02.04.2012
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Der Europarat in Straßburg ist institutionell nicht mit der EU verbunden, sondern ein eigenes Staatenbündnis, dessen wichtigster Vertrag die Europäische Menschenrechtskonvention ist. Foto: flickr / Francois Schnell

Tineke Strik untersuchte im Auftrag des Europarats eine Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer, bei der 63 Menschen starben. Ende letzte Woche präsentierte sie die Ergebnisse.

Die Kata­stro­phe, die Tine­ke Strik unter­such­te, ist eine von vie­len Flücht­lings­ka­ta­stro­phen im Mit­tel­meer – doch eine der weni­gen, bei der es Über­le­ben­de gab, die spä­ter berich­ten konn­ten: Dar­über, wie die Flücht­lin­ge am 25. März 2011 in Tri­po­lis ein klei­nes Boot bestie­gen, das ins­ge­samt 72 Flücht­lin­ge, dar­un­ter zwei Klein­kin­der und zwan­zig Frau­en, nach Lam­pe­du­sa brin­gen soll­te. Dar­über, wie 63 Men­schen auf dem in See­not gera­te­nen Boot nach und nach bei einer 15-tägi­gen Irr­fahrt auf dem Meer elend ster­ben muss­ten, weil sämt­li­che ver­ant­wort­li­chen Insti­tu­tio­nen, die sie hät­ten ret­ten müs­sen, versagten.

Nach­dem der Guar­di­an die Berich­te der Über­le­ben­den auf­griff und schil­der­te, wie die Flücht­lin­ge trotz eines Not­rufs, trotz infor­mier­ter Behör­den, trotz vor­bei­fah­ren­der Schif­fe und eines Hub­schrau­bers, der das Boot über­flog, nicht geret­tet wur­den, ver­an­lass­te der Euro­pa­rat die Unter­su­chung der Katastrophe.

Der nun vor­ge­leg­te Bericht von Strik zeigt, dass die Nato, die das See­ge­biet vor Liby­en wäh­rend ihres dor­ti­gen Mili­tär­ein­sat­zes mit zahl­rei­chen Schif­fen über­wach­te, es trotz eines von ita­lie­ni­schen Behör­den ver­brei­te­ten Not­rufs ver­säum­te, die Flücht­lin­ge zu retten. 

Aber auch die See­not­ret­tungs­be­hör­den Ita­li­ens wer­den im Bericht beschul­digt, für die Kata­stro­phe mit­ver­ant­wort­lich zu sein. Sie hat­ten zwar das Boot der Flücht­lin­ge geor­tet und Schif­fe in der Nähe infor­miert, es aber ver­säumt, „eine Ret­tungs­ak­ti­on zu koor­di­nie­ren, um sicher­zu­stel­len, dass die­se Men­schen auch wirk­lich geret­tet wer­den“, so Strik in einem Inter­view. Ita­li­en könn­te nicht dar­auf ver­wei­sen, dass sich das Boot noch in liby­schen Gewäs­sern befun­den habe, so Strik. In Liby­en herrsch­te Krieg – von einer Ret­tung der Flücht­lin­ge durch liby­sche Ein­satz­kräf­te war nicht auszugehen.

Doch die man­geln­de Koor­di­na­ti­on der See­not­ret­tung auf dem Mit­tel­meer ist nach Strik nicht die ein­zi­ge Ursa­che für das Ster­ben der Flücht­lin­ge: Die Abge­ord­ne­te des Euro­pa­rats macht auch die man­geln­de Soli­da­ri­tät der EU-Staa­ten für die Kata­stro­phen auf dem Meer verantwortlich: 

 „Vie­le Flücht­lin­ge kom­men aus Nord­afri­ka nach Euro­pa, und die süd­eu­ro­päi­schen Län­der wer­den mit die­sem Pro­blem allein­ge­las­sen – nicht nur mit ihrer Ret­tung, son­dern auch damit, im Bedarfs­fall Maß­nah­men zum Schutz der Flücht­lin­ge zu ergrei­fen“, so Strik. „Ich den­ke, dass es hel­fen könn­te, wenn die nord­eu­ro­päi­schen Mit­glieds­staa­ten hier mehr Soli­da­ri­tät zei­gen wür­den. Sie müss­ten die süd­li­che Gren­ze Euro­pas als gemein­sa­me Außen­gren­ze betrach­ten. Und man müss­te die Flücht­lin­ge, die ja beson­ders schutz­be­dürf­tig sind, gleich­mä­ßig auf alle Län­der ver­tei­len. Erst dann wären mög­li­cher­wei­se auch die Anle­ger­staa­ten des Mit­tel­mee­res schnel­ler zur Ret­tung bereit.“

Wie sehr es an Soli­da­ri­tät unter den Mit­glied­staa­ten und zugleich an Soli­da­ri­tät mit den Flücht­lin­gen man­gelt, zeigt, wie der­zeit mit einem der neun Über­le­ben­den der Kata­stro­phe umge­gan­gen wird: Kur­ze Zeit nach­dem der Euro­pa­rat Striks Bericht ver­öf­fent­lich hat­te, wur­de der 23jährige Über­le­ben­de Abu Kur­ke Keba­to, einer der wich­tigs­ten Zeu­gen der Kata­stro­phe, in den Nie­der­lan­den fest­ge­nom­men, um nach Ita­li­en abge­scho­ben zu wer­den. Dass der durch die Kata­stro­phe trau­ma­ti­sier­te Flücht­ling in Ita­li­en medi­zi­ni­sche und psy­cho­lo­gi­sche Hil­fe erhält, ist unwahr­schein­lich: In Ita­li­en leben Flücht­lin­ge größ­ten­teils auf der Straße.

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Pro­tes­tie­ren Sie mit PRO ASYL gegen die Inhaf­tie­rung und Abschie­bung von Flücht­lin­gen nach Ita­li­en, Ungarn, Mal­ta und ande­re EU-Staa­ten, in denen sie men­schen­un­wür­di­ge Ver­hält­nis­se erwar­ten: www.flucht-ist-kein-verbrechen.de  

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