14.08.2025
Image
BAMF. Foto: picture alliance / Geisler-Fotopress

Vor vier Jahren ergriffen die Taliban die Macht in Afghanistan. Seitdem prägen schwere Menschenrechtsverletzungen und eine humanitäre Krise das Land. Doch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lehnt immer mehr Afghanen im Asylverfahren ab. Auch Arash* hat eine solche Ablehnung bekommen. PRO ASYL unterstützt seinen Fall.

Wenn man sich die Asyl­sta­tis­ti­ken des Bun­des­am­tes für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) anschaut, dann müss­te man mei­nen, die Lage in Afgha­ni­stan habe sich zuletzt stark ver­bes­sert. Denn nach der Macht­über­nah­me der Tali­ban am 15. August 2021 beka­men afgha­ni­sche Asyl­su­chen­de in deut­schen Asyl­ver­fah­ren zunächst zu fast 100 Pro­zent Schutz (2022 und 2023). Im Jahr 2024 waren es immer­hin noch 93 Pro­zent. In der ers­te Jah­res­hälf­te 2025 sank die Schutz­quo­te rapi­de ab, auf nur noch rund 60 Pro­zent – sie liegt damit sogar nied­ri­ger als 2021 und 2020, also noch vor der Macht­über­nah­me der radi­ka­len Islamisten.

Wenn man sich die monat­li­chen Ent­wick­lun­gen der Schutz­quo­te in den letz­ten zwölf Mona­ten anschaut, dann wird deut­lich, dass die Aner­ken­nungs­quo­te in die­sem Jahr gera­de­zu ein­ge­bro­chen ist: Von 95 Pro­zent im Juni 2024 über noch 80 Pro­zent im Janu­ar 2025 auf rund 50 Pro­zent im Juni 2025.

Entscheidungspraxis des BAMF ignoriert Realität in Afghanistan

Mit der Rea­li­tät in Afgha­ni­stan hat die sin­ken­de Schutz­quo­te aber nichts zu tun: Die Tali­ban herr­schen wei­ter mit eiser­ner Hand. So ver­öf­fent­lich­te die UN-Unter­stüt­zungs­mis­si­on für Afgha­ni­stan (UNAMA) im April 2025 einen Bericht der zeigt, dass die Unter­drü­ckung der Gesell­schaft durch die Tali­ban inten­si­ver wird. Der Bericht, der sich auf die sechs Mona­te seit Inkraft­tre­ten des »Geset­zes zur För­de­rung der Tugend und Ver­hin­de­rung des Las­ters« am 21. August 2024 bezieht, stellt fest, dass die de-fac­to-Behör­den Afgha­ni­stans ent­schlos­sen sind, ihre Vor­stel­lung eines rei­nen isla­mi­schen Sys­tems lan­des­weit durch­zu­set­zen. Hier­zu gehört, dass Frau­en sich stets voll­stän­dig in der Öffent­lich­keit ver­schlei­ern müs­sen und die weib­li­che Stim­me in der Öffent­lich­keit uner­wünscht ist. Män­ner müs­sen Bär­te und kei­ne »west­li­chen Haar­schnit­te« tra­gen und müs­sen die mus­li­mi­schen Gebe­te ein­hal­ten. Homo­se­xua­li­tät, Alko­hol und selbst Musik gel­ten als unis­la­misch und sind ver­bo­ten. Im Ver­gleich zu frü­he­ren Erlas­sen wer­den die Vor­schrif­ten nun sys­te­ma­ti­scher und kon­se­quen­ter vom Minis­te­ri­um für die För­de­rung von Tugend und Ver­hin­de­rung von Las­ter sowie von Beschwer­de­ko­mi­tees umge­setzt. Im Juli 2025 mach­te UNAMA bekannt, dass sie meh­re­re Fäl­le von Fol­ter, Miss­hand­lun­gen, will­kür­li­cher Inhaf­tie­rung und Bedro­hun­gen durch die Tali­ban von Per­so­nen doku­men­tiert haben, die aus Paki­stan oder Iran abge­scho­ben wurden.

Und auch die huma­ni­tä­re Lage in Afgha­ni­stan ist wei­ter­hin kata­stro­phal. Schät­zungs­wei­se 22,9 Mil­lio­nen Afghan*innen sind auf huma­ni­tä­re Hil­fe ange­wie­sen, was eine der schlimms­ten huma­ni­tä­ren Lagen welt­weit dar­stellt. Die Situa­ti­on spitzt sich aktu­ell wei­ter zu: Auf­grund der Strei­chun­gen von ame­ri­ka­ni­schen Hilfs­gel­dern gibt es deut­lich weni­ger huma­ni­tä­re Gel­der für Afgha­ni­stan. Gleich­zei­tig wer­den Hun­dert­tau­sen­de zuvor in Paki­stan und dem Iran leben­de Afghan*innen abge­scho­ben. Laut UNAMA sind in die­sem Jahr bereits 1,3 Mil­lio­nen Afghan*innen in das Land zurück­ge­kehrt, in dem 70 Pro­zent der Bevöl­ke­rung in Armut lebt. Wei­te­re Aus­füh­run­gen zur Lage in Afgha­ni­stan gibt es hier und hier.

Änderung der Entscheidungspraxis des BAMF

Trotz die­ser dra­ma­ti­schen Lage hat das BAMF in den ers­ten sechs Mona­ten 2025 8.985 Afgha­nen im Asyl­ver­fah­ren abge­lehnt. Afgha­ni­sche Frau­en erhal­ten mitt­ler­wei­le in der Regel Flücht­lings­schutz, doch bei immer mehr jun­gen afgha­ni­schen Män­nern nimmt das BAMF an, dass nicht ein­mal ein Abschie­bungs­ver­bot besteht. Dies zeigt sich ein­drück­lich in der Ant­wort der Bun­des­re­gie­rung auf eine klei­ne Anfra­ge der Frak­ti­on Die Lin­ke, laut der die Schutz­quo­te für afgha­ni­sche Män­ner im Juni 2025 sogar nur bei rund 34 Pro­zent lag. Im März 2025 wur­den die soge­nann­ten Her­kunfts­län­der­leit­sät­ze – letzt­lich Richt­li­ni­en für die Ent­schei­dun­gen im Asyl­ver­fah­ren zu einem bestimm­ten Land – zu Afgha­ni­stan dahin­ge­hend geän­dert, dass nicht mehr im Regel­fall von einem Abschie­bungs­ver­bot auf­grund der huma­ni­tä­ren Lage aus­ge­gan­gen wird.

PRO ASYL hat schon im letz­ten Jahr ana­ly­siert, dass die der Ent­schei­dung zugrun­de lie­gen­den Begrün­dun­gen nicht über­zeu­gen. Ins­be­son­de­re wird häu­fig auf fami­liä­re Netz­wer­ke und ver­meint­li­chen Mög­lich­kei­ten auf dem Arbeits­markt abge­stellt – bei­des wird meist nicht genau­er über­prüft, son­dern schlicht ange­nom­men. So auch im Fall von Arash.

Arashs Geschichte: Ein Leben geprägt von Flucht und Exil

Arashs* gesam­tes Leben ist geprägt durch Flucht und einem Leben im Exil. Er erzählt uns: »Ich war erst ein Jahr alt, als mei­ne Fami­lie gezwun­gen war, aus Afgha­ni­stan zu flie­hen. Wir gehö­ren zur eth­ni­schen Grup­pe der Haza­ra, und damals ging die Gewalt der Tali­ban beson­ders gegen Haza­ra. Wenn sie jeman­den aus unse­rer Gemein­schaft sahen, haben sie ihn oft ein­fach getö­tet. Des­halb haben mei­ne Eltern beschlos­sen, uns Kin­der zu ret­ten und nach Iran zu flie­hen.« Haza­ra sind eine eth­ni­sche und reli­giö­se Min­der­heit in Afgha­ni­stan, die durch die Tali­ban dis­kri­mi­niert und ver­folgt wer­den.

Im Iran lebt er mit sei­ner Fami­lie ohne Auf­ent­halts­recht und besucht ledig­lich etwa drei Jah­re eine inof­fi­zi­el­le Schu­le. »Doch irgend­wann hat die Poli­zei die Schu­le geschlos­sen, weil sie nicht legal war. Danach konn­te ich nicht mehr wei­ter­ler­nen. Also habe ich ange­fan­gen, mit mei­nem Vater arbei­ten zu gehen, um die Fami­lie zu unter­stüt­zen«, schil­dert Arash.

Auf­grund die­ser pre­kä­ren Situa­ti­on kommt es zur nächs­ten Flucht: »Mei­ne Eltern wuss­ten, dass ich im Iran kei­ne ech­te Zukunft habe. Des­halb haben sie ent­schie­den, mich nach Euro­pa zu schi­cken – in der Hoff­nung, dass ich dort ein bes­se­res Leben auf­bau­en kann. Der Weg nach Euro­pa war sehr gefähr­lich. Ich habe gese­hen, wie Men­schen im Meer ertrun­ken sind, und auch mein eige­nes Leben war oft in Gefahr.«

Arash schafft es allein und min­der­jäh­rig zunächst bis nach Grie­chen­land und lebt dort drei­ein­halb Jah­re.  Auf­grund der men­schen­un­wür­di­gen Umstän­de und Unsi­cher­hei­ten für Geflüch­te­te in Grie­chen­land ent­schei­det sich Arash, nach Deutsch­land wei­ter­zu­flie­hen und hier einen Asyl­an­trag zu stellen.

Ablehnung des Asylantrags trotz Unterdrückung der Hazara 

In der Anhö­rung beim BAMF wird Arash gefragt, war­um er nicht nach Afgha­ni­stan zurück­kann. »Ich habe Angst um mein Leben« lau­tet sei­ne kla­re Ant­wort laut dem Anhö­rungs­pro­to­koll des BAMF. Trotz­dem lehnt das BAMF ab. Es ist nicht von Arashs Schutz­be­dürf­tig­keit überzeugt.

Seit Jah­ren ver­neint das BAMF eine Grup­pen­ver­fol­gung der Haza­ra in Afgha­ni­stan. In Arashs Bescheid argu­men­tiert die Behör­de, dass »die […] Anschlä­ge und Über­grif­fe, von denen vie­le gezielt gegen Schii­ten bzw. Haza­ras gerich­tet waren, […] seit der Macht­über­nah­me durch die Tali­ban in ihrer Häu­fig­keit im Ver­hält­nis zur Gesamt­zahl der in Afgha­ni­stan leben­den Haza­ras noch nicht einen Grad [errei­chen], der die Annah­me einer Grup­pen­ver­fol­gung recht­fer­ti­gen wür­de«. Es feh­le an der soge­nann­ten Verfolgungsdichte.

Dramatische humanitäre Lage – doch Arash könne sich angeblich durchschlagen

Das BAMF führt aus­führ­lich in sei­nem Bescheid die schlech­te wirt­schaft­li­che Lage Afgha­ni­stans aus, berich­tet über die Was­ser­knapp­heit in dem Land und dass die Bevöl­ke­rung Mühe hat, Lebens­mit­tel zu erwer­ben. Über die Hälf­te der Bevöl­ke­rung sei auf huma­ni­tä­re Hil­fe ange­wie­sen. Hin­zu kom­men kli­ma­ti­sche Bedro­hun­gen, wie Dür­re, star­ke Nie­der­schlä­ge, die Über­schwem­mun­gen zur Fol­ge haben sowie extre­me Hit­ze- und Käl­te­wel­len. Das BAMF schluss­fol­gert zur Fra­ge, ob das Ver­bot von Fol­ter, unmensch­li­cher oder ernied­ri­gen­der Behand­lung und Bestra­fung in Arti­kel 3 der Euro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on (EMRK) berührt sei: »In Afgha­ni­stan besteht damit eine huma­ni­tä­re Situa­ti­on, die für eine beacht­li­che Zahl der dort leben­den Men­schen das nach Art. 3 EMRK erfor­der­li­che Min­dest­maß an Schwe­re erreicht«.

Aber nicht für Arash. In sei­nem Fall kommt das BAMF zum Schluss: »Die der­zei­ti­gen huma­ni­tä­ren Bedin­gun­gen in Afgha­ni­stan füh­ren nicht zu der Annah­me, dass bei Abschie­bung des Antrag­stel­lers eine Ver­let­zung des Arti­kel 3 EMRK vorliegt.«

Unkom­men­tiert bleibt, dass Arash bis auf sein ers­tes Lebens­jahr nie in Afgha­ni­stan gelebt hat. Die Arbeit, die er als Kind ver­rich­ten muss­te, wird ihm sogar posi­tiv aus­ge­legt und als Arbeits­er­fah­rung bewer­tet, von der er in Afgha­ni­stan pro­fi­tie­ren kann. Auch dass er kei­ne Fami­lie in Afgha­ni­stan hat und kom­plett auf sich allein gestellt wäre, bleibt unbe­ach­tet. Viel­mehr ver­weist das BAMF auf die Unter­stüt­zung der im Iran leben­den Groß­fa­mi­lie. Ob die­se die Unter­stüt­zung fak­tisch leis­ten kön­nen, bleibt ungeprüft.

Westliche Einstellungen und Denkweisen sind eine Gefahr in Afghanistan

Fast neun Jah­re lebt Arash schon in Euro­pa, fünf davon in Deutsch­land. »Deutsch­land war für mich ein Wen­de­punkt. Hier durf­te ich blei­ben, ler­nen, eine Woh­nung fin­den und spä­ter einen Job bekom­men, den ich wirk­lich gern mache. Ich habe das Gefühl, dass ich mei­nen Träu­men näher­ge­kom­men bin. Deutsch­land ist das Land, von dem ich immer geträumt habe«, berich­tet Arash.

Unge­prüft bleibt bei der Ent­schei­dung des BAMFs der Aspekt der »Ver­west­li­chung«. Ver­west­li­chung meint nicht aus­schließ­lich äußer­li­che Fak­to­ren, wie Klei­dung, son­dern besagt, dass sich die Per­sön­lich­keits­ent­wick­lung einer Per­son, die sich wäh­rend eines mehr­jäh­ri­gen Auf­ent­halts in Deutsch­land auf­grund der Prä­gung durch ande­re Wert­vor­stel­lun­gen und Welt­an­schau­un­gen anders gestal­tet, als wenn eine Per­son die­se Jah­re in ihrem Hei­mat­land ver­bracht hät­te (sie­he VG Olden­burg, Urteil vom 29.08.2022).

Arash gibt bereits bei sei­ner per­sön­li­chen Anhö­rung an, dass er Künst­ler wer­den möch­te. PRO ASYL berich­tet er, dass er ger­ne zeich­net, Skate­board fährt und Bas­ket­ball spielt.

Sein Berufs­wunsch, sei­ne Lebens­wei­se und Ein­stel­lung ste­hen nicht im Ein­klang mit der radi­kal-isla­mis­ti­schen, men­schen­rechts­ver­ach­ten­den Ideo­lo­gie des Tali­ban-Regimes in Afgha­ni­stan. Für Arash ist es undenk­bar, sei­ne Lebens­wei­se in Afgha­ni­stan wei­ter­zu­füh­ren, das wäre gefähr­lich. Das VG Olden­burg stellt 2022 in sei­nem Urteil zu einem afgha­ni­schen, ver­west­lich­ten Klä­ger fest, »dass die (…) frei­heit­li­che, libe­ra­le, west­li­che Denk­wei­se des Klä­gers der­art tief in sei­ner Per­sön­lich­keit ver­wur­zelt ist, dass er sie bei einer Rück­kehr nach Afgha­ni­stan nicht able­gen könn­te, ohne dass damit eine Ver­let­zung des Kerns sei­ner Per­sön­lich­keit, des Kerns sei­ner Iden­ti­tät und damit eine Ver­let­zung sei­ner Men­schen­wür­de ein­her­gin­ge.« Die Über­prü­fung, ob so eine Situa­ti­on auch bei Arash vor­liegt, unter­lässt das BAMF in sei­nem Bescheid.

Afghanistan ist nicht sicher – Entscheidungspraxis muss geändert werden!

Arash ist offen­sicht­lich Leid­tra­gen­der der geän­der­ten Ent­schei­dungs­pra­xis des BAMFs und sein Fall Sinn­bild der gesun­ke­nen Aner­ken­nungs­quo­te, die PRO ASYL seit dem Som­mer 2024 beob­ach­tet. Denn fak­tisch geän­dert hat sich in Afgha­ni­stan im letz­ten Jahr nichts. Nur der poli­ti­sche Dis­kurs in Deutsch­land ist ein ande­rer. PRO ASYL for­dert, dass alle Afghan*innen im Asyl­ver­fah­ren Schutz bekom­men müs­sen. Des­we­gen unter­stützt PRO ASYL Arash mit Mit­teln aus dem Rechts­hil­fe­fonds, um gegen den ableh­nen­den BAMF-Bescheid vor­zu­ge­hen und hofft auf ein posi­ti­ves Ende sei­ner jah­re­lan­gen Fluchtgeschichte.

Für Arash ist es unver­ständ­lich, dass er Deutsch­land nun ver­las­sen soll. Er hat Deutsch gelernt, arbei­tet und hat hier sei­ne Freun­de. Afgha­ni­stan ist für ihn ein frem­des Land, in dem er nie­man­den kennt. »Aktu­ell beglei­tet mich eine gro­ße Angst: Die Angst, dass ich nach Afgha­ni­stan abge­scho­ben wer­de. Wenn das pas­siert, ver­lie­re ich alles, was ich mir hier müh­sam auf­ge­baut habe. Ich glau­be nicht, dass ich die Kraft hät­te, noch­mal ganz von vor­ne anzu­fan­gen. Ich habe so vie­le Schwie­rig­kei­ten über­wun­den, um mir hier ein Leben auf­zu­bau­en – zurück­zu­ge­hen in ein Land ohne Hoff­nung ist für mich unvor­stell­bar«, sagt Arash abschließend.

*PRO ASYL hat den Namen zum Schutz der Per­son geändert.

(wj, ie)

YouTube

Mit dem Laden des Vide­os akzep­tie­ren Sie die Daten­schutz­er­klä­rung von You­Tube.
Mehr erfah­ren

Video laden