News
»Serbiens Grenzen sind Schauplatz von illegalen Pushbacks und Polizeigewalt«
Serbien ist das letzte Land auf der Balkanroute, das nicht zur EU gehört – aber an gleich vier EU-Staaten grenzt. Die versuchte Abschottung der europäischen Außengrenzen wird dort also besonders deutlich. Milica Svabic von unserer Partnerorganisation klikAktiv berichtet zur Situation vor Ort.
Milica, zunächst einmal: Wer bist du, wer ist klikAktiv und was macht ihr?
Mein Name ist Milica Svabic. Ich bin Anwältin bei der serbischen Organisation klikAktiv, die kostenlose Rechtshilfe und psychosoziale Unterstützung für Menschen auf der Flucht in Serbien anbietet.
klikAktiv wurde 2014 als eine Organisation für psychologische und medizinische Hilfe für Obdachlose gegründet. Ein Jahr später, mit der sogenannten Flüchtlingskrise auf dem Balkan, haben wir unsere Aktivitäten dann ausgeweitet. Derzeit haben wir sechs Teammitglieder: Anwält*innen, Sozialarbeiter*innen, Dolmetscher*innen. Dabei haben wir keinen einzelnen großen Geldgeber, was ich gut finde, denn so bleiben wir unabhängig. Wir finanzieren uns über die Unterstützung verschiedener Stiftungen und Organisationen, auch aus der EU – so wie PRO ASYL. Mit euch arbeiten wir ja seit 2021 zusammen.
Wie ist die Lage an den serbischen Grenzen im Moment?
Serbien ist das letzte Nicht-EU-Land auf der sogenannten Balkanroute. Die meisten Menschen kommen nach wie vor über die südliche Grenze, aus Bulgarien, nach Serbien. In den letzten Monaten hat jedoch die Route über Nordmazedonien zunehmend an Bedeutung gewonnen. Im vergangenen Jahr mussten wir außerdem einen alarmierenden Anstieg der Zahl der Pushbacks von serbischem Gebiet aus feststellen. Dieser Anstieg fällt auch mit der Präsenz von Frontex an der Grenze zusammen.
Weiterhin sind die nördlichen Grenzen von Serbien Schauplatz von unrechtmäßigen Zurückweisungen und Polizeigewalt. Das ist bereits seit vielen Jahren so. Betroffen sind alle vier Grenzen: Die Grenze zwischen Bosnien & Herzegowina und Serbien und die drei EU-Außengrenzen zu Kroatien, Ungarn und Rumänien.
Du hast erwähnt, dass die Präsenz von Frontex mit der zunehmenden Gewalt an den Grenzen zusammenfällt. Was meinst du damit konkret?
Obwohl Serbien kein Mitglied der EU ist, ist Frontex bei uns vor Ort. 2019 gab es dazu ein Abkommen und 2021 kamen die ersten Frontex-Beamt*innen nach Serbien. Zu Beginn waren sie nur an der Grenze zwischen Serbien und Bulgarien präsent, im Laufe der Zeit aber auch in Richtung Nordmazedonien und an den Nordgrenzen. Bis Ende Oktober letzten Jahres versuchten die meisten Menschen, Serbien über Ungarn zu verlassen. Dann kam es zu einer massiven Verlagerung der Route, und jetzt versuchen es die meisten Menschen über Kroatien und Bosnien & Herzegowina.
Seit Frontex da ist, dokumentieren wir definitiv mehr Pushbacks im Süden und zusätzlich mehr Polizeigewalt an den Nordgrenzen. Es ist aber sehr schwierig, die direkte Beteiligung von Frontex an diesen unrechtmäßigen Operationen nachzuweisen. Vor Ort sehen wir, dass die Frontex-Beamt*innen nicht ordnungsgemäß gekennzeichnet sind und oft können Geflüchtete nicht genau spezifizieren, ob es sich um Frontex-Beamt*innen oder andere ausländische Polizeibeamt*innen handelt, die auf der Grundlage von bilateralen Abkommen auf serbischem Gebiet stationiert sind.
Vor allem im Norden, in Richtung EU, gibt es viele Lager. Wie ist die Situation dort aktuell?
Derzeit sind alle Lager im Norden Serbiens geschlossen. Nach einer Schießerei zwischen rivalisierenden kriminellen Schleppergruppen im Oktober 2023 mit drei Toten gab es einen großangelegten Polizeieinsatz. Bis Dezember wurden die Lager dann geräumt – sowohl die drei offiziellen, staatlich betriebenen Lager, als auch die über 35 informellen Lager.
Was mit den offiziellen Lagern geplant wird, ist unklar. Sie scheinen die Kapazitäten dort jetzt zu erweitern. Wir haben mehrere Gerüchte dazu gehört: Eines davon besagt, dass dort Menschen untergebracht werden sollen, die auf der Grundlage von Rückübernahmeabkommen aus den benachbarten EU-Mitgliedstaaten zurückgeführt werden. Ein anderes, dass sie in Zukunft als vorgelagertes EU-Transitlager oder als serbische Abschiebehaftanstalten genutzt werden könnten.
Was ist mit den Menschen aus den Lagern passiert?
Die Menschen wurden in die Lager im Süden gebracht. Leider wurden auch viele in Haftanstalten festgehalten, ihnen wurde »illegaler Aufenthalt« vorgeworfen, und es ist sehr wahrscheinlich, dass viele Menschen auch nach Bulgarien und Nordmazedonien zurückgeschoben wurden. Insgesamt beklagen wir, dass sich die Maßnahmen der Polizei nicht in erster Linie gegen die kriminellen Banden richteten, sondern viel mehr Geflüchtete belangt wurden, die selbst Leidtragende der gewaltvollen Auseinandersetzungen sind.
Du hast die Lager im Süden erwähnt – wie ist die Lage dort?
Nach der Polizeiaktion im Norden waren alle Lager überfüllt – und einige Tage lang durften die Menschen die Lager nicht verlassen. Wir wissen, dass die serbische Polizei zusammen mit Europol in allen Lagern präsent war und die persönlichen Daten der Menschen aufgenommen hat. Es ist aber unklar, zu welchem Zweck. Nach ein paar Tagen wurden die Lager geöffnet und die Menschen konnten sich frei bewegen. Die meisten gingen in Richtung Bosnien & Herzegowina – wie wir von den Menschen hörten, ermutigte die serbische Polizei sich auch genau dazu. Infolgedessen hat sich die Situation in den Lagern entspannt und sie sind nicht mehr überfüllt.
Auf der einen Seite spielt die serbische Polizei also einen guten Partner für die EU, indem sie vorgibt, dass sie die Menschen auf serbischem Gebiet halten wird. Auf der anderen Seite verfolgt die serbische Regierung aber eine rechte Politik, wie sie auch in vielen anderen EU-Staaten vorherrscht und will nicht, dass die Menschen bleiben.
»Die serbische Regierung verfolgt eine rechte Politik, wie sie auch in vielen anderen EU-Staaten vorherrscht und will nicht, dass die Menschen bleiben.«
Welche Probleme gibt es mit den offiziellen Lagern?
In Serbien gibt es 19 staatlich betriebene Lager. Laut Gesetz können Menschen nur in den Lagern untergebracht werden, wenn sie Asylbewerber*innen sind und die Polizei weist die Antragstellenden den Lagern zu. In der Praxis hat Serbien jedoch das Narrativ entwickelt, ein Transitland zu sein, die Lager werden nur als vorübergehende Unterkunft betrachtet. Das lässt schutzsuchende Menschen letztlich ohne offiziellen Status und Unterstützung in Serbien zurück.
Denn in der Praxis begeben sich die Menschen auf der Flucht direkt in ein Lager. Hier werden sie von der Lagerleitung auch registriert. Sie nehmen die Fingerabdrücke, Fotos und persönlichen Daten der Menschen auf und anschließend wird eine sogenannte »Lagerkarte« ausgestellt. Dieses Dokument lässt die Menschen glauben, dass sie einen Asylantrag gestellt haben und dass ihr Aufenthalt in Serbien geregelt ist – aber es ist überhaupt kein offizielles Dokument und die Daten werden auch nicht an das Amt, das eigentlich für Asylanträge zuständig ist, weitergegeben.
Sehr oft werden die Menschen dann nach einigen Tagen aus den Lagern geworfen und ohne Zugang zu Hilfe zurückgelassen. Gleichzeitig sind sowohl in den informellen als auch in den offiziellen Lagern kriminelle Banden präsent, die Schleuserrouten in die EU anbieten und oft gewalttätig sind.
Für mich ist dieser fehlende Zugang zur offiziellen Registrierung eines der größten strukturellen Probleme im Zusammenhang mit dem serbischen Unterbringungssystem. Aber es gibt auch viele Berichte über gewaltvolle Auseinandersetzungen und Übergriffe in den Lagern, sowohl seitens der offiziellen Mitarbeiter*innen als auch durch kriminelle Banden.
Diese Banden sind auch in den offiziellen Lagern unterwegs?
Ja. Es ist ganz klar, dass einige der Menschen, die schon länger in Serbien sind, eine privilegierte Stellung in den Lagern haben. Und es ist ziemlich offensichtlich, dass der Staat und das Kommissariat für Flüchtlinge und Migration, das die offiziellen Lager betreibt, diese kriminellen Gruppen unterstützen. Denn diese Gruppen »helfen« den Menschen ja, Serbien zu verlassen. Unter der Hand wird oft gesagt, dass die einzige Möglichkeit dazu die Hilfe von Schmugglern und kriminellen Gruppen ist. Darüber hinaus haben wir in den letzten Jahren natürlich auch viele Fälle von Korruption und Bestechung in den offiziellen Lagern erlebt.
»Die Polizei tut also alles, um Menschen den Zugang zum Asylverfahren zu verwehren.«
Serbien versucht also, den Zugang zu Asyl zu erschweren. Aber ist es denn theoretisch möglich, Asyl in Serbien zu erhalten?
Theoretisch ist es möglich, in Serbien Asyl zu bekommen, aber in der Praxis ist es ziemlich schwierig. Seit 2008 hat Serbien ein nationales Asylsystem, und von 2008 bis heute erhielten weniger als 250 Menschen Asyl. Das Asylverfahren ist sehr bürokratisch und es ist ziemlich schwierig, Zugang dazu zu erhalten: Ein Asylantrag muss bei einer Polizeistation gestellt werden. In den meisten Städten weigert sich die Polizei jedoch, Menschen als Asylbewerber zu registrieren. Stattdessen stellt die Polizei regelmäßig Ausweisungsverfügungen aus, die einen späteren Asylantrag verhindern. Die Polizei tut also alles, um Menschen den Zugang zum Asylverfahren zu verwehren.
Da war zum Beispiel diese Frau aus der Mongolei. Eine alleinerziehende Mutter von fünf Kindern. Sie saß in einem der inoffiziellen Camps fest, wo sie von kriminellen Gruppen massiv unter Druck gesetzt wurde. Sie sollte Geld für die Weiterreise bezahlen – aber sie beschloss, in Serbien Asyl zu beantragen. Wir unterstützten sie und begleiteten sie zu zwei Polizeistationen im serbischen Norden. Wir informierten die Polizei per E‑Mail über ihre Ankunft, ihre besondere Gefährdungslage und ihren Asylwunsch. Sie wurde jedoch von beiden Polizeistationen hinausgeworfen und man weigerte sich, sie zu registrieren. Schließlich ging sie in ein offizielles Lager, wurde aber auch dort nicht ordnungsgemäß registriert. Sie blieb dort zwei Wochen lang und verschwand dann. Wir können davon ausgehen, dass sie zu den kriminellen Gruppen zurückgekehrt ist.
Nur sehr, sehr wenige Menschen schaffen es tatsächlich, einen Asylantrag zu stellen, meist mithilfe lokaler Hilfsorganisationen. Und dann ist das Verfahren sehr langwierig. Im Durchschnitt dauert es etwa ein Jahr, bis man eine Entscheidung erhält. Sehr oft fällt die erste Entscheidung negativ aus, so dass man dann in Berufung gehen muss. Manche Menschen warten seit mehr als zehn Jahren auf einen positiven Bescheid. All das ist ziemlich entmutigend – und das ist auch einer der Gründe, warum viele Menschen Serbien nicht als Zielland sehen und in andere Staaten weiterreisen.
Du hast die »Ausweisungsverfügung« erwähnt. Was ist das?
Eine »Ausweisungsverfügung« ist eine behördliche Anordnung des Innenministeriums, die besagt, dass die Person sich nicht legal in Serbien aufhält. Es wird eine Frist eingeräumt, Serbien auf freiwilliger Basis zu verlassen – ansonsten kann es zu einer zwangsweisen Rückführung ins Herkunftsland kommen.
Und mit einer solchen »Ausweisungsverfügung« kann man kein Asyl mehr beantragen?
Ja, genau. Wer eine »Ausweisungsverfügung« erhalten hat, ist von der Asylantragstellung ausgeschlossen. Das Innenministerium behauptet, dass Asyl dann ja nur beantragt würde, um die Abschiebung zu verhindern.
Du hattest außerdem sogenannte Rückübernahme abkommen erwähnt. Was verbirgt sich dahinter? Nimmt Serbien auf dieser Basis Geflüchtete aus EU-Staaten zurück?
Praktisch gesehen, ja. Offiziell sieht es aber ein wenig anders aus. Serbien hat ein Rückübernahmeabkommen mit der EU aus dem Jahr 2007 und Artikel 3 dieses Abkommens besagt, dass Serbien Drittstaatsangehörige aus dem Gebiet benachbarter Mitgliedstaaten aufnehmen kann, wenn die Person in den letzten Jahren direkt aus dem Gebiet Serbiens dort eingereist ist. Obwohl Flüchtlinge und Asylbewerber auf dem Papier davon nicht betroffen sein sollten, fallen auch sie dieser Praxis zum Opfer. Dies wird von den benachbarten Mitgliedstaaten recht häufig genutzt.
Wir haben Beweise und Zeugenaussagen von Menschen gesammelt, die aus Rumänien, Kroatien oder auch Ungarn zurückgeschickt wurden. In der Praxis reicht es aus, wenn eine Person sagt, dass sie aus Serbien in einen Mitgliedstaat eingereist ist. Und in Serbien haben sie dann keinen Zugang mehr zum Asylrecht.
Dies ist auch eines der wichtigsten Themen bei den Verhandlungen über den EU-Beitritt Serbiens. Die EU möchte, dass Serbien mehr Menschen zurücknimmt. Wir sehen, dass dies in der Praxis auch geschieht. Für die Menschen ist das dann eine Sackgasse: Auf der einen Seite werden sie nach Serbien zurückgeschickt, aber auf der anderen Seite dürfen sie auch dort kein Asyl beantragen, bekommen keine Unterstützung und keinen Schutz – und werden deshalb versuchen, erneut in die Europäische Union zu gelangen.
In der serbischen Gesellschaft gibt es viele Menschen, die eine eigene Flüchtlingsgeschichte haben. Wie ist ihre Meinung zu Flüchtlingen und ihrer Situation in Serbien? Gibt es eine aktive Zivilgesellschaft, die Geflüchtete unterstützt?
Die Menschen ohne eigene Flüchtlingsgeschichte haben gegenüber den Flüchtlingen heute das gleiche Narrativ wie in den 1990er Jahren gegenüber den Flüchtlingen aus Bosnien und Kroatien: »Die Flüchtlinge kommen, um uns unser Land, unsere Häuser und unsere Arbeitsplätze wegzunehmen«. Selbst damals gab es diese negative Einstellung – und da ging es um Menschen, die dieselbe Sprache sprachen, die gleiche Religion hatten, im gleichen Bildungssystem aufgewachsen sind.
Auch in Gesprächen mit Menschen, die damals selbst fliehen mussten und jetzt in Serbien leben, wird deutlich, dass viele heute leider ihrerseits dieses negative Bild auf Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und anderen Ländern reproduzieren.
Es gibt aber auch ein Netz von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die Menschen auf der Flucht und Asylbewerber*innen unterstützen. Leider haben die meisten dieser Organisationen nur einen größeren Geldgeber, in der Regel das UNHCR oder die IOM, was bedeutet, dass sie der Politik dieser großen internationalen Geldgeber folgen müssen. Deshalb sind wir sehr froh, dass wir unabhängig sind.
Herzlichen Dank, Milica!
klikAktiv ist eine serbische NGO mit Sitz in Belgrad. Das Team bietet kostenlose und unabhängige Rechtsberatung und psychosoziale Unterstützung für Schutzsuchende in Serbien an. Das Team fährt regelmäßig an die serbischen EU-Grenzen und dokumentiert dort die menschenrechtliche Situation von Schutzsuchenden. Seit 2021 wird die Organisation durch die Stiftung PRO ASYL unterstützt.
(Interview: mk)