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SYMBOLBILD. Foto: picture alliance / dpa | Felix Hörhager

Eine junge Frau wird im Februar 2025 aus ihrer Flüchtlingsunterkunft geworfen, sämtliche Sozialleistungen werden gestrichen. Doch ein Sozialgericht kassiert das wieder ein. Weitere Eilbeschlüsse von Gerichten machen deutlich: Die von der Ampelregierung eingeführte Leistungsstreichung ist ein Verstoß gegen Grundgesetz und Europarecht.

Mit­te Febru­ar setzt eine der reichs­ten Kom­mu­nen Deutsch­lands eine jun­ge, geflüch­te­te Frau bei Minus­tem­pe­ra­tu­ren auf die Stra­ße. Sämt­li­che Sozi­al­leis­tun­gen wer­den ihr ent­zo­gen, sogar Rück­for­de­run­gen gestellt – weil Kroa­ti­en für ihr Asyl­ver­fah­ren zustän­dig sei. PRO ASYL ver­stän­digt eine Anwäl­tin, die beim Sozi­al­ge­richt umge­hend gegen den Beschluss der Stadt vor­geht. Ange­sichts der akut dro­hen­den Obdach­lo­sig­keit der jun­gen Frau ent­schei­det das Sozi­al­ge­richt Karls­ru­he bin­nen weni­ger Stun­den. Am 19.2.2025 erklärt es mit deut­li­chen Wor­ten, dass es den Leis­tungs­aus­schluss sowohl für ver­fas­sungs- als auch für euro­pa­rechts­wid­rig hält (S 12 AY 424/25 ER). Nach dem Rich­ter­spruch kann die jun­ge Frau in die Unter­kunft zurückkehren.

Der Fall ist aber kein Aus­rut­scher, son­dern Ergeb­nis des Ver­suchs der Ampel­re­gie­rung, größt­mög­li­che Här­te gegen Flücht­lin­ge zu demons­trie­ren. Die Stra­te­gie, auf­grund  popu­lis­ti­scher For­de­run­gen von Rechts­extre­men men­schen­feind­li­che und recht­lich unhalt­ba­re Geset­ze durch­zu­set­zen, ist jetzt mehr­fach geschei­tert – recht­lich, aber auch poli­tisch, wie das unge­brems­te Erstar­ken der Rechts­extre­men bei der Bun­des­tags­wahl zeigt. Leid­tra­gen­de sind die­je­ni­gen, die sich für ihr schie­res Über­le­ben – etwas zu Essen und ein Dach über dem Kopf – nun ein­zeln Hil­fe bei Bera­tungs­stel­len, in Kanz­lei­en und letzt­lich vor Gerich­ten holen müssen.

Der Fall ist kein Aus­rut­scher, son­dern Ergeb­nis des Ver­suchs der Ampel­re­gie­rung, größt­mög­li­che Här­te gegen Flücht­lin­ge zu demonstrieren.

Die Leistungsstreichung im »Sicherheitspaket«

Hin­ter­grund des beschrie­be­nen Falls ist eine Rege­lung aus dem so genann­ten Sicher­heits­pa­ket, einem Gesetz, das am 31. Okto­ber 2024 in Kraft getre­ten ist. Der neue § 1 Abs. 4 Asyl­bLG ver­langt von den Behör­den, aus­rei­se­pflich­ti­gen Men­schen im Dub­lin-Ver­fah­ren (dem euro­päi­schen Asyl-Zustän­dig­keits­ver­fah­ren) jeg­li­che Unter­stüt­zungs­leis­tun­gen zu ent­zie­hen. Ledig­lich für eine Frist von zwei Wochen und in eng begrenz­ten Aus­nah­me­fäl­len  sol­len bestimm­te Leis­tun­gen noch erbracht wer­den dür­fen. Regel­mä­ßig aber lau­tet die gesetz­li­che For­de­rung: Null staat­li­che Hilfe.

Begrün­det wird die Strei­chung von Sozi­al­leis­tun­gen damit, dass Betrof­fe­ne ihr Asyl­ver­fah­ren in dem für sie zustän­di­gen euro­päi­schen Land füh­ren müs­sen. Die Crux dabei: Die Betrof­fe­nen kön­nen zumeist gar nicht ohne Wei­te­res ihren Auf­ent­halts­ort wech­seln. Zwar sind frei­wil­li­ge Aus­rei­sen nach der Dub­lin-Ver­ord­nung grund­sätz­lich mög­lich. Aber die Behör­den bei­der Staa­ten müs­sen dem zustim­men bzw. dies mit­or­ga­ni­sie­ren. Nach gel­ten­der Dienst­an­wei­sung vom 12.12.2024 stimmt das BAMF frei­wil­li­gen Aus­rei­sen „nur in Aus­nah­me­fäl­len“ zu.

Hin­zu kommt in vie­len Fäl­len, dass eini­ge euro­päi­sche Staa­ten (wie etwa Ita­li­en oder Grie­chen­land) kein Inter­es­se an der Auf­nah­me von Dub­lin-Fäl­len haben – eben­so wenig wie an ihrer men­schen­wür­di­gen Ver­sor­gung. Die betrof­fe­nen Geflüch­te­ten wie­der­um haben häu­fig Angst vor der Rück­kehr in die zustän­di­gen Staa­ten, weil sie dort (Polizei-)Gewalt erfah­ren haben oder ohne jeg­li­che Unter­stüt­zung zu ver­elen­den dro­hen (ein beson­ders dras­ti­sches Bei­spiel ist etwa Bul­ga­ri­en). Dass nun auch Deutsch­land ver­sucht, eine men­schen­wür­di­ge Ver­sor­gung von Geflüch­te­ten ein­fach zu ver­wei­gern, wird das euro­päi­sche Elend nicht besei­ti­gen und es für die davon Betrof­fe­nen nur noch schlim­mer machen.

Die gesetzliche Bruchlandung war absehbar

In Deutsch­land gilt noch immer das Grund­ge­setz und das euro­päi­sche Recht – mit dem Grund­satz der Wür­de eines jeden Men­schen. Über­ra­schend kommt die Ent­schei­dung des Sozi­al­ge­richts Karls­ru­he und eini­ger ande­rer Gerich­te des­halb nicht. Die Bruch­lan­dung der gesetz­li­chen Neu­re­ge­lung war absehbar.

Bereits in der Sach­ver­stän­di­gen­an­hö­rung des Bun­des­tags zum Sicher­heits­pa­ket hat­ten Expert*innen die Ampel-Regie­rung vor der voll­stän­di­gen Leis­tungs­strei­chung gewarnt. Neben PRO ASYL äußer­ten etwa Dr. Phil­ipp Witt­mann (Rich­ter am VGH Baden-Würt­tem­berg) oder Sarah Lin­coln (Gesell­schaft für Frei­heits­rech­te) erheb­li­che euro­pa- und ver­fas­sungs­recht­li­che Beden­ken an der Leistungsstreichung.

Die War­nun­gen der Expert*innen ver­hall­ten jedoch weit­ge­hend unge­hört. Im Kern blieb es beim voll­stän­di­gen Leistungsausschluss.

Kein Einzelfall: Gerichte kassieren die Entscheidungen von Sozialämtern

Bereits mehr­fach haben Sozi­al­äm­ter in den ver­gan­ge­nen Mona­ten mit Bezug auf die Neu­re­ge­lung Kür­zun­gen für Geflüch­te­te beschlos­sen, die von Gerich­ten im Anschluss aus­nahms­los abge­schmet­tert wurden.

Nach Auf­fas­sung des Sozi­al­ge­richts Spey­er (20.02.2024 – S 15 AY 5/25 ER) ver­stößt die Leis­tungs­strei­chung gegen die Ver­fas­sung.  Am 17.12.2024 mach­te das Sozi­al­ge­richt Nürn­berg klar, dass es die Norm mit dem Euro­pa­recht nicht für ver­ein­bar hält (rich­ter­li­cher Hin­weis S 17 AY 68/24 ER). Ähn­li­che Zwei­fel an der Ver­ein­bar­keit des Leis­tungs­ent­zugs mit Euro­päi­schem Recht äußer­ten die Sozi­al­ge­rich­te in Lands­hut (18.12.2024 – S 11 AY 19/24 ER), Osna­brück (18.12.2024 – S 44 AY 25/24 ER), Darm­stadt (04.02.2025 – S 16 AY 2/25 ER) und Trier (20.02.2025 – S 3 AY 4/25 ER).

Die Leis­tungs­kür­zun­gen der Behör­den schei­ter­ten in die­sen recht­li­chen Ver­fah­ren aller­dings oft schon an einem ein­fa­chen Punkt: So bemän­gel­ten meh­re­re Gerich­te, dass das Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) in den betref­fen­den Fäl­len nicht fest­ge­stellt hat­te, dass die Aus­rei­se in den zustän­di­gen EU-Staat recht­lich und tat­säch­lich mög­lich sei – genau dies ist aber die Vor­aus­set­zung für die Anwen­dung von § 1 Abs.4 Asyl­bLG. Inzwi­schen berei­tet sich das BAMF offen­bar dar­auf vor, rei­hen­wei­se ent­spre­chen­de Fest­stel­lun­gen in den Beschei­den zu tref­fen. Vor dem Hin­ter­grund der Tat­sa­che, dass vie­len Geflüch­te­ten der Weg in eine men­schen­wür­di­ge Ver­sor­gung im zustän­di­gen Dub­lin-Staat trotz die­ser Behaup­tung eben nicht umge­hend mög­lich ist, dürf­te sich an den grund­sätz­li­chen ver­fas­sungs- und euro­pa­recht­li­chen Zwei­feln der Gerich­te nichts ändern.

Die verfassungs- und europarechtliche Kritik 

Der ers­te Arti­kel des Grund­ge­set­zes (Men­schen­wür­de) garan­tiert in Ver­bin­dung mit Arti­kel 20 (Sozi­al­staats­prin­zip) ein men­schen­wür­di­ges Exis­tenz­mi­ni­mum für jeden ein­zel­nen Men­schen, der sich in Deutsch­land auf­hält. Der Mensch ist ein sozia­les Wesen. Des­halb gehört zu einer men­schen­wür­di­gen Exis­tenz nach der Recht­spre­chung des Ver­fas­sungs­ge­richts  nicht nur das nack­te Über­le­ben, die rein phy­si­sche Exis­tenz  (»Bett, Brot, Sei­fe«), son­dern auch die Siche­rung der sozio­kul­tu­rel­len Exis­tenz – das häu­fig so genann­te »Taschen­geld« für per­sön­li­che Bedar­fe (Han­dy, Bücher, Fahr­kar­ten, etc.). Eine Kür­zung am men­schen­wür­di­gen Exis­tenz­mi­ni­mum wäre nur erlaubt, wenn der Gesetz­ge­ber nach­wei­sen könn­te, dass die betrof­fe­nen Men­schen tat­säch­lich weni­ger brau­chen als ande­re Men­schen. Einen sol­chen Nach­weis hat die Regie­rung, kaum über­ra­schend, seit dem maß­geb­li­chen und weg­wei­sen­den Urteil des Ver­fas­sungs­ge­richts 2012 nicht erbrin­gen kön­nen. Auch die Pra­xis der blo­ßen Kür­zung (nicht voll­stän­di­ger Strei­chung) von Asyl­be­wer­ber­leis­tun­gen steht des­halb seit lan­gem in der Kri­tik, ver­fas­sungs­wid­rig zu sein.

Das oben erwähn­te SG Karls­ru­he nimmt auf die Recht­spre­chung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts in einem wei­te­ren Punkt Bezug: Da die Rege­lung aus dem Sicher­heits­pa­ket »Ein­rei­se­an­rei­ze ver­mei­den und zur Aus­rei­se aus Deutsch­land moti­vie­ren soll«, sei der voll­stän­di­ge Leis­tungs­aus­schluss »erst recht ver­fas­sungs­wid­rig, denn selbst blo­ße Leis­tungs­ab­sen­kun­gen sind [laut Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt] nicht mit migra­ti­ons­po­li­ti­schen Erwä­gun­gen zu recht­fer­ti­gen.« (S 12 AY 424/25 ER) Das bedeu­tet: Es ist ver­bo­ten zu ver­su­chen, Men­schen durch Leis­tungs­ent­zug zur Aus­rei­se zu zwingen.

Euro­pa­recht­lich sehen die Gerich­te in der voll­stän­di­gen Leis­tungs­strei­chung des neu­en § 1 Abs. 4 Asyl­bLG für Dub­lin-Fäl­le eine Ver­let­zung der euro­pa­recht­li­chen Rege­lun­gen über Min­dest­stan­dards der Ver­sor­gung wäh­rend des Asyl­ver­fah­rens – die so genann­te Auf­nah­me­richt­li­nie (EURL 2013/33). Sie garan­tiert eine Min­dest­ver­sor­gung, von der nur in bestimm­ten Fäl­len abge­wi­chen wer­den darf – die blo­ße Asyl­zu­stän­dig­keit eines ande­ren Staats gehört nicht dazu. Auch mit Blick auf die neue EU-Auf­nah­me­richt­li­nie, die 2026 in Kraft tritt, gibt es bereits fun­dier­te recht­lich begrün­de­te Zwei­fel an der Leistungsstreichung.

Das Sozi­al­ge­richt in Nürn­berg ver­weist dar­auf, dass schon die Ver­ein­bar­keit der Vor­läu­fer­re­ge­lung (§ 1a Abs. 7 Asyl­bLG) mit dem EU-Recht akut in Fra­ge steht: Im Juli 2024 hat näm­lich das Bun­des­so­zi­al­ge­richt die­se Rege­lung dem Euro­päi­schen Gerichts­hof vor­ge­legt (Vor­la­ge­be­schluss des BSG vom 25.07.2024 – B 8 AY 6/23 R). Dabei sieht die im Ver­dacht des EU-Rechts­wid­rig­keit ste­hen­de, alte Rege­lung »nur« gekürz­te Leis­tun­gen, nicht ein­mal die voll­stän­di­ge Leis­tungs­strei­chung vor.

Kaum Leistungsstreichungen in der Praxis

Das Sozi­al­ge­richt Osna­brück weist in sei­nem Beschluss dar­auf hin, dass deut­sche Gerich­te Nor­men, die euro­pa­rechts­wid­rig sind, unan­ge­wen­det las­sen müs­sen, auch wenn es (noch) kei­ne Vor­la­ge ans BVerfG oder den EuGH gibt. Die­se Ver­pflich­tung gilt auch für rechts­an­wen­den­de Behör­den und ergibt sich aus der EuGH-Recht­spre­chung, wie Prof. Con­stan­tin Hrusch­ka in sei­nem Text zur Uni­ons­rechts­wid­rig­keit der Leis­tungs­strei­chung im Dub­lin-Ver­fah­ren erklärt.

Grund­sätz­lich wären alle Behör­den gut bera­ten, men­schen­recht­li­che, ver­fas­sungs­recht­li­che und euro­pa­recht­li­che Vor­ga­ben zu ach­ten und sich nicht in zahl­lo­sen über­flüs­si­gen, auf­wän­di­gen Gerichts­ver­fah­ren kor­ri­gie­ren zu lassen.

Das mag ein Grund dafür sein, dass die völ­li­ge Leis­tungs­strei­chung wie im ein­gangs geschil­der­ten Fall aus Baden-Würt­tem­berg seit dem Inkraft­tre­ten des Sicher­heits­pa­kets nur sel­ten erfolgt ist. Das Land Rhein­land-Pfalz etwa schreibt den Behör­den auf­grund einer »ver­fas­sungs- und euro­pa­recht­lich not­wen­di­gen zeit­li­chen Aus­deh­nung« ein Min­dest­maß an Leis­tun­gen für alle betrof­fe­nen Per­so­nen bis zur tat­säch­li­chen Aus­rei­se vor.

Ande­re Län­der ver­mei­den den Raus­wurf von Geflüch­te­ten im Dub­lin-Ver­fah­ren aus ihrer Unter­kunft schlicht des­halb, weil die Kom­mu­nen die betref­fen­den Men­schen dann aus sicher­heits- bzw. ord­nungs­po­li­ti­schen Grün­den unter­brin­gen müssten.

Grund­sätz­lich wären alle Behör­den gut bera­ten, men­schen­recht­li­che, ver­fas­sungs­recht­li­che und euro­pa­recht­li­che Vor­ga­ben zu ach­ten und sich nicht in zahl­lo­sen über­flüs­si­gen, auf­wän­di­gen Gerichts­ver­fah­ren kor­ri­gie­ren zu las­sen. Die künf­ti­ge Bun­des­re­gie­rung soll­te dar­aus ler­nen, lie­ber gleich gewis­sen­haft auf Grund- und Euro­pa­recht zu ach­ten und gar nicht erst recht­lich frag­wür­di­ge Geset­ze zu ver­ab­schie­den. Denn dass die ent­spre­chen­de Rege­lung aus dem Sicher­heits­pa­ket künf­tig Bestand haben wird, darf inzwi­schen ein­mal mehr ange­zwei­felt werden.

(ak)