

Ob ande­re Gerich­te sich der Ent­schei­dung des Ver­wal­tungs­ge­richts Ber­lin anschlie­ßen, bleibt abzu­war­ten. Bis ent­we­der höchst­in­stanz­lich die Ent­schei­dung bestä­tigt wird oder die Bun­des­re­gie­rung einen Über­stel­lungs­stopp erlässt, muss in jedem Ein­zel­fall um einen Ver­bleib in Deutsch­land gerun­gen werden.

Die Fest­stel­lung sys­te­mi­scher Män­gel ist jedoch juris­tisch von gro­ßer Bedeu­tung: Nach­dem der Euro­päi­sche Gerichts­hof (EuGH)  im Jahr 2011 das Vor­lie­gen sol­cher Män­gel bezüg­lich Grie­chen­land fest­stell­te, wur­den sämt­li­che Über­stel­lun­gen aus Deutsch­land nach Grie­chen­land gestoppt. Das Neue an der Ent­schei­dung des Ver­wal­tungs­ge­richts Ber­lins ist, dass die sys­te­mi­schen Män­gel nicht auf­grund einer dro­hen­den Ver­let­zung von Art. 4 Grund­rech­te-Char­ta (Ver­bot der unmensch­li­chen und ernied­ri­gen­den Behand­lung) son­dern von Art. 6 Grund­rech­te-Char­ta (Recht auf Frei­heit) ange­nom­men wird. Zurecht ent­wi­ckelt das Gericht die Recht­spre­chung des EuGH wei­ter und bie­tet nun auch einen Schutz vor Dub­lin-Abschie­bun­gen, wenn die Inhaf­tie­rungs­pra­xis ande­rer Dub­lin-Staa­ten nicht mit wesent­li­chen Frei­heits­ga­ran­tien des euro­päi­schen Rechts in Ein­klang stehen.

PRO ASYL for­dert, dass Dub­lin-Abschie­bun­gen nach Ungarn umge­hend aus­ge­setzt wer­den. Das Bun­des­mi­nis­te­ri­um des Innern muss das zustän­di­ge Bun­des­amt anwei­sen, in die­sen Fäl­len vom Selbst­ein­tritts­recht Gebrauch zu machen, so dass die Betrof­fe­nen in Deutsch­land ein Asyl­ver­fah­ren erhalten.

Beschl. v. 15.01.2015, Az. VG 23 L 899.14 des Ver­wal­tungs­ge­richt Berlin

PRO ASYL Stel­lung­nah­me an das VG Düs­sel­dorf, 30.10.2014

PRO ASYL Stel­lung­nah­me an das VG Mün­chen, 30.10.2014

Kein Schutz für nie­man­den: Ungarn ver­ab­schie­det sich vom Flücht­lings­recht (07.07.15)