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Rechtsgutachten zeigt: Im Stich lassen gefährdeter Afghan*innen ist strafbar

Wenn gefährdete Afghan*innen, die bereits eine Aufnahmezusage von Deutschland erhalten haben, von Pakistan nach Afghanistan abgeschoben werden, machen sich Regierungsmitglieder und Beamt*innen strafbar. Dies zeigt ein von PRO ASYL und dem Patenschaftsnetzwerk Ortskräfte e.V. in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten.
»Man hielt mich zwei Monate lang gefangen«, berichtet Ahmad M., eine ehemalige Sicherheitskraft der vorigen Regierung Human Rights Watch . Er suchte nach der Taliban-Machtübernahme Zuflucht in Pakistan. Im November 2023 wurde er nach Afghanistan abgeschoben. »Allnächtlich drohten sie mir: ‚Heute Nacht bringen wir dich um‘, führten es jedoch nicht aus. In der Geheimdienst-Haftanstalt wurde ich misshandelt. Die Täter verhüllten ihre Gesichter, um eine Identifizierung zu verhindern. Nach zwei Monaten kam ich wieder frei, doch ich kenne zahlreiche ehemalige Kollegen, die festgenommen wurden und seitdem spurlos verschwunden sind.«
Die Geschichte von Ahmad M steht exemplarisch für das, was Afghan*innen nach einer Abschiebung durch Pakistan in Afghanistan droht: Folter, Misshandlung oder Tod. Ein am 8. Juli 2025 veröffentlichtes Rechtsgutachten zeigt: Die Bundesregierung macht sich strafbar, wenn sie Afghan*innen mit bereits erfolgter Aufnahmezusage in Pakistan in dieser Situation im Stich lässt und sie nach Afghanistan abgeschoben werden. Das Gutachten wurde von dem Strafrechtler Dr. Robert Brockhaus verfasst und von PRO ASYL und dem Patenschaftsnetzwerk Ortskräfte in Auftrag gegeben.
Die Bundesregierung muss nun aus Sicht von PRO ASYL alle Hebel in Bewegung setzen, um gefährdete Afghan*innen von Pakistan nach Deutschland zu retten. Nur so kann sie eine Strafbarkeit noch vermeiden.
Aufnahmeversprechen deutscher Politiker*innen
Nach dem Sturz der Taliban am 15. August 2021 versprachen Politiker*innen sämtlicher demokratischer Fraktionen die nunmehr gefährdeten Ortskräfte, die für die Bundeswehr und zivile deutsche Einrichtungen gearbeitet hatten, nicht im Stich zu lassen. Ihnen sollte in Deutschland Schutz gewährt werden. Zeitgleich wurde ein humanitäres Bundesaufnahmeprogramm für ehemalige Regierungsmitarbeiter*innen, Journalist*innen, Menschenrechtsaktivist*innen, LGBTIQ*-Personen und anderen bedrohten Menschen aus der afghanischen Zivilgesellschaft beschlossen.
Über das Ortskräfteprogramm reisten etwa 20.600 Ortskräfte einschließlich Familienangehörigen nach Deutschland ein. Für das Bundesaufnahmeprogramm waren bis zu 32.000 Menschen vorgesehen. Bislang wurden jedoch lediglich etwa 1.511 Menschen aufgenommen.
Neue Bundesregierung stoppt weitere Aufnahme
Personen, die sich erfolgreich auf eines der beiden Programme beworben haben, bekommen zunächst eine Aufnahmezusage. Mit dieser müssen sie sich zur deutschen Botschaft nach Islamabad (Pakistan) begeben, wo sie ein Visum beantragen müssen. Am 8. Mai hat die neue Bundesregierung aber alle laufenden Visumverfahren gestoppt und sämtliche Ausreisen nach Deutschland ausgesetzt. Am 17. April landete der letzte Flieger mit aufgenommenen Afghan*innen in Deutschland. Aktuell sitzen 2.351 Betroffene in Pakistan fest (BMI-Auskunft, Stand 23. Juni 2025).
Diese Vorgehensweise ist ein erster Schritt zur Umsetzung des im Koalitionsvertrag bereits angekündigten Wortbruches. Dort heißt es: »Wir werden freiwillige Bundesaufnahmeprogramme soweit wie möglich beenden«. Neue Programme sollen nicht aufgelegt werden. Derzeit wird eine umfassende Beendigung der Aufnahmeprogramme geprüft, wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hervorgeht.
Prekäre Situation in Pakistan
Pakistan ist für die geflüchteten Afghan*innen allerdings kein sicherer Hafen. Durch die Linie der neuen Bundesregierung ist zu befürchten, dass sich die pakistanische Regierung nicht mehr an Absprachen mit der Bundesrepublik zur Schonung afghanischer Geflüchteter gebunden fühlt. Die pakistanische Politik setzt diesen wiederholt Ultimaten das Land zu verlassen, bevor sie abgeschoben werden sollen. Zwar hat die Bundesregierung Menschen mit einer Aufnahmezusage sogenannte Schutzbriefe ausgestellt, um Abschiebungen zu verhindern. Allerdings berichtet Elaha Hakim von der Kabul Luftbrücke in der gemeinsamen Pressekonferenz von PRO ASYL und dem Patenschaftsnetzwerk Ortskräfte e.V., dass die pakistanische Polizei diese Schutzbriefe zerreißt, wenn sie vorgezeigt werden. Human Rights Watch berichtet, dass Unterkünfte von Afghan*innen tagsüber und nachts durchsucht werden. Ausweisdokumente und Aufenthaltsgenehmigungen werden konfisziert. Afghan*innen werden willkürlich verhaftet und zusammengeschlagen.
»Ich habe meinen Nachbarn ein Vorhängeschloss gegeben, um mich einzuschließen, damit sie denken, ich sei nicht zu Hause«, erzählt Hashema M, eine frühere Staatsanwältin, über ihre Angst vor der pakistanischen Polizei in dem Bericht. »Meine 4‑jährige Tochter hat seit gestern Fieber, aber ich traue mich nicht, sie zum Arzt zu bringen. Wir können nicht rausgehen.«
Diese Angst ist leider begründet. Vereinzelt sind in der Vergangenheit bereits afghanische Staatsangehörigen mit Aufnahmezusagen aus Deutschland durch die pakistanischen Behörden abgeschoben worden. Auf Betreiben der Deutschen Botschaft in Islamabad und der deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit ist es jedoch gelungen, die Personen wieder nach Pakistan zurückzuholen.
Verfolgung in Afghanistan
Der eingangs dargestellte Fall von Ahmad M. bildet nur einen Teil von dem ab, was den Menschen in Afghanistan droht. Der UN-Bericht zur Menschenrechtslage vom 1. Mai 2025 für den Zeitraum Januar bis März 2025 dokumentiert systematische Menschenrechtsverletzungen an verschiedenen Gruppen.
Neben ehemaligen Regierungsbeamten und Sicherheitskräften wie Ahmad M., sind demnach auch Angehörige religiöser Minderheiten besonders gefährdet. Sie werden zur Konversion gezwungen und bei Zuwiderhandlungen bedroht oder körperlich angegriffen (S.6).
Geschlechtsspezifische Gewalt ist an Tagesordnung. Zwangsverheiratete, von ihren Ehemännern körperlich misshandelte, Frauen und Mädchen, werden von den De-facto-Behörden dazu ermutigt, in eben diesen Zwangsehen zu verbleiben (S. 3).
Ein weiterer UN-Bericht zur Situation in Afghanistan vom 11. Juni 2025 für den Zeitraum Februar bis Mai 2025 beschreibt die systematische Verfolgung von Journalist*innen.
Auch Menschen aus der LGBTIQ*-Community werden in speziellen Gefängnissen gefoltert und umgebracht, wie ein Interview von Michael Schmucker mit Shariyar M., einem afghanischen Geflüchteten in Deutschland, zeigt. Auch die Familien von queeren Menschen geraten in das Visier der Taliban. Sie werden gefoltert, um den Aufenthaltsort von ihren queeren Verwandten zu erfahren. Selbst im eigenen Familienumfeld werden queere Menschen geschlagen, festgekettet, gefoltert und mit dem Tode bedroht, so der Artikel.
Strafbarkeit von Vertreter*innen der Bundesregierung und involvierten Behörden
Durch das Zulassen solcher Abschiebungen nach Afghanistan machen sich Entscheidungsträger*innen der Bundesregierung und der involvierten Behörden nach dem deutschen Strafgesetzbuch (StGB) strafbar, so das Rechtsgutachten von Dr. Robert Brockhaus.
Obwohl Afghan*innen den oben genannten Gefahren in Afghanistan ausgesetzt sind, ist das deutsche Strafrecht anwendbar. Nach den §§ 3, 9 StGB kommt es nur darauf an, dass die Entscheidungen, die im Ergebnis zu einer Abschiebung nach Afghanistan führen, in Deutschland getroffen werden.
Hauptsächlich liegt eine Strafbarkeit der sogenannten Aussetzung nach § 221 StGB vor. Wenn afghanische Geflüchtete nach Afghanistan abgeschoben werden, befinden sie sich in einer sogenannten hilflosen Lage, in der sie sich nicht mehr selbst oder durch andere vor einer Verfolgung schützen können. Weil ihnen mit der Verfolgung auch schwere Gesundheitsschädigungen oder der Tod konkret drohen, besteht eine Strafbarkeit für denjenigen, der diese Lage verursacht.
Dieser jemand sind Entscheidungsträger*innen der Bundesregierung und der involvierten Behörden, wie zum Beispiel der derzeitige Innenminister Alexander Dobrindt von der CSU. Zwar ordnen sie nicht aktiv eine Abschiebung nach Afghanistan an. Sie unterlassen es aber Visa zu erteilen und eine Ausreise nach Deutschland zu ermöglichen, obwohl sie hierzu verpflichtet sind. Im Sinne des Strafrechts sind sie sogenannte Garanten (§ 13 StGB) für die Sicherheit der Menschen mit Aufnahmezusage.
Aber kann Deutschland seine Politik nicht einfach ändern? In diesem Fall muss man festhalten: Nein! Zum einen kann eine im strafrechtlichen Sinne übernommene Beschützerstellung erst dann aufgegeben werden, wenn die Schutzaufgabe vollständig erfüllt ist (BGH, 31.01.2002 – 4 StR 289/01). Anders können Afghan*innen gerade keinen Schutz finden. Und zum anderen zeigt auch eine Entscheidung des VG Berlin vom 8. Juli 2025, dass bestandskräftige Aufnahmezusagen die Bundesrepublik Deutschland zur Aufnahme und zum Schutz verpflichten.
Laut dem Gutachten kommen neben der Aussetzung durch Unterlassen auch noch eine Strafbarkeit aus Unterlassener Hilfeleistung (§ 323c StGB) oder Körperverletzungsdelikte (§§ 223, 224 StGB) und sogar Mord und Totschlag (§§ 211, 212 StGB) durch Unterlassen (§ 13 StGB) in Betracht, wenn Menschen aufgrund der Abschiebung in Afghanistan verletzt oder getötet werden.
Bundesregierung muss handeln!
»Wir leben hier ohne Unterkunft, ohne Arbeit, ohne Schule für unsere Kinder – und ohne Perspektive. Täglich droht uns die Abschiebung. Wenn einige Geflüchtete in Europa Fehler begangen haben, darf das nicht unsere Bestrafung rechtfertigen – wir flohen gerade vor diesen Terroristen.« – Fraaz R. (Aliasname) am 1. Mai 2025 in Pakistan
Dieses Zitat macht für PRO ASYL umso deutlicher: Die Bundesregierung muss jetzt handeln. Die Visa- und Sicherheitsprüfungen müssen fortgeführt werden und den gefährdeten Afghan*innen umgehend Visa ausgestellt und ihre Einreise ermöglicht werden. Wenn die Bundesregierung ihren Verpflichtungen nicht nachkommt und Betroffene dadurch zu Schaden kommen, dann wird PRO ASYL auch den nächsten Schritt gehen: Strafanzeige gegen die Bundesregierung stellen.
(Cornelius König, Referendar bei PRO ASYL von Juli – September 2025)