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Rechtsbruch statt Schutz: Griechenland nutzt veränderte Fluchtroute, um Asylrecht auszusetzen

Seit mehr als 18 Monaten kommen mehr Schutzsuchende auf den südlichsten Inseln Griechenlands, Kreta und Gavdos, an. Bislang ignorierte die griechische Regierung die dramatische Unterbringungssituation auf den Inseln. Nun hat sie rechtswidrig den Zugang zum Asylverfahren gestoppt und droht abzuschieben, ohne zuvor den Asylantrag zu prüfen.
Die ersten Schutzsuchenden, die nach der lebensgefährlichen Flucht aus Libyen über das Mittelmeer vor den südlichsten griechischen Inseln aufgegriffen wurden, sind laut Medienberichten bereits in ein Abschiebehaftlager aufs Festland überstellt worden. Die mehr als 200 Menschen erhalten keinen Zugang zum Asylverfahren, stattdessen sollen sie bis zu ihrer Abschiebung eingesperrt bleiben. Die genaue Zusammensetzung der Gruppe ist bislang unklar. Es ist davon auszugehen, dass in der Gruppe auch vulnerable Personen wie unbegleitete Minderjährige sind. Der Zugang zu rechtlicher Vertretung ist eingeschränkt.
Komplette Entrechtung
Grundlage der kompletten Entrechtung ist die rechtswidrige Suspendierung des Zugangs zum Asylverfahrens (Artikel 79 des Gesetzes 5218/2025), der das griechische Parlament am 11. Juli 2025 zugestimmt hatte. Unabhängig vom Herkunftsland ist für alle Schutzsuchenden, die Griechenland von der nordafrikanischen Küste aus erreichen, der Zugang zum Asylverfahren ausgesetzt. Sie sollen ohne Registrierung ihres Antrags abgeschoben werden. Die Regelung gilt zunächst für drei Monate.
Die Entscheidung ist dramatisch und entbehrt jeder rechtlichen Grundlage. Mit der drohenden Abschiebung ohne Prüfung des Schutzgesuchs verstößt die griechische Regierung gegen die Genfer Flüchtlingskonvention sowie das universell geltende Folterverbot, das in zahlreichen internationalen Verträgen wie etwa der EU-Grundrechtecharta verankert ist. Im schlimmsten Fall schiebt Griechenland also schutzsuchende Menschen in den Staat ab, in denen ihnen Folter und unmenschliche oder erniedrigende Gewalt droht.
Griechische Regierung spricht von »Notlage«
Die griechische Regierung verweist in der Begründung des Gesetzes auf Artikel 15 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Darin sind Abweichungen von der Menschenrechtskonvention in Teilen vorgesehen, wenn »das Leben der Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht ist«. Rechtswissenschaftlicher*innen bezeichnen diesen Versuch der Legitimierung als »absurd«.
Auch die Union der griechischen Verwaltungsrichter*innen sieht keine nationale Notlage und unterstreicht, dass in keinem Fall von dem absolut geltenden Folterverbot abgewichen werden darf. Protest kommt auch von der griechischen Ombudsperson, dem griechischen Menschenrechtskommissar sowie dem Anwält*innenverband. Sie alle forderten die griechische Regierung auf, das Gesetz zurückzunehmen.
Internationaler Protest, aber Stille aus Brüssel
»Ernsthaft besorgt« zeigte sich auch der UNHCR. In einer öffentlichen Stellungnahme verweist das Hochkommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Nationen auf die Universalität des Menschenrechts auf Asyl. »Selbst in Zeiten hohen Migrationsdrucks müssen Staaten sicherstellen, dass Asylsuchende Zugang zu Asylverfahren haben. Die Rückführung von Menschen an einen Ort, an dem ihr Leben oder ihre Freiheit bedroht sind, würde gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstoßen. Staaten dürfen von diesem wichtigen Grundsatz des Völkerrechts nicht abweichen.« Ebenso appellierte Michael O’Flaherty, Menschenrechtskommissar des Europarats, vor der Abstimmung an das griechische Parlament, der Gesetzesinitiative nicht zuzustimmen und wies darauf hin, dass damit mehrere bindende internationale Verträge gebrochen würden.
Bereits im März 2020 versuchte Griechenland in einem vergleichbaren rechtswidrigen Schritt das Asylrecht an der Grenze zur Türkei auszusetzen. Hier gibt es weitere Informationen
Bereits im März 2020 versuchte Griechenland in einem vergleichbaren rechtswidrigen Schritt das Asylrecht an der Grenze zur Türkei auszusetzen.
Die Europäische Kommission bleibt auch fast drei Wochen nach der Verabschiedung des Gesetzes erstaunlich still. Ein Sprecher für Inneres und Rechtsstaatlichkeit der Kommission sprach von »außergewöhnlichen« Maßnahmen und verwies auf von Griechenland angeführte Sicherheitsbedenken vor dem Hintergrund steigender Ankunftszahlen. Zusätzlich betonte er den engen Austausch zwischen Brüssel und Athen.
Anstieg der Ankünfte auf Kreta und Gavdos: kontinuierlich und vorhersehbar
Die Regierung unter der Nea Dimokratia gibt an, darauf zu reagieren, dass zunehmend Schutzsuchende auf Booten von der nordafrikanischen Küste aus auf Kreta und der benachbarten Insel Gavdos ankommen. Das sehr kleine Gavdos ist die südlichste Insel Europas. Sie ist etwa 260 Kilometer von der afrikanischen Nordküste entfernt.
Tatsächlich ist deutlich zu erkennen, dass sich zwischen der libyschen Küste und den genannten Inseln längst eine gefährliche Fluchtroute etabliert hat. Die PRO ASYL- Schwesterorganisation Refugee Support Aegean (RSA) weist bereits seit Dezember 2023 auf die steigenden Ankunftszahlen auf Kreta und Gavdos hin. Im Jahr 2024 kamen rund sechsmal so viele Menschen an wie im Vorjahr 2023 – die Zahl der Schutzsuchenden stieg von 815 (2023) auf rund 5.100 (2024).
2025 setzt sich diese Entwicklung fort. UNHCR dokumentiert 10.219 Schutzsuchende, die auf Kreta bis zum 20. Juli 2025 angekommen waren. Darunter sind besonders viele Schutzsuchende, die aus Ägypten und dem Bürgerkriegsland Sudan fliehen. Besonders letztere haben auch in Griechenland eine sehr hohe Anerkennungsquote und sind nach der Gesetzesänderung ebenso vom Zugang zu Asyl abgeschnitten.
Häufig sind es zu viele Menschen, die sich auf die seeuntauglichen kleinen Fischerboote oder ausrangierte Kutter zwängen, um die lebensgefährliche Flucht über das zentrale Mittelmeer anzutreten.
Die meisten Boote, die auf Kreta ankommen, legen im libyschen Tobruk ab. Sie sind mindestens zwei Tage auf offener See unterwegs, ohne ausreichende Verpflegung, Trinkwasser oder lebensrettende Ausrüstung. Dabei kommt es regelmäßig zu tödlichen Unglücken, wie etwa am Mitte Dezember 2004, als bei einem Schiffsbruch südwestlich von Gavdos mehr als die Hälfte der Insassen eines Flüchtlingsbootes ihr Leben verlor. Acht Leichen konnten unmittelbar geborgen werden, weitere wurden in den folgenden Tagen angeschwemmt.
In Reaktion auf die steigenden Ankünfte über die Fluchtroute entsandte Griechenland zwei Fregatten und ein Versorgungsschiff. Die drei Schiffe sollen vor den libyschen Hoheitsgewässern patrouillieren und eine »abschreckende Wirkung« haben. Es ist zu befürchten, dass die Präsenz der griechischen Marine die Flucht über das Mittelmeer zusätzlich gefährdet. Griechenland wurde aufgrund ausbleibender Rettungsmaßnahmen und Operationen auf See, die zum Kentern von Fluchtbooten führten, mehrfach vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt.
2025 verzeichnete Griechenland bislang (bis 20. Juli 2025) laut UNHCR 21.599 Seeankünfte, das liegt auf einem gewöhnlichen Niveau. Zum Vergleich: Im Gesamtjahr 2024 erreichten 54.417 Schutzsuchende Griechenland über den Seeweg, 2023 dokumentierte UNHCR 41.561 Ankünfte. Doch knapp die Hälfte der Ankünfte 2025 entfällt auf den Raum Kreta. Die Ankünfte auf den ägäischen Inseln etwa auf Lesvos (2.044 Ankünfte), Samos (2.537) und Chios (1.668) blieben hingegen stabil. Das Fluchtgeschehen in Griechenland hat sich somit von der östlichen Seegrenze in der Ägäis auf die südliche Seegrenze verlagert.
Keine adäquate Erstversorgung
Schutzsuchende, die Kreta und Gavdos erreichten, wurden bislang innerhalb weniger Tage in Lager aufs Festland, nach Malakasa, Divata und Fylakio, überstellt. Jedoch verzögerten sich diese Transfers zunehmend. Je mehr Menschen ankamen, desto länger mussten sie auf den beiden Inseln bleiben.
Doch anders als auf den ägäischen Inseln, die seit Jahren Experimentierfeld immer größerer Asyllager sind, gibt es auf den beiden südlichen Inseln keine Einrichtungen für die Erstversorgung. Zuständig dafür ist die die Regierung in Athen. Bei der Erstversorgung der von der Flucht über das Meer gezeichneten Menschen geht es um eine würdige Unterbringung, medizinische Erstversorgung, Kleidung, Hygieneartikel und Lebensmittel. Hinzu kommen eine Erstregistrierung und eine erste Identifizierung von besonderem Bedarf, zum Beispiel wegen Krankheit oder Schwangerschaft.
sind auf der Website der PRO ASYL-Schwesterorganisation Refugee Support Aegean zu finden:
- Suspension of processing of asylum applications just announced by Prime Minister Kyriakos Mitsotakis is illegal!, 09.07.2025
- Crete – Gavdos: 7,336 refugee arrivals in the first half of 2025, lack of management plan, 09.07.2025
- Crete – Gavdos: Sixfold increase in refugee arrivals in 2024 – Lack of organised first reception and accommodation infrastructure, 30.01.2025
- Crete and Gavdos have no reception and identification procedures despite the increased arrivals, 19.12.2023
Nicht nur zivilgesellschaftliche Organisationen wie RSA, auch kommunale Körperschaften und Repräsentant*innen haben frühzeitig und wiederholt auf die Versorgungs- und Finanzierungsprobleme hingewiesen. Der Gouverneur von Kreta, Stavros Arnaoutakis, beschrieb, dass die Region Kreta das Ministerium für Migration und Asyl seit drei Jahren drängt, zwei temporärere Unterbringungsstrukturen zu errichten. Die griechische Regierung handelte jedoch lange nicht und sendete unterschiedliche Signale. Erst Mitte Juli 2025 stellte die Regierung drei temporäre Aufnahmestrukturen in Aussicht. Gegen den Willen der Kommune soll außerdem ein geschlossenes Lager errichtet werden.
Zelte, Matratzenlager und fehlende sanitäre Infrastruktur
Bislang wurden die Schutzsuchenden, die Kreta und Gavdos erreichten, in unzureichenden Provisorien auf Kreta untergebracht, weder die personellen Kapazitäten vor Ort, noch die Infrastruktur in den Provisorien ist jedoch zur Unterbringung ausgelegt. Es fehlt an allem. Dazu funktionierten lokale Behörden zum Beispiel ein Messegelände für die temporäre Unterbringung um. Hier liegen Decken dicht nebeneinander auf dem Boden, sie dienen als provisorische Schlafstätte. Erst seit kurzem gibt es Duschen. An anderer Stelle errichtete die Kommune für etwa 500 Menschen ein Zeltlager auf freier Fläche. Im Norden Kretas finden schutzsuchende Personen in Strukturen am Hafen eine provisorische Unterbringung. Die geteilten Zimmer sind etwa 15 Quadratmeter groß, ohne Fenster, natürliches Licht und Belüftungssystem wird es in der Sommerhitze unerträglich.
Die griechische Regierung hatte genügend Zeit und Erfahrung, um angemessene Aufnahmestrukturen auf den südlichsten Inseln zu erreichten. Hinzukommt, dass die gesamtgriechischen Ankunftszahlen auf einem erwartbaren Niveau liegen. Die anhaltende Notfallrhetorik der griechischen Regierung und der ohnehin haltlose offenen Rechtsbruch lassen sich so nicht erklären. Vielmehr muss sich Griechenland die Frage gefallen lassen, ob es überhaupt zu irgendeinem Zeitpunkt versucht hat, adäquat und rechtskonform zu reagieren.
Über 100 Organisationen fordern: Griechenland muss Asylrecht bewahren!
Die griechische Regierung sägt mit der Aussetzung des Asylrechts weiter an dem bereits angebrochenen Ast der universell geltenden Menschenrechte. Auch wenn viele praktische Fragen noch nicht geklärt sind, ist die Regierung unter Ministerpräsident Mitsotakis angesichts der bereits inhaftierten Gruppe Schutzsuchender offensichtlich Willens, die rote Linie zu überschreiten, und Schutzsuchende ohne Verfahren ins Herkunftsland abzuschieben.
PRO ASYL, Refugee Support Aegean und über 100 zivilgesellschaftliche Organisationen aus Griechenland und der EU fordern Griechenland auf, das Gesetz umgehend zurückzunehmen und den uneingeschränkten Zugang zum Asylrecht wiederherzustellen.
PRO ASYL, Refugee Support Aegean und über 100 zivilgesellschaftliche Organisationen aus Griechenland und der EU fordern Griechenland auf, das Gesetz umgehend zurückzunehmen und den uneingeschränkten Zugang zum Asylrecht wiederherzustellen. Auch die Europäische Kommission muss endlich ihr Schweigen brechen, und alle ihr zur Verfügung stehenden Maßnahmen nutzen, um den eklatanten Rechtsbruch durch Griechenland zu sanktionieren.
Zudem müssen die bereits inhaftierten Schutzsuchenden sofort aus der Haft entlassen werden und Zugang zum Asylverfahren erhalten.