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Sind Abschiebungen nach Italien menschenrechtswidrig?
Am 12. Februar 2014 hat der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) in Straßburg über die Frage verhandelt, ob die Abschiebung einer Flüchtlingsfamilie nach Italien gegen Menschenrechte verstößt.
Die achtköpfige afghanische Familie Tarakhel hatte eine Beschwerde gegen die Schweiz eingelegt, nachdem die dortigen Behörden ihre Abschiebung nach Italien beschlossen hatten. Auch in Deutschland klagen zahlreiche Asylsuchende und Flüchtlinge gegen ihre Überstellung nach Italien, weil ihnen dort Obdachlosigkeit und Verelendung drohen. Deutsche Verwaltungsgerichte haben bereits Hunderte derartige Abschiebungen gestoppt. Mit Spannung wird nun die Entscheidung aus Straßburg erwartet.
Dass der EGMR den Fall in einer mündlichen Verhandlung und noch dazu vor der großen Kammer verhandelt hat, kann als Zeichen dafür gewertet werden, wie ernst die Richterinnen und Richter die Sache nehmen. Immer mehr Flüchtlinge wehren sich gegen ihre Abschiebungen nach Italien. Nach der Dublin-Zuständigkeitsverordnung wird Italien für zuständig erklärt, wenn dies das Land der Einreise in die EU ist. Das Leben in Italien ist jedoch für viele Flüchtlinge unerträglich. Die Aufnahmeplätze reichen bei weitem nicht aus, viele landen in der Obdachlosigkeit. Wegen der Verhältnisse in Italien reisen viele Flüchtlinge Richtung Norden weiter. Auch die Schweiz ist ein Zielland.
Der Fall der afghanischen Flüchtlingsfamilie Tarakhel
Der Beschwerde liegt der Fall einer afghanischen Flüchtlingsfamilie Tarakhel mit sechs, teilweise noch sehr kleinen Kindern zugrunde. In Italien kamen sie nach einer äußerst beschwerlichen Reise in einem Boot übers Mittelmeer an. Sie waren völlig entkräftet und dehydriert, weil auf dem Boot nicht genügend Trinkwasser vorhanden war. Die Schweizer Rechtsanwältinnen schilderten die desolate Situation, in der sich die Familie nach der Ankunft in Italien befunden hat. Die Situation in Italien machte es ihnen jedoch unmöglich, sich von den Strapazen der Flucht zu erholen. Zunächst wurde die Familie provisorisch in eine Schule verbracht. Einige Zeit später wurde ihnen eine Unterkunft zugewiesen, wo sie mit 50 anderen Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht wurden. Die Eltern waren insbesondere in Sorge um ihre Kinder. Sie konnten nicht schlafen, die hygienische Situation war desaströs, die Kinder bekamen kaum Luft in dem überfüllten und von Zigarettenrauch übersättigten Raum. Die gesamte Familie musste auf nur zwei Matratzen schlafen. Die Familie hatte auch Angst, vor Gewalttätigkeiten in der überfüllten Unterkunft. Schließlich entschloss sich die Familie zur Weiterflucht nach Österreich und schließlich in die Schweiz.
Kritische Nachfragen zur Achtung des Kindeswohls
Die Anwältinnen der Flüchtlinge hoben die besonderen Gefährdungen für die Rechte der betroffenen Kinder hervor und führten flankierend zur Europäischen Menschenrechtskonvention auch die UN-Kinderrechtskonvention an. Die Unterbringungssituation in Italien würde das Wohlergehen der Kinder und das Recht auf eine gesunde Entwicklung gefährden. Eine Besserung sei nicht in Sicht, da das italienische Aufnahmesystem heillos überfordert sei. Die italienische Regierung habe es in keiner Weise vermocht, die Plätze der realen Zahl an einreisenden Flüchtlingen anzupassen. Der Familie drohe in Italien, dass sie getrennt werde. Zahlreiche Fälle seien bekannt, in denen entweder der Vater von der Familie getrennt und in einer Männerunterkunft untergebracht werde. Oder aber die Kinder würden in Kinderheime gebracht, weil eine kindgerechte Unterbringung von Flüchtlingsfamilien in Italien nicht gewährleistet sei.
Auf die Situation der Kinder bezogen sich auch mehrere Rückfragen der Straßburger Richterinnen und Richter. So fragte eine Richterin die schweizer Regierung, ob sie nicht gewusst habe, dass in Italien Flüchtlingsfamilien getrennt würden. Eine überzeugende Antwort, wie sie konkret die Absicherung des Kindeswohls nach einer Abschiebung nach Italien gewährleisten würden, konnten die Schweizer Vertreter jedenfalls nicht liefern. Dass die Vertreterin der italienischen Regierung betonte, in Italien hätten Flüchtlingsfamilien ganz generell keine unangemessene Behandlung zu befürchten, ließ ebenfalls offen, wie dies konkret aussehen soll.
Eine Frage der Richterinnen und Richter bezog sich darauf, dass es in Deutschland und Belgien zahlreiche offizielle Aussetzungen von Abschiebungen nach Italien gab. Die schweizer Regierung wurde gefragt, ob sie sich hiermit auseinandergesetzt habe. Der Schweizer Regierungsvertreter versuchte die Tatsache, dass Hunderte von Gerichten Italien-Abschiebungen gestoppt haben, zu relativieren, indem er darauf verwies, es handele sich um Unterinstanzen.
Ausreichende Auseinandersetzung mit der Situation in Italien?
Hinter der Frage des Gerichtshofs könnte man aber auch Kritik an dem in der Schweiz durchgeführten Schnellverfahren in Italien-Fällen vermuten. Anders formuliert: Wenn Hunderte Gerichte Abschiebungen nach Italien stoppen, kann die Achtung der Menschenrechte in Italien also keine so eindeutige Frage sein, dass man sie eben mal im Schnellverfahren abhandeln kann. Dies hatte die Schweiz jedoch getan. Dass keine tiefgehende Auseinandersetzung über die Situation gerade für Flüchtlingskinder in Italien und der konkreten Perspektive der betroffenen Familie stattgefunden hat, war deswegen auch ein Hauptvorwurf der Anwältinnen der afghanischen Familie.
Im Zentrum der Ausführungen der Schweizer Regierung stand dagegen immer wieder die Grundannahme des Dublin-Systems: nämlich dass in allen daran teilnehmenden Staaten die Menschenrechte gleichermaßen beachtet würden.
Wo die Vermutung der Achtung der Menschenrechte gilt, müssen Staaten also nicht mehr im Konkreten prüfen, ob dies auch tatsächlich stimmt?
Dublin-System auf dem Prüfstand
Dass eine bloße Fiktion der Geltung der Menschenrechte nicht ausreicht, das hatte der Straßburger Gerichtshof bereits in den Griechenland-Fällen in seiner M.S.S.-Entscheidung festgestellt. Im Jahr 2011 wurde die Abschiebung von Asylsuchenden nach Griechenland als Verletzung von Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtekonvention (EMRK) – also eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung – eingestuft. Seitdem werden europaweit keine Abschiebungen mehr nach Griechenland vorgenommen.
Es bleibt abzuwarten, wie der EGMR im Fall der afghanischen Familie Tarakhel entscheiden wird. In anderen Verfahren zu Italien-Abschiebungen hatten einzelne Sektionen des EGMR die Beschwerde der Asylsuchenden zurückgewiesen. Da andere Sektionen die Situation in Italien offenbar anders beurteilten, wurde die Frage der großen Kammer übertragen. Zu klären ist nun, ob eine Abschiebung nach Italien mit Artikel 3 EMRK vereinbar ist, wenn es sich um einen Fall wie dem der Familie Tarakhel handelt. Geprüft wird dabei auch, ob eine Verletzung des Schutzes des Privat- und Familienlebens nach Artikel 8 EMRK vorliegen könnte sowie der Zugang zu einer effektiven Rechtsbeschwerde (Artikel 13 EMRK). Bei der Familie Tarakhel handelt es sich um Asylsuchende, die in Italien noch kein Asylverfahren und keinen Schutzstatus erhalten hatten. Die Frage, wie mit Abschiebungen von bereits als schutzberechtigt Anerkannten umzugehen ist – die teilweise noch stärker von Obdachlosigkeit in Italien betroffen sind als Asylsuchende – war nicht Gegenstand der EGMR-Verhandlung. Hier steht eine Klärung noch aus. Mit dem Urteil in dem Verfahren Tarakhel v. Schweiz (Antragsnummer 29217/12) ist in den kommenden Monaten zu rechnen.
PRO ASYL-Bericht zur Situation in Italien (Bethke/Bender)
Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe zu Italien
Europäischer Menschenrechtsgerichtshof verurteilt Italien und Griechenland (22.10.14)
EuGH-Urteil: Asylsuchende haben Recht auf menschenwürdige Unterbringung (27.02.14)
Richtige Forderungen – falsche Motive (22.10.13)