12.02.2014
Image
Das Foto wurde 2009 in Rom nahe des Bahnhofs Ostiense aufgenommen und zeigt obachlose Flüchtlinge, die in Zelten leben müssen. Bild: MEDU

Am 12. Februar 2014 hat der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) in Straßburg über die Frage verhandelt, ob die Abschiebung einer Flüchtlingsfamilie nach Italien gegen Menschenrechte verstößt.

Die acht­köp­fi­ge afgha­ni­sche Fami­lie Tarak­hel hat­te eine Beschwer­de gegen die Schweiz ein­ge­legt, nach­dem die dor­ti­gen Behör­den ihre Abschie­bung nach Ita­li­en beschlos­sen hat­ten. Auch in Deutsch­land kla­gen zahl­rei­che Asyl­su­chen­de und Flücht­lin­ge gegen ihre Über­stel­lung nach Ita­li­en, weil ihnen dort Obdach­lo­sig­keit und Ver­elen­dung dro­hen. Deut­sche Ver­wal­tungs­ge­rich­te haben bereits Hun­der­te der­ar­ti­ge Abschie­bun­gen gestoppt. Mit Span­nung wird nun die Ent­schei­dung aus Straß­burg erwartet.

Dass der EGMR den Fall in einer münd­li­chen Ver­hand­lung und noch dazu vor der gro­ßen Kam­mer ver­han­delt hat, kann als Zei­chen dafür gewer­tet wer­den, wie ernst die Rich­te­rin­nen und Rich­ter die Sache neh­men. Immer mehr Flücht­lin­ge weh­ren sich gegen ihre Abschie­bun­gen nach Ita­li­en. Nach der Dub­lin-Zustän­dig­keits­ver­ord­nung wird Ita­li­en für zustän­dig erklärt, wenn dies das Land der Ein­rei­se in die EU ist.  Das Leben in Ita­li­en ist jedoch für vie­le Flücht­lin­ge uner­träg­lich. Die Auf­nah­me­plät­ze rei­chen bei wei­tem nicht aus, vie­le lan­den in der Obdach­lo­sig­keit. Wegen der Ver­hält­nis­se in Ita­li­en rei­sen vie­le Flücht­lin­ge Rich­tung Nor­den wei­ter. Auch die Schweiz ist ein Zielland.

Der Fall der afgha­ni­schen Flücht­lings­fa­mi­lie Tarakhel

Der Beschwer­de liegt der Fall einer afgha­ni­schen Flücht­lings­fa­mi­lie Tarak­hel mit sechs, teil­wei­se noch sehr klei­nen Kin­dern zugrun­de. In Ita­li­en kamen sie nach einer äußerst beschwer­li­chen Rei­se in einem Boot übers Mit­tel­meer an. Sie waren völ­lig ent­kräf­tet und dehy­driert, weil auf dem Boot nicht genü­gend Trink­was­ser vor­han­den war. Die Schwei­zer Rechts­an­wäl­tin­nen schil­der­ten die deso­la­te Situa­ti­on, in der sich die Fami­lie nach der Ankunft in Ita­li­en befun­den hat. Die Situa­ti­on in Ita­li­en mach­te es ihnen jedoch unmög­lich, sich von den Stra­pa­zen der Flucht zu erho­len. Zunächst wur­de die Fami­lie pro­vi­so­risch in eine Schu­le ver­bracht. Eini­ge Zeit spä­ter wur­de ihnen eine Unter­kunft zuge­wie­sen, wo sie mit 50 ande­ren Men­schen auf engs­tem Raum zusam­men­ge­pfercht wur­den. Die Eltern waren ins­be­son­de­re in Sor­ge um ihre Kin­der. Sie konn­ten nicht schla­fen, die hygie­ni­sche Situa­ti­on war desas­trös, die Kin­der beka­men kaum Luft in dem über­füll­ten und von Ziga­ret­ten­rauch über­sät­tig­ten Raum. Die gesam­te Fami­lie muss­te auf nur zwei Matrat­zen schla­fen. Die Fami­lie hat­te auch Angst, vor Gewalt­tä­tig­kei­ten in der über­füll­ten Unter­kunft. Schließ­lich ent­schloss sich die Fami­lie zur Wei­ter­flucht nach Öster­reich und schließ­lich in die Schweiz.

Kri­ti­sche Nach­fra­gen zur Ach­tung des Kindeswohls

Die Anwäl­tin­nen der Flücht­lin­ge hoben die beson­de­ren Gefähr­dun­gen für die Rech­te der betrof­fe­nen Kin­der her­vor und führ­ten flan­kie­rend zur Euro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on auch die UN-Kin­der­rechts­kon­ven­ti­on an. Die Unter­brin­gungs­si­tua­ti­on in Ita­li­en wür­de das Wohl­erge­hen der Kin­der und das Recht auf eine gesun­de Ent­wick­lung gefähr­den. Eine Bes­se­rung sei nicht in Sicht, da das ita­lie­ni­sche Auf­nah­me­sys­tem heil­los über­for­dert sei. Die ita­lie­ni­sche Regie­rung habe es in kei­ner Wei­se ver­mocht, die Plät­ze der rea­len Zahl an ein­rei­sen­den Flücht­lin­gen anzu­pas­sen. Der Fami­lie dro­he in Ita­li­en, dass sie getrennt wer­de. Zahl­rei­che Fäl­le sei­en bekannt, in denen ent­we­der der Vater von der Fami­lie getrennt und in einer Män­ner­un­ter­kunft unter­ge­bracht wer­de. Oder aber die Kin­der wür­den in Kin­der­hei­me gebracht, weil eine kind­ge­rech­te Unter­brin­gung von Flücht­lings­fa­mi­li­en in Ita­li­en nicht gewähr­leis­tet sei.

Auf die Situa­ti­on der Kin­der bezo­gen sich auch meh­re­re Rück­fra­gen der Straß­bur­ger Rich­te­rin­nen und Rich­ter. So frag­te eine Rich­te­rin die schwei­zer Regie­rung, ob sie nicht gewusst habe, dass in Ita­li­en Flücht­lings­fa­mi­li­en getrennt wür­den. Eine über­zeu­gen­de Ant­wort, wie sie kon­kret die Absi­che­rung des Kin­des­wohls nach einer Abschie­bung nach Ita­li­en gewähr­leis­ten wür­den, konn­ten die Schwei­zer Ver­tre­ter jeden­falls nicht lie­fern. Dass die Ver­tre­te­rin der ita­lie­ni­schen Regie­rung beton­te, in Ita­li­en hät­ten Flücht­lings­fa­mi­li­en ganz gene­rell kei­ne unan­ge­mes­se­ne Behand­lung zu befürch­ten, ließ eben­falls offen, wie dies kon­kret aus­se­hen soll.

Eine Fra­ge der Rich­te­rin­nen und Rich­ter bezog sich dar­auf, dass es in Deutsch­land und Bel­gi­en zahl­rei­che offi­zi­el­le Aus­set­zun­gen von Abschie­bun­gen nach Ita­li­en gab. Die schwei­zer Regie­rung wur­de gefragt, ob sie sich hier­mit aus­ein­an­der­ge­setzt habe. Der Schwei­zer Regie­rungs­ver­tre­ter ver­such­te die Tat­sa­che, dass Hun­der­te von Gerich­ten Ita­li­en-Abschie­bun­gen gestoppt haben, zu rela­ti­vie­ren, indem er dar­auf ver­wies, es han­de­le sich um Unterinstanzen.

Aus­rei­chen­de Aus­ein­an­der­set­zung mit der Situa­ti­on in Italien?

Hin­ter der Fra­ge des Gerichts­hofs könn­te man aber auch Kri­tik an dem in der Schweiz durch­ge­führ­ten Schnell­ver­fah­ren in Ita­li­en-Fäl­len ver­mu­ten. Anders for­mu­liert: Wenn Hun­der­te Gerich­te Abschie­bun­gen nach Ita­li­en stop­pen, kann die Ach­tung der Men­schen­rech­te in Ita­li­en also kei­ne so ein­deu­ti­ge Fra­ge sein, dass man sie eben mal im Schnell­ver­fah­ren abhan­deln kann. Dies hat­te die Schweiz jedoch getan. Dass kei­ne tief­ge­hen­de Aus­ein­an­der­set­zung über die Situa­ti­on gera­de für Flücht­lings­kin­der in Ita­li­en und der kon­kre­ten Per­spek­ti­ve der betrof­fe­nen Fami­lie statt­ge­fun­den hat, war des­we­gen auch ein Haupt­vor­wurf der Anwäl­tin­nen der afgha­ni­schen Familie.

Im Zen­trum der Aus­füh­run­gen der Schwei­zer Regie­rung stand dage­gen immer wie­der die Grund­an­nah­me des Dub­lin-Sys­tems: näm­lich dass in allen dar­an teil­neh­men­den Staa­ten die Men­schen­rech­te glei­cher­ma­ßen beach­tet würden.

Wo die Ver­mu­tung der Ach­tung der Men­schen­rech­te gilt, müs­sen Staa­ten also nicht mehr im Kon­kre­ten prü­fen, ob dies auch tat­säch­lich stimmt?

Dub­lin-Sys­tem auf dem Prüfstand

Dass eine blo­ße Fik­ti­on der Gel­tung der Men­schen­rech­te nicht aus­reicht, das hat­te der Straß­bur­ger Gerichts­hof bereits in den Grie­chen­land-Fäl­len in sei­ner M.S.S.-Entscheidung fest­ge­stellt. Im Jahr 2011 wur­de die Abschie­bung von Asyl­su­chen­den nach Grie­chen­land als Ver­let­zung von Arti­kel 3 der Euro­päi­schen Men­schen­rech­te­kon­ven­ti­on (EMRK) – also eine unmensch­li­che und ernied­ri­gen­de Behand­lung – ein­ge­stuft. Seit­dem wer­den euro­pa­weit kei­ne Abschie­bun­gen mehr nach Grie­chen­land vorgenommen.

Es bleibt abzu­war­ten, wie der EGMR im Fall der afgha­ni­schen Fami­lie Tarak­hel ent­schei­den wird. In ande­ren Ver­fah­ren zu Ita­li­en-Abschie­bun­gen hat­ten ein­zel­ne Sek­tio­nen des EGMR die Beschwer­de der Asyl­su­chen­den zurück­ge­wie­sen. Da ande­re Sek­tio­nen die Situa­ti­on in Ita­li­en offen­bar anders beur­teil­ten, wur­de die Fra­ge der gro­ßen Kam­mer über­tra­gen. Zu klä­ren ist nun, ob eine Abschie­bung nach Ita­li­en mit Arti­kel 3 EMRK ver­ein­bar ist, wenn es sich um einen Fall wie dem der Fami­lie Tarak­hel han­delt. Geprüft wird dabei auch, ob eine Ver­let­zung des Schut­zes des Pri­vat- und Fami­li­en­le­bens nach Arti­kel 8 EMRK vor­lie­gen könn­te sowie der Zugang zu einer effek­ti­ven Rechts­be­schwer­de (Arti­kel 13 EMRK). Bei der Fami­lie Tarak­hel han­delt es sich um Asyl­su­chen­de, die in Ita­li­en noch kein Asyl­ver­fah­ren und kei­nen Schutz­sta­tus erhal­ten hat­ten. Die Fra­ge, wie mit Abschie­bun­gen von bereits als schutz­be­rech­tigt Aner­kann­ten umzu­ge­hen ist – die teil­wei­se noch stär­ker von Obdach­lo­sig­keit in Ita­li­en betrof­fen sind als Asyl­su­chen­de – war nicht Gegen­stand der EGMR-Ver­hand­lung. Hier steht eine Klä­rung noch aus. Mit dem Urteil in dem Ver­fah­ren Tarak­hel v. Schweiz (Antrags­num­mer 29217/12) ist in den kom­men­den Mona­ten zu rechnen.

PRO ASYL-Bericht zur Situa­ti­on in Ita­li­en (Bethke/Bender)

Bericht der Schwei­ze­ri­schen Flücht­lings­hil­fe zu Italien

Memo­ran­dum Flücht­lings­auf­nah­me in der Euro­päi­schen Uni­on – für ein gerech­tes und soli­da­ri­sches Sys­tem der Verantwortlichkeit

 Euro­päi­scher Men­schen­rechts­ge­richts­hof ver­ur­teilt Ita­li­en und Grie­chen­land (22.10.14)

 Ver­fas­sungs­rich­ter zu Ita­li­en-Abschie­bun­gen: Unter­brin­gung für Fami­li­en pro­ble­ma­tisch­tisch (25.09.14)

 EuGH-Urteil: Asyl­su­chen­de haben Recht auf men­schen­wür­di­ge Unter­brin­gung (27.02.14)

 Rich­ti­ge For­de­run­gen – fal­sche Moti­ve (22.10.13)