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Ortskräfte in Mali: Werden auch sie zurückgelassen?
Wiederholt sich in Mali das Abzugsdebakel aus Afghanistan? Die Situation ist schwer vergleichbar, doch in dem westafrikanischen Land spitzt sich die Lage für lokales Personal der Bundeswehr zu. Die Bundesregierung sieht keinen Anlass, tätig zu werden. PRO ASYL fordert in einem Offenen Brief die Evakuierung von Ortskräften und ihren Familien.
In Mali brodelt es – mit ungewissem Ausgang. Seit dem Militärputsch hat sich die Zusammenarbeit zwischen der Regierung und westlichen Staaten zusehends verschlechtert, was nun auch Folgen für die Ortskräfte haben könnte. Mitte August zogen die französischen Truppen der Militärmission Barkhane ab. Die deutschen Blauhelm-Soldat*innen sollen zwar weiterhin im Land bleiben, doch die Bundesregierung hat die Bundeswehroperationen im Rahmen der UN-Friedensmission MINUSMA vorläufig ausgesetzt. Diese Aussetzung sei, so wird vermutet, letztlich der Einstieg in den Abzug der Bundeswehr aus Mali. Die UN-Mission MINUSMA ist seit 2013 in dem Sahel-Staat präsent und soll den Schutz der malischen Zivilbevölkerung vor islamistischen Milizen sicherstellen. Der UN-Sicherheitsrat verlängerte ihr Mandat Ende Juni um ein weiteres Jahr. Mit etwa 1000 deutschen Soldat*innen zählt Deutschland zu den größten Truppenstellern.
Gleichzeitig ist es derzeit der gefährlichste Auslandseinsatz der Bundeswehr. In Zentral- und Nordmali sind lokale aufständische Gruppen, die mit Al-Qaida und dem Islamischen Staat verbunden sind, aktiv. Die Gewalt zwischen Islamisten, Armee und Milizen forderte laut Presseberichten bereits viele Opfer – nicht nur Militärs, sondern auch Zivilist*innen. Zehntausende Menschen sind vor den Kämpfen in den Nordosten des Landes geflohen; unter diesen Binnenflüchtlingen sind der Nachrichtenagentur AFP zufolge rund 47.000 Minderjährige. Die Vereinten Nationen werfen auch der malischen Armee Massaker an Zivilist*innen vor.
»Der Staat hat die Verfolgung politischer Gegner verschärft, der Raum für öffentliche Debatten schrumpft und die Online-Angriffe auf unabhängige Medien nehmen zu.«
Die International Crisis Group, die Konflikte und Kriege in aller Welt beobachtet und frühzeitig dokumentiert, warnte schon im Juni vor einer Verschlechterung der Lage in Mali. Und bereits im Mai analysierten die Länderexpert*innen die Lage in Mali wie folgt: »Der Staat hat die Verfolgung politischer Gegner verschärft, der Raum für öffentliche Debatten schrumpft und die Online-Angriffe auf unabhängige Medien nehmen zu. (…) Der bevorstehende Abzug der Barkhane- und Takuba-Kräfte könnte dazu führen, dass dschihadistische Gruppen ihre Operationen opportunistisch ausweiten, während die UN-Truppe geschwächt wird, da sie bisher auf Luftunterstützung sowie auf medizinische und logistische Unterstützung durch die Franzosen angewiesen war. (…) Es gibt auch Anzeichen für ein zunehmendes politisches Durchgreifen. Die Justiz hat Oppositionsführer verhaftet oder Verfahren gegen sie eingeleitet.«
PRO ASYL unterzeichnet Offenen Brief zur Rettung der malischen Ortskräfte
In einer solchen Situation sind besonders jene Menschen gefährdet, die eng mit westlichen Staaten zusammengearbeitet haben. Die Bundeswehr beschäftigt derzeit 59 Ortskräfte in Mali, die als Übersetzer*innen, aber auch als Berater*innen und Bindeglied zur Zivilgesellschaft im Land von großer Bedeutung sind. Ihre Arbeitsverträge, die zum Teil beispielhaft online einsehbar sind, offenbaren, dass es sich hier um Angestellte des deutschen Verteidigungsministeriums handelt – nur eben mit malischer Staatsangehörigkeit.
PRO ASYL unterzeichnete deshalb gemeinsam mit weiteren Organisationen – darunter PEN International, das Patenschaftsnetzwerk afghanische Ortskräfte, Amnesty International und diverse Übersetzervereinigungen, etwa der Bundesverband der Dolmetscher und Übersetzer – einen Offenen Brief. Er wurde Ende August an Bundesinnenministerin Nancy Faeser, Außenministerin Annalena Baerbock sowie Verteidigungsministerin Christine Lambrecht verschickt und fordert die Ministerien zu einer rechtzeitigen Aufnahme der 59 Bundeswehr-Ortskräfte und ihrer Familien auf. Die zivilen Dolmetscher und Kulturmittler*innen, die für die deutschen Truppen der UN-Mission MINUSMA tätig sind, »arbeiteten unter großem persönlichen Risiko für sich und ihre Familien«, heißt es in dem Offenen Brief. »Jetzt, mit dem Abzug der französischen Friedenstruppen und dem scheinbar unmittelbar bevorstehenden Abzug der Soldaten Ihres Landes steigt dieses Risiko exponentiell, da die regionale Volatilität und die Sicherheitsherausforderungen zunehmen.«
Für das Auswärtige Amt sind 16 Ortskräfte im Einsatz. Dazu kommen nach Recherchen der taz »noch weitere Ortskräfte für die GIZ, Ende 2021 waren es rund 300, aktuellere Zahlen sind nicht verfügbar«. Aus Sicht von PRO ASYL müssen auch diese Menschen bei einer Aufnahme berücksichtigt werden, denn bei einem weiteren Aufflammen der Kämpfe und Vormarsch der Extremisten droht ihnen und ihren Angehörigen Lebensgefahr.
Die Bundesregierung sieht keinen Grund, über Evakuierungen nachzudenken
Doch die Bundesregierung sieht keinen Anlass, tätig zu werden. »Wir gehen derzeit nicht davon aus, dass es eine übergeordnete Bedrohung, eine allgemeine Bedrohung gibt. Das ist etwas anderes als es in Afghanistan gewesen ist«, sagte ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums Mitte August. Er reagierte damit auf die Aussage eines Sprechers des Einsatzführungskommandos, der mit Blick auf eine etwaige Evakuierung der Ortskräfte in Mali im Falle eines Abzugs gesagt hatte: »Das setzt eine politische Entscheidung voraus. Und die liegt noch nicht vor.« Auch in der Bundespressekonferenz am 15. August wurde deutlich, dass die Bundesregierung Evakuierungspläne für die Ortskräfte für nicht notwendig erachtet. »Die Lage bei den lokal Beschäftigten in Mali lässt sich mit den Ortskräften in Afghanistan überhaupt nicht vergleichen«, hieß es vonseiten des Verteidigungsministeriums. Dessen Sprecher antwortete auf die Nachfrage eines Journalisten, ob es denn Vorbereitungen für eine Evakuierung dieser Ortskräfte gebe, sollte der Einsatz in Mali zu Ende gehen: »Es gibt derzeit überhaupt keinen Anlass, darüber zu reden.« Das wiederholte er mehrfach.
»Wir gehen derzeit nicht davon aus, dass es eine übergeordnete Bedrohung, eine allgemeine Bedrohung gibt. Das ist etwas anderes als es in Afghanistan gewesen ist«
Auf die Frage, ob es eine Liste mit gefährdeten Menschenrechtler*innen gäbe, führte eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes ausweichend aus: »Wir arbeiten eng mit den Projektpartnern zusammen. Aber (…) es geht in dieser Situation jetzt nicht um eine Evakuierung, sondern es geht darum, den Überblick zu haben, und den haben wir aktuell.« Die Frage, inwiefern für malische Ortskräfte humanitäre Visa und digitale Vergabeverfahren, wie sie die Bundesregierung im Koalitionsvertrag festgehalten hat, im Falle einer notwendigen Evakuierung möglich sein werden, blieb ebenso vage-unbeantwortet.
In Frankreich, das noch weitaus engere Beziehungen zu Mali hat als Deutschland, ist man da nicht weiter. Sowohl das Forum Réfugié als auch France Terre d’Asile – zwei französische Flüchtlingshilfsorganisationen – bestätigen auf Nachfrage, dass die Situation der malischen Ortskräfte auch in Frankreich bislang kein Thema sei.
Reform des Ortskräfteverfahrens steht noch immer aus
PRO ASYL ist besorgt, dass hier erneut die Gefährdungslage verkannt werden könnte. Wenngleich sich Mali und Afghanistan kaum miteinander vergleichen lassen, so steht doch fest, dass die Bundesregierung von der Machtübernahme der Taliban scheinbar vollkommen überrascht wurde und nicht vorbereitet war. Wer sagt, dass es im Falle Malis anders laufen wird? Der chaotische Abzug aus Kabul und die Bilder der verzweifelten Menschen, die zurückblieben und von denen viele immer noch auf ihre Evakuierung hoffen, dürfen sich nicht wiederholen.
Problematisch ist aus Sicht von PRO ASYL, dass eine dringend notwendige Reform des Ortskräfteverfahrens, wie sie von der Koalition angekündigt worden war, noch immer aussteht. Weiterhin zählt als Ortskraft nur, wer einen direkten deutschen Arbeitsvertrag in der Tasche hat – Subunternehmer*innen, die für deutsche Institutionen tätig waren, werden gar nicht erst berücksichtigt. Dabei liegt auf der Hand, dass islamistische Milizen sich nicht nach der Art deutscher Arbeitsverträge richten, sondern jene bedrohen, die für die »westlichen Besatzer« tätig waren. Auch die Definition, wer zur Kernfamilie einer Ortskraft gehört und demnach als gefährdet angesehen wird, gehört dringend erweitert und der Realität angepasst. »Die Zahl der tatsächlich durch ihre Tätigkeit für die deutsche Bundesregierung gefährdeten Malier:innen könnte also weitaus höher liegen, als sie die Bundesregierung angibt«, schreibt daher zurecht die taz.
Es muss verhindert werden, dass in dieser Situation die gleichen Fehler begangen werden wie im vergangenen Jahr in Afghanistan. Das sieht auch Eva Högl so, Wehrbeauftragte des Bundestages. Angesichts der Debatte um einen womöglich vorzeitigen Abzug der Bundeswehr aus Mali fordert sie, Lehren aus der verspäteten und nur teilweisen Rettung von Ortskräften aus Afghanistan zu ziehen.
Studie: Rettung von Ortskräften ist kein Gnadenakt, sondern rechtlich verpflichtend
Dass die Rettung von Ortskräften kein Gnadenakt ist, sondern juristisch gesehen eine Verpflichtung, zeigt eine Untersuchung der Human Rights Clinic der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Die in Kooperation mit PRO ASYL entstandene Expert Opinion macht deutlich, dass Staaten grundsätzlich verpflichtet sind, Menschen vor Übergriffen auf ihre Grund- oder Menschenrechte durch Dritte zu schützen, und dass ein Unterlassen eine Menschenrechtsverletzung darstellen kann. Wird Hoheitsgewalt außerhalb des eigenen Territoriums ausgeübt – zum Beispiel bei militärischen Einsätzen – bestehen auch hier menschenrechtliche Verpflichtungen, sogenannte »extraterritoriale Schutzpflichten«. Die Bundesregierung wird, so das Ergebnis der Studie, diesen Pflichten im Falle afghanischer Ortskräfte nicht gerecht. Das bisher bestehende Verfahren zur Aufnahme von Ortskräften nach § 22 Satz 2 Aufenthaltsgesetz wird nämlich als rein »politischer Wille« oder »humanitärer Akt« verstanden.
Die menschenrechtliche Verantwortung lässt sich jedoch – unabhängig von der deutschen Definition von Ortskräften – neben dem Grundgesetz aus der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie dem UN-Zivilpakt ableiten, so die Autor*innen der Studie (Kurzfassung hier). Diese Verantwortung umfasst alle Menschen, bei denen eine hinreichende Verbindung zu Deutschland entstanden ist und für die deswegen eine Gefährdung besteht.
Das lässt die Schlussfolgerung zu, dass sowohl afghanische als auch malische Ortskräfte, die für deutsche Institutionen tätig waren oder sind, einen Anspruch auf Schutz durch den deutschen Staat haben. Das aktuelle Verfahren zur Aufnahme von Ortskräften muss dringend reformiert werden, damit gefährdete Ortskräfte diesen Anspruch auch in der Praxis durchsetzen und im Notfall rechtlich einklagen können.
(er)