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Rechtswidrige Abweisungen – auch an deutschen Grenzen?
Die jüngst ausgeweiteten Grenzkontrollen sollen »irreguläre Migration« nach Deutschland verringern. Die Einhaltung geltenden Rechts droht dabei zunehmend ins Hintertreffen zu geraten. PRO ASYL befürchtet, dass Schutzsuchende regelmäßig in den Kontrollen abgewiesen werden. Berichte und Statistiken bestärken die Sorge.
Nun doch: Am Montag, 16. Oktober 2023, meldete die Bundesregierung nach langem Hin und Her Binnengrenzkontrollen an den Landgrenzen zu Polen, Tschechien und der Schweiz bei der Europäischen Union an. Bereits eingeführte Maßnahmen wie die Ausweitung der Schleierfahndung und flexible Schwerpunktkontrollen sollen so ergänzt werden. Zunächst wurden die jetzt neuen Grenzkontrollen für zehn Tage angekündigt, dies wurde bereits um weitere zwanzig Tage verlängert. Angekündigt ist eine Höchstdauer der Maßnahmen von zwei Monaten. Angesichts der aktuellen öffentlichen Debatte ist allerdings davon auszugehen, dass es nicht dabei bleibt. Ebenso wurden die bereits 2015 eingeführten und turnusmäßig verlängerten Kontrollen an der Grenze zu Österreich erneut für weitere sechs Monate angemeldet– aus Sicht von PRO ASYL ist das auch aufgrund eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs rechtswidrig.
Auch in der anhaltenden Debatte um die Ausweitungen von Grenzkontrollen knickte die Bundesregierung damit vor der lautstarken Forderung der CDU ein. CDU-Vertreter*innen sehen in der Ausweitung stationärer Grenzkontrollen eine einfache Möglichkeit, um gegen »irreguläre Migration« vorzugehen und die Asylantragszahlen in Deutschland zu reduzieren. Um aber damit die Zahl der hier ankommenden Schutzsuchenden tatsächlich zu senken, müssten bei den Kontrollen viele Menschen an den Grenzen zurückgewiesen werden. Solche Zurückweisungen an Binnengrenzen sind aber nur unter gewissen Umständen erlaubt. Definitiv verboten sind Zurückweisungen, sobald ein Asylgesuch geäußert wird. Darin besteht auch bei der Bundesregierung kein Zweifel (siehe Anfrage von DIE LINKE, BT-Drucksache20/5674, Antwort auf Frage 11).
Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser selbst hat in der Vergangenheit stationäre Grenzkontrollen als »reine Symbolpolitik« abgetan. Es ist tatsächlich fraglich, ob mit stationären Kontrollen die angestrebten Erfolge bei der Bekämpfung von »Schleuserkriminalität« erzielt werden können. Jedoch haben die verschärften Kontrollen das Potential, Asylsuchenden trotz der eindeutigen gesetzlichen Lage zum Verhängnis zu werden.
Grundsätzlich hat Deutschland das Recht, Menschen, die die Einreisevoraussetzungen nicht erfüllen, an der Grenze beziehungsweise im grenznahen Bereich abzuweisen und sie in das Land zurückzuschicken, aus dem sie einreisen wollen oder eingereist sind oder dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen. Möglich sind zum einen sogenannte Zurückschiebungen in den Nachbarstaat oder ins Herkunftsland (§ 57 AufenthG), also »aufenthaltsbeendende Maßnahmen«, wenn eine Person bereits eingereist ist und grenznah aufgegriffen wird. Zum anderen sind Zurückweisungen direkt an der Grenze, also »einreiseverhindernde Maßnahmen« möglich, falls die Person die Grenze noch nicht überquert hat (§ 15 AufenthG).
Äußert eine Person an der Grenze bei der Bundespolizei jedoch ein Asylgesuch, darf sie unter keinen Umständen zurückgeschickt werden, auch dann nicht, wenn sie nicht über die erforderlichen Dokumente zur Einreise verfügt. Ein Asylgesuch liegt vor, wenn eine Person schriftlich, mündlich oder auf andere Weise – z. B. durch Gesten – zum Ausdruck bringt, dass sie Schutz in Deutschland sucht (§ 13 AsylG). In diesem Fall ist die Bundespolizei als Grenzbehörde verpflichtet, die schutzsuchende Person an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) weiterzuleiten.
Dies gilt auch dann, wenn Deutschland möglicherweise gar nicht für die Prüfung des Asylantrags zuständig ist, weil die Person über einen anderen europäischen Staat gereist ist. Das BAMF prüft ohnehin zunächst nicht den Asylantrag, sondern ob Deutschland oder ein anderes europäisches Land für die Durchführung des Asylverfahrens gemäß der so genannten Dublin-Verordnung zuständig ist. Auch für dieses Verfahren muss die Bundespolizei die asylsuchende Person ans BAMF weiterleiten und darf sie nicht im Rahmen von Grenzkontrollen zurückweisen, weil sie aus einem vermeintlich zuständigen Dublinstaat einzureisen versucht.
Im Übrigen: Die Regelung in § 18 Absatz 2 Asylgesetz im nationalen Recht, nach der die Einreise aus sicheren Drittstaaten oder wenn andere EU-Länder für die Asylprüfung zuständig sind verweigert und die betreffende Person nach § 15 AufenthG zurückgewiesen werden darf, kommt nicht zur Anwendung, da das Europarecht in Form der Dublin-Verordnung vorrangig gilt.
Darüber hinaus gilt das Verbot der Kollektivausweisung von Schutzsuchenden an der Grenze, das in Artikel 4 des IV. Zusatzprotokolls der Europäischen Menschenrechtskonvention zu finden ist. Es besagt, dass schutzsuchende Personen nicht pauschal abgewiesen werden dürfen, sondern ihre individuellen Umstände berücksichtigt werden müssen. Für eine solche Prüfung hat die Bundespolizei keine Kompetenz.
Schließlich verbietet auch die Genfer Flüchtlingskonvention über das sogenannte Refoulement-Verbot in Artikel 33 Absatz 1, Flüchtlinge zurückzuweisen. Zwar droht den Schutzsuchenden nicht direkt eine Zurückweisung in das Land, aus dem sie geflohen sind, wenn sie an der deutschen Grenze abgewiesen werden. Das Refoulement-Verbot verlangt allerdings auch, sicherzustellen, dass niemand Opfer einer Kettenabschiebung wird. Auch das muss individuell vom BAMF geprüft werden.
Ob an der Grenze zu Polen, zu Tschechien, zu Österreich oder an der Grenze zu der Schweiz: Praktiker*innen ist seit langem bekannt, dass Menschen, die versucht haben, einen Asylantrag zu stellen, trotzdem abgewiesen wurden. Zusätzlich nähren vorliegende Statistiken den Verdacht, dass an einzelnen Grenzabschnitten systematisch rechtswidrig zurückgewiesen wird.
Statistiken und Berichte weisen auf systematische Zurückweisungen hin
In der polizeilichen Eingangsstatistik der Bundespolizei (PES) werden Aufgriffe durch die Bundespolizei erfasst (siehe Anfragen von DIE LINKE, BT-Drucksache 20/5674, Antwort auf Frage 1, 5, 7; für das erste Halbjahr 2023 siehe BT-Drucksache 20/8274). Demnach wurden alleine an der deutschen Grenze zu Österreich, wo es bereits seit Jahren stationäre Grenzkontrollen gibt, im Jahr 2022 über 14.500 Mal Menschen zurückgewiesen – eine Verdopplung im Vergleich zum Vorjahr. An der Grenze zur Schweiz, wo bundespolizeiliche Kontrollen in Abstimmung mit der Schweiz bereits auf schweizerischen Boden stattfinden, stieg die Zahl der Zurückweisungen von 94 im Jahr 2021 auf 3.664 im Jahr 2022 – eine drastische Steigung um den Faktor 39. Von den insgesamt über 25.500 Zurückweisungen an deutschen Grenzen waren vor allem afghanische (5.094), syrische (3.528) und türkische (2.187) Staatsangehörige betroffen.
Sicherlich äußern nicht alle Personen an der Grenze ein Asylgesuch, etwa dann nicht, wenn sie eigentlich in ein anderes Zielland wollen und Deutschland nur Durchgangsland ist. Dass allerdings über 8.600 Menschen aus Afghanistan und Syrien kein Schutzgesuch an der Grenze geäußert haben sollen, obwohl sie im Asylverfahren eine über 99-prozentige Chance auf Schutz haben, wenn der Asylantrag in Deutschland geprüft wird, erklärt sich nicht.
Anlass zur Skepsis bietet auch die auffällig geringe Anzahl an Asylgesuchen von Menschen, die nach bereits erfolgter Einreisen an der Grenze zu Österreich aufgegriffen wurden.
Anlass zur Skepsis bietet auch die auffällig geringe Anzahl an Asylgesuchen von Menschen, die nach bereits erfolgter Einreisen an der Grenze zu Österreich aufgegriffen wurden: Bei insgesamt 22.824 festgestellten »unerlaubten Einreisen« im Jahr 2022 wurden nur 2.771 Asylgesuche registriert (also 12 Prozent der »unerlaubt Eingereisten«). An anderen Landgrenzen, wie beispielsweise an der Grenze zur Schweiz (57 Prozent), zu Tschechien (52 Prozent) oder zu Polen (63 Prozent) stellten mehr als die Hälfte der nach einer »unerlaubten Einreise« Aufgegriffenen ein Asylgesuch. Diese Tendenz setzte sich im ersten Halbjahr 2023 fort: An der deutsch-österreichischen Grenze stellten mit nur 17 Prozent der nach einer »unerlaubten Einreise« aufgegriffenen Personen (1.403 von 8.059 Aufgriffe) auffallend wenige ein Asylgesuch. An den Grenzen zur Schweiz (62 Prozent), zu Tschechien (41Prozent) und zu Polen (62 Prozent) lag die Quote deutlich darüber.
Eine nachvollziehbare Erklärung für diese gravierenden Unterschiede gibt es nicht. Der Verdacht: Die Bundespolizei scheint an der Grenze zu Österreich in vielen Fällen Asylgesuche zu ignorieren oder zu verunmöglichen, um die Menschen direkt an der Grenze zurückweisen oder nach erfolgter Einreise ohne ein langwieriges Dublin-Verfahren beim BAMF schnell zurückschieben zu können.
Insgesamt sechs Berichte von syrischen Schutzsuchenden, die zwischen November und Dezember 2022 vergeblich versuchten in Deutschland einen Asylantrag zu stellen, veröffentlichten der Bayerische Flüchtlingsrat, Pushback Alarm Austria und das Netzwerk Border Violence Monitoring im April 2023. Die Schilderungen ähneln sich. Die betroffenen Kriegsflüchtlinge beschreiben im Auto, in der Bahn oder zu Fuß im Rahmen der polizeilichen Kontrollen in Freilassing, Passau und München aufgegriffen worden zu sein. Obwohl sie nach eigenen Angaben gegenüber den deutschen Beamt*innen und in der Regel im Beisein von Dolmetschenden artikulierten, einen Asylantrag in Deutschland stellen zu wollen, folgte meist am nächsten Tag die Zurückschiebung auf Basis eines Rückübernahmeabkommens mit Österreich. Ein Asylverfahren wurde nicht eingeleitet. Stattdessen wurden Verfahren aufgrund der unerlaubten Einreise und des unerlaubten Aufenthalts eingeleitet und Einreise- und Aufenthaltsverbote verhängt. Anschließend wurden die Schutzsuchenden österreichischen Beamt*innen übergeben – die sie erneut auf die Straße setzten.
Den verwehrten Zugang zum Asylverfahren und die aufgrund der Asylantragsstellung rechtswidrigen Zurückschiebungen können die Betroffenen nicht nachweisen. Denn aus den bislang vorliegenden Protokollen geht nicht hervor, dass sie einen Asylantrag gestellt haben. Auf Anfrage von Julian Pahlke (Grüne) im Bundestag zur Aufklärung des Sachverhalts kamen keine weiteren Erkenntnisse ans Tageslicht. Es steht Aussage gegen Aussage.
Bereits vor der temporären Einführung stationärer Grenzkontrollen an der deutschen Grenze zur Schweiz beschrieb Bundesinnenministerin Faeser die Zurückweisungspraxis hier als »beispielhaft«. Die Zahl der Verhinderung von »unerlaubten Einreisen« direkt an der deutschen Grenze zur Schweiz lag im ersten Halbjahr 2023 sogar höher als an der Grenze zu Österreich. Mit 4.787 Zurückweisungen gab es schon in der ersten Jahreshälfte über 30 Prozent mehr Zurückweisungen als im gesamten Vorjahr. Setzt man diese »Einreiseverhinderungen« ins Verhältnis zu den »unerlaubten Einreisen«, fällt auf, dass sich das Verhindern der Einreise von 35 Prozent im Jahr 2022 auf 80 Prozent im ersten Halbjahr 2023 mehr als verdoppelt hat. Dieser Anstieg mag sich in Teilen durch die seit Herbst 2022 verschärften Kontrollen oder möglicherweise veränderten Migrationsrouten erklären. Allerdings muss auch hier befürchtet werden, dass dieser drastische Anstieg der Zurückweisungen auf ein Ignorieren oder Verunmöglichen von Asylgesuchen zurückzuführen sein könnte.
Am Rhein hat sich eine grenzpolizeiliche Zusammenarbeit etabliert, die zum Teil die Zunahme der Zurückweisungen erklären dürfte. Ein ausführlicher Artikel vom März 2023 ergibt folgenden skurrilen Einblick, der durch die Antwort der Bundesregierung auf die kleine Anfrage der Fraktion die Linke bestätigt wird (siehe Anfrage von DIE LINKE, BT-Drucksache 20/8274, insb. Antwort auf Frage 13).
Demnach finden in Abstimmung mit der Schweiz Kontrollen bereits auf schweizerischen Boden statt. Die rechtliche Basis dafür bildet ein Abkommen zwischen Deutschland und der Schweiz aus dem Jahr 1961. Deutsche Bundespolizist*innen steigen im Bahnhof Basel SBB in Züge Richtung Deutschland ein. In den wenigen Minuten, bis der Zug am Basel Badischer Bahnhof hält, kontrollieren sie alle Zugreisenden, die in ihr Raster passen. Offen ist, ob dabei systematisch Racial Profiling angewandt wird. Wer die Einreisevoraussetzungen nicht erfüllt, wird am Basel Badischer Bahnhof aus dem Zug geführt. Geographisch ist die deutsche Grenze damit nicht übertreten.
Von hier aus werden die Personen entweder in einer entsprechenden Bearbeitungsstraße am Badischen Bahnhof registriert oder nach Deutschland in die Polizeiinspektion Efringen-Kirchen gebracht. Dort wurde eine Verfahrensstraße eingerichtet in der die Aufgegriffenen im Akkord abgefertigt werden. Nach der erkennungsdienstlichen Behandlung erfolgt die Zurückweisung in die Schweiz. Obwohl die Menschen durch den Transport nach Efringen-Kirchen geographisch die deutsche Grenze längst überquert haben, gelten sie als nicht eingereist und können deswegen zurückgewiesen werden, als wären sie noch nicht auf deutschem Boden. Die Bundespolizei bedient sich dabei der so genannten »Fiktion der Nicht-Einreise« gemäß § 13 Abs. 2 AufenthG.
Ein Großteil der Menschen kommt laut Medienberichten aus Afghanistan, viele in der Hoffnung, einen Asylantrag in Deutschland zu stellen, etwa aufgrund von familiären Bezügen nach Deutschland. In dem Szenario, dass der Asylantrag bei der Kontrolle auf schweizerischen Boden gegenüber deutschen Beamt*innen geäußert wird, zieht sich die Bundesregierung auf Artikel 20 Absatz 4 Dublin-III-Verordnung zurück, wonach in solchen Fällen das Asylgesuch an die schweizerischen Behörden weitergeleitet wird (siehe Anfrage von DIE LINKE BT-Drucksache 20/8274, insb. Antwort auf Frage 13). Wird der Asylantrag aber in Efringen-Kirchen gestellt, müsste ein Verweis an das zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) erfolgen. Ob das praktisch auch so gehandhabt wird, bleibt jedoch fraglich.
An den deutschen Grenzen zu Polen und Tschechien gab es bisher im Jahr 2023 wie bereits im Jahr 2022 nahezu keine Zurückweisungen (16 nach Polen, 26 nach Tschechien). Mit der Ausweitung stationärer Grenzkontrollen sind dort künftig ähnliche hohe Zurückweisungszahlen und deutlich weniger Asylgesuche zu erwarten. PRO ASYL befürchtet dadurch eine weitere Kriminalisierung Schutzsuchender, die keine Möglichkeit einer legalen Einreise haben, und denen der Zugang zum Asylverfahren in Deutschland im Rahmen der Grenzkontrollen versperrt bleibt – und damit ein weiteres Absinken oder gar Umgehen rechtsstaatlicher Mindeststandards. Dies könnte tausende Menschen etwa aus Syrien und Afghanistan treffen.
PRO ASYL fordert: Notbremse zum Schutz von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten ziehen!
PRO ASYL ist besorgt angesichts der sich verdichtenden Hinweise zu mutmaßlich rechtswidrigen Zurückweisungen und Zurückschiebungen an den deutschen Grenzen.
Die dargestellten Statistiken und Berichte bestätigten, dass es Schutzsuchende an den deutschen Grenzen häufig nicht gelingt, ihr Schutzgesuch effektiv zu äußern und Zugang zum Asylverfahren zu erlangen. Die Beobachtung steht in unmittelbaren Zusammenhang zu den ausgeweiteten Grenzkontrollen und dem politischen Ziel, »unrechtmäßige Einreisen« zu reduzieren. Sie zeigt, dass die erhöhte Polizeipräsenz nicht zu mehr Rechtssicherheit führt. Im Gegenteil stellt sich die Frage, ob rechtsstaatliche Kriterien an den deutschen Grenzen noch gewahrt werden.
Das Versprechen aus dem Koalitionsvertrag, illegale Zurückweisungen an den Außengrenzen zu beenden, muss auch an den eigenen Grenzen umgesetzt werden. Die Praxis rechtswidriger Pushbacks ist trauriger Alltag an europäischen Außengrenzen. Es ist erschreckend und zutiefst besorgniserregend, dass sich Hinweise auf eine deutsche Spielart dieser Pushbacks verdichten.
dmo, mz