07.09.2022
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Bilder aus Mali von der deutschen Beteiligung an der United Nations Multidimensional Integrated Stabilization Mission (MINUSMA). Foto: Bundeswehr/Falk Bärwald

Wiederholt sich in Mali das Abzugsdebakel aus Afghanistan? Die Situation ist schwer vergleichbar, doch in dem westafrikanischen Land spitzt sich die Lage für lokales Personal der Bundeswehr zu. Die Bundesregierung sieht keinen Anlass, tätig zu werden. PRO ASYL fordert in einem Offenen Brief die Evakuierung von Ortskräften und ihren Familien.

In Mali bro­delt es – mit unge­wis­sem Aus­gang. Seit dem Mili­tär­putsch hat sich die Zusam­men­ar­beit zwi­schen der Regie­rung und west­li­chen Staa­ten zuse­hends ver­schlech­tert, was nun auch Fol­gen für die Orts­kräf­te haben könn­te. Mit­te August zogen die fran­zö­si­schen Trup­pen der Mili­tär­mis­si­on Barkha­ne ab. Die deut­schen Blauhelm-Soldat*innen sol­len zwar wei­ter­hin im Land blei­ben, doch die Bun­des­re­gie­rung hat die Bun­des­wehr­ope­ra­tio­nen im Rah­men der UN-Frie­dens­mis­si­on MINUSMA vor­läu­fig aus­ge­setzt. Die­se Aus­set­zung sei, so wird ver­mu­tet, letzt­lich der Ein­stieg in den Abzug der Bun­des­wehr aus Mali. Die UN-Mis­si­on MINUSMA ist seit 2013 in dem Sahel-Staat prä­sent und soll den Schutz der mali­schen Zivil­be­völ­ke­rung vor isla­mis­ti­schen Mili­zen sicher­stel­len. Der UN-Sicher­heits­rat ver­län­ger­te ihr Man­dat Ende Juni um ein wei­te­res Jahr. Mit etwa 1000 deut­schen Soldat*innen zählt Deutsch­land zu den größ­ten Truppenstellern.

1000

deut­sche Sol­da­ten im Einsatz

Gleich­zei­tig ist es der­zeit der gefähr­lichs­te Aus­lands­ein­satz der Bun­des­wehr. In Zen­tral- und Nord­ma­li sind loka­le auf­stän­di­sche Grup­pen, die mit Al-Qai­da und dem Isla­mi­schen Staat ver­bun­den sind, aktiv. Die Gewalt zwi­schen Isla­mis­ten, Armee und Mili­zen for­der­te laut Pres­se­be­rich­ten bereits vie­le Opfer – nicht nur Mili­tärs, son­dern auch Zivilist*innen. Zehn­tau­sen­de Men­schen sind vor den Kämp­fen in den Nord­os­ten des Lan­des geflo­hen; unter die­sen Bin­nen­flücht­lin­gen sind der Nach­rich­ten­agen­tur AFP zufol­ge rund 47.000 Min­der­jäh­ri­ge. Die Ver­ein­ten Natio­nen wer­fen auch der mali­schen Armee Mas­sa­ker an Zivilist*innen vor.

»Der Staat hat die Ver­fol­gung poli­ti­scher Geg­ner ver­schärft, der Raum für öffent­li­che Debat­ten schrumpft und die Online-Angrif­fe auf unab­hän­gi­ge Medi­en neh­men zu.«

Länderexpert*innen über die Lage in Mali im Mai 2022

Die Inter­na­tio­nal Cri­sis Group, die Kon­flik­te und Krie­ge in aller Welt beob­ach­tet und früh­zei­tig doku­men­tiert, warn­te schon im Juni vor einer Ver­schlech­te­rung der Lage in Mali. Und bereits im Mai ana­ly­sier­ten die Länderexpert*innen die Lage in Mali wie folgt: »Der Staat hat die Ver­fol­gung poli­ti­scher Geg­ner ver­schärft, der Raum für öffent­li­che Debat­ten schrumpft und die Online-Angrif­fe auf unab­hän­gi­ge Medi­en neh­men zu. (…) Der bevor­ste­hen­de Abzug der Barkha­ne- und Taku­ba-Kräf­te könn­te dazu füh­ren, dass dschi­ha­dis­ti­sche Grup­pen ihre Ope­ra­tio­nen oppor­tu­nis­tisch aus­wei­ten, wäh­rend die UN-Trup­pe geschwächt wird, da sie bis­her auf Luft­un­ter­stüt­zung sowie auf medi­zi­ni­sche und logis­ti­sche Unter­stüt­zung durch die Fran­zo­sen ange­wie­sen war. (…) Es gibt auch Anzei­chen für ein zuneh­men­des poli­ti­sches Durch­grei­fen. Die Jus­tiz hat Oppo­si­ti­ons­füh­rer ver­haf­tet oder Ver­fah­ren gegen sie eingeleitet.«

PRO ASYL unterzeichnet Offenen Brief zur Rettung der malischen Ortskräfte

In einer sol­chen Situa­ti­on sind beson­ders jene Men­schen gefähr­det, die eng mit west­li­chen Staa­ten zusam­men­ge­ar­bei­tet haben. Die Bun­des­wehr beschäf­tigt der­zeit 59 Orts­kräf­te in Mali, die als Übersetzer*innen, aber auch als Berater*innen und Bin­de­glied zur Zivil­ge­sell­schaft im Land von gro­ßer Bedeu­tung sind. Ihre Arbeits­ver­trä­ge, die zum Teil bei­spiel­haft online ein­seh­bar sind, offen­ba­ren, dass es sich hier um Ange­stell­te des deut­schen Ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­ri­ums han­delt – nur eben mit mali­scher Staatsangehörigkeit.

PRO ASYL unter­zeich­ne­te des­halb gemein­sam mit wei­te­ren Orga­ni­sa­tio­nen – dar­un­ter PEN Inter­na­tio­nal, das Paten­schafts­netz­werk afgha­ni­sche Orts­kräf­te, Amnes­ty Inter­na­tio­nal und diver­se Über­set­zer­ver­ei­ni­gun­gen, etwa der Bun­des­ver­band der Dol­met­scher und Über­set­zer – einen Offe­nen Brief. Er wur­de Ende August an Bun­des­in­nen­mi­nis­te­rin Nan­cy Fae­ser, Außen­mi­nis­te­rin Anna­le­na Baer­bock sowie Ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­rin Chris­ti­ne Lam­brecht ver­schickt und for­dert die Minis­te­ri­en zu einer recht­zei­ti­gen Auf­nah­me der 59 Bun­des­wehr-Orts­kräf­te und ihrer Fami­li­en auf. Die zivi­len Dol­met­scher und Kulturmittler*innen, die für die deut­schen Trup­pen der UN-Mis­si­on MINUSMA tätig sind, »arbei­te­ten unter gro­ßem per­sön­li­chen Risi­ko für sich und ihre Fami­li­en«, heißt es in dem Offe­nen Brief. »Jetzt, mit dem Abzug der fran­zö­si­schen Frie­dens­trup­pen und dem schein­bar unmit­tel­bar bevor­ste­hen­den Abzug der Sol­da­ten Ihres Lan­des steigt die­ses Risi­ko expo­nen­ti­ell, da die regio­na­le Vola­ti­li­tät und die Sicher­heits­her­aus­for­de­run­gen zunehmen.«

Für das Aus­wär­ti­ge Amt sind 16 Orts­kräf­te im Ein­satz. Dazu kom­men nach Recher­chen der taz »noch wei­te­re Orts­kräf­te für die GIZ, Ende 2021 waren es rund 300, aktu­el­le­re Zah­len sind nicht ver­füg­bar«. Aus Sicht von PRO ASYL müs­sen auch die­se Men­schen bei einer Auf­nah­me berück­sich­tigt wer­den, denn bei einem wei­te­ren Auf­flam­men der Kämp­fe und Vor­marsch der Extre­mis­ten droht ihnen und ihren Ange­hö­ri­gen Lebensgefahr.

Die Bundesregierung sieht keinen Grund, über Evakuierungen nachzudenken

Doch die Bun­des­re­gie­rung sieht kei­nen Anlass, tätig zu wer­den. »Wir gehen der­zeit nicht davon aus, dass es eine über­ge­ord­ne­te Bedro­hung, eine all­ge­mei­ne Bedro­hung gibt. Das ist etwas ande­res als es in Afgha­ni­stan gewe­sen ist«, sag­te ein Spre­cher des Bun­des­ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­ri­ums Mit­te August. Er reagier­te damit auf die Aus­sa­ge eines  Spre­chers des Ein­satz­füh­rungs­kom­man­dos, der mit Blick auf eine etwa­ige Eva­ku­ie­rung der Orts­kräf­te in Mali im Fal­le eines Abzugs gesagt hat­te: »Das setzt eine poli­ti­sche Ent­schei­dung vor­aus. Und die liegt noch nicht vor.« Auch in der Bun­des­pres­se­kon­fe­renz am 15. August wur­de deut­lich, dass die Bun­des­re­gie­rung Eva­ku­ie­rungs­plä­ne für die Orts­kräf­te für nicht not­wen­dig erach­tet. »Die Lage bei den lokal Beschäf­tig­ten in Mali lässt sich mit den Orts­kräf­ten in Afgha­ni­stan über­haupt nicht ver­glei­chen«, hieß es von­sei­ten des Ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­ri­ums. Des­sen Spre­cher ant­wor­te­te auf die Nach­fra­ge eines Jour­na­lis­ten, ob es denn Vor­be­rei­tun­gen für eine Eva­ku­ie­rung die­ser Orts­kräf­te gebe, soll­te der Ein­satz in Mali zu Ende gehen: »Es gibt der­zeit über­haupt kei­nen Anlass, dar­über zu reden.« Das wie­der­hol­te er mehrfach.

»Wir gehen der­zeit nicht davon aus, dass es eine über­ge­ord­ne­te Bedro­hung, eine all­ge­mei­ne Bedro­hung gibt. Das ist etwas ande­res als es in Afgha­ni­stan gewe­sen ist«

Spre­cher des Bun­des­ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­ri­ums im August 2022

Auf die Fra­ge, ob es eine Lis­te mit gefähr­de­ten Menschenrechtler*innen gäbe, führ­te eine Spre­che­rin des Aus­wär­ti­gen Amtes aus­wei­chend aus: »Wir arbei­ten eng mit den Pro­jekt­part­nern zusam­men. Aber (…) es geht in die­ser Situa­ti­on jetzt nicht um eine Eva­ku­ie­rung, son­dern es geht dar­um, den Über­blick zu haben, und den haben wir aktu­ell.« Die Fra­ge, inwie­fern für mali­sche Orts­kräf­te huma­ni­tä­re Visa und digi­ta­le Ver­ga­be­ver­fah­ren, wie sie die Bun­des­re­gie­rung im Koali­ti­ons­ver­trag fest­ge­hal­ten hat, im Fal­le einer not­wen­di­gen Eva­ku­ie­rung mög­lich sein wer­den, blieb eben­so vage-unbeantwortet.

In Frank­reich, das noch weit­aus enge­re Bezie­hun­gen zu Mali hat als Deutsch­land, ist man da nicht wei­ter. Sowohl das Forum Réfu­gié als auch France Terre d’Asile – zwei fran­zö­si­sche Flücht­lings­hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen – bestä­ti­gen auf Nach­fra­ge, dass die Situa­ti­on der mali­schen Orts­kräf­te auch in Frank­reich bis­lang kein The­ma sei.

Reform des Ortskräfteverfahrens steht noch immer aus

PRO ASYL ist besorgt, dass hier erneut die Gefähr­dungs­la­ge ver­kannt wer­den könn­te. Wenn­gleich sich Mali und Afgha­ni­stan kaum mit­ein­an­der ver­glei­chen las­sen, so steht doch fest, dass die Bun­des­re­gie­rung von der Macht­über­nah­me der Tali­ban schein­bar voll­kom­men über­rascht wur­de und nicht vor­be­rei­tet war. Wer sagt, dass es im Fal­le Malis anders lau­fen wird? Der chao­ti­sche Abzug aus Kabul und die Bil­der der ver­zwei­fel­ten Men­schen, die zurück­blie­ben und von denen vie­le immer noch auf ihre Eva­ku­ie­rung hof­fen, dür­fen sich nicht wiederholen.

Pro­ble­ma­tisch ist aus Sicht von PRO ASYL, dass eine drin­gend not­wen­di­ge Reform des Orts­kräf­te­ver­fah­rens, wie sie von der Koali­ti­on ange­kün­digt wor­den war, noch immer aus­steht. Wei­ter­hin zählt als Orts­kraft nur, wer einen direk­ten deut­schen Arbeits­ver­trag in der Tasche hat – Subunternehmer*innen, die für deut­sche Insti­tu­tio­nen tätig waren, wer­den gar nicht erst berück­sich­tigt. Dabei liegt auf der Hand, dass isla­mis­ti­sche Mili­zen sich nicht nach der Art deut­scher Arbeits­ver­trä­ge rich­ten, son­dern jene bedro­hen, die für die »west­li­chen Besat­zer« tätig waren. Auch die Defi­ni­ti­on, wer zur Kern­fa­mi­lie einer Orts­kraft gehört und dem­nach als gefähr­det ange­se­hen wird, gehört drin­gend erwei­tert und der Rea­li­tät ange­passt. »Die Zahl der tat­säch­lich durch ihre Tätig­keit für die deut­sche Bun­des­re­gie­rung gefähr­de­ten Ma­lie­r:in­nen könn­te also weit­aus höher lie­gen, als sie die Bun­des­re­gie­rung angibt«, schreibt daher zurecht die taz.

Es muss ver­hin­dert wer­den, dass in die­ser Situa­ti­on die glei­chen Feh­ler began­gen wer­den wie im ver­gan­ge­nen Jahr in Afgha­ni­stan. Das sieht auch Eva Högl so, Wehr­be­auf­trag­te des Bun­des­ta­ges. Ange­sichts der Debat­te um einen womög­lich vor­zei­ti­gen Abzug der Bun­des­wehr aus Mali for­dert sie, Leh­ren aus der ver­spä­te­ten und nur teil­wei­sen Ret­tung von Orts­kräf­ten aus Afgha­ni­stan zu ziehen.

Studie: Rettung von Ortskräften ist kein Gnadenakt, sondern rechtlich verpflichtend 

Dass die Ret­tung von Orts­kräf­ten kein Gna­den­akt ist, son­dern juris­tisch gese­hen eine Ver­pflich­tung, zeigt eine Unter­su­chung der Human Rights Cli­nic der Fried­rich-Alex­an­der-Uni­ver­si­tät Erlan­gen-Nürn­berg. Die in Koope­ra­ti­on mit PRO ASYL ent­stan­de­ne Expert Opi­ni­on macht deut­lich, dass Staa­ten grund­sätz­lich ver­pflich­tet sind, Men­schen vor Über­grif­fen auf ihre Grund- oder Men­schen­rech­te durch Drit­te zu schüt­zen, und dass ein Unter­las­sen eine Men­schen­rechts­ver­let­zung dar­stel­len kann. Wird Hoheits­ge­walt außer­halb des eige­nen Ter­ri­to­ri­ums aus­ge­übt – zum Bei­spiel bei mili­tä­ri­schen Ein­sät­zen – bestehen auch hier men­schen­recht­li­che Ver­pflich­tun­gen, soge­nann­te »extra­ter­ri­to­ria­le Schutz­pflich­ten«. Die Bun­des­re­gie­rung wird, so das Ergeb­nis der Stu­die, die­sen Pflich­ten im Fal­le afgha­ni­scher Orts­kräf­te nicht gerecht. Das bis­her bestehen­de Ver­fah­ren zur Auf­nah­me von Orts­kräf­ten nach § 22 Satz 2 Auf­ent­halts­ge­setz wird näm­lich als rein »poli­ti­scher Wil­le« oder »huma­ni­tä­rer Akt« verstanden.

Die men­schen­recht­li­che Ver­ant­wor­tung lässt sich jedoch – unab­hän­gig von der deut­schen Defi­ni­ti­on von Orts­kräf­ten – neben dem Grund­ge­setz aus der Euro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on sowie dem UN-Zivil­pakt ablei­ten, so die Autor*innen der Stu­die (Kurz­fas­sung hier). Die­se Ver­ant­wor­tung umfasst alle Men­schen, bei denen eine hin­rei­chen­de Ver­bin­dung zu Deutsch­land ent­stan­den ist und für die des­we­gen eine Gefähr­dung besteht.

Das lässt die Schluss­fol­ge­rung zu, dass sowohl afgha­ni­sche als auch mali­sche Orts­kräf­te, die für deut­sche Insti­tu­tio­nen tätig waren oder sind, einen Anspruch auf Schutz durch den deut­schen Staat haben. Das aktu­el­le Ver­fah­ren zur Auf­nah­me von Orts­kräf­ten muss drin­gend refor­miert wer­den, damit gefähr­de­te Orts­kräf­te die­sen Anspruch auch in der Pra­xis durch­set­zen und im Not­fall recht­lich ein­kla­gen können.

(er)