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Neuer Bericht zur Istanbul Konvention: Geflüchtete Frauen bleiben oft schutzlos vor Gewalt
Zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen veröffentlicht das Bündnis Istanbul Konvention (BIK) einen Bericht zur Lage. Seine Erkenntnisse im Bereich Asyl und Migration machen deutlich: Das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) wird die Situation von geflüchteten Frauen verschärfen und ihr Recht auf ein Leben frei von Gewalt konterkarieren.
Mit der sogenannten Istanbul-Konvention (kurz für »Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt«) hat sich die Bundesrepublik zum umfassenden Schutz aller Frauen vor Gewalt verpflichtet. Deutschland hatte das Übereinkommen von 2011 im Jahr 2017 ratifiziert, seit 2023 gilt es uneingeschränkt. Aber wie ist es tatsächlich um den Schutz aller Frauen in Deutschland bestellt? Das Bündnis Istanbul-Konvention (BIK), in dem PRO ASYL mitarbeitet, hat nach seiner ersten Bestandsaufnahme 2021 nun einen neuen Bericht zur Umsetzung des Übereinkommens vorgelegt. Darin analysiert es umfassend die Strukturen für den Gewaltschutz von Frauen in Deutschland. Das zusammenfassende Forderungspapier enthält unter anderem Empfehlungen zur Finanzierung von Gewaltschutzstrukturen wie Frauenhäusern, zur diskriminierungsfreien Umsetzung und zu Strategie und Monitoring der Istanbul Konvention.
Auf einigen Seiten des rund 124 starken Berichts kritisiert das BIK anhaltende und sogar wachsende Defizite im Bereich des Asyl- und Migrationsrechts (siehe dazu Seite 9 ff. des Berichts). Die wesentlichen Entwicklungen für geflüchtete Frauen stellen wir im Folgenden dar.
GEAS: Neue Härte statt Schutz vor Gewalt
Seit Jahren werden benachteiligte und diskriminierte Gruppen wie geflüchtete Frauen und Mädchen bei der Umsetzung des Gewaltschutzverpflichtungen von Politik und Verwaltung vernachlässigt. Die Istanbul-Konvention verlangt aber einen diskriminierungsfreien Schutz vor Gewalt. Künftig gelten die Asylregeln des reformierten Europäischen Asylsystems (GEAS) deren Umsetzung in das deutsche Recht sich derzeit im parlamentarischen Verfahren als GEAS-Anpassungsgesetz befindet. Fest steht schon jetzt: Der Schutz von geflüchteten Frauen vor Gewalt wird sich nicht nur nicht verbessern, sondern erheblich verschlechtern – GEAS selbst ist dabei Teil des Problems.
Die GEAS-Reform, die 2026 in Kraft tritt, sieht unter anderem vor:
- Haftähnliche Grenzunterbringung für Asylsuchende: Die geplanten europäischen Großlager hinter Stacheldraht mit Ausgangsverbot werfen die Frage auf: Wie können Frauen (beziehungsweise besonders vulnerable Personen), die Gewalt erlitten haben, traumatisiert, krank oder besonders schutzbedürftig sind, unter solchen Umständen leben, ohne weiteren Schaden zu nehmen? Denn Frauen und Kinder werden hier in strukturell gewaltvolle Verhältnisse gezwungen – und darüber hinaus der Gefahr ausgesetzt, erneut Opfer von Gewalt durch andere Personen zu werden.
- Asyl-Schnellverfahren für einen erheblichen Teil der Asylsuchenden: Solche Verfahren lassen den Betroffenen kaum Zeit, Gewalterfahrungen zu offenbaren, und setzen die Schwelle, erlittene oder drohende Gewalt gegenüber den Behörden zu dokumentieren, noch einmal deutlich höher als in einem regulären Asylverfahren. Die Chancen für Frauen, in einem solchen System gut beraten zu werden, Mut zu fassen und schließlich überzeugend darzulegen, was ihnen angetan wurde, sinken drastisch – und damit auch die Chance auf Schutz in Deutschland. Ein »gendersensibles« Asylverfahren, wie es die Istanbul-Konvention verlangt, ist unter solchen Bedingungen unmöglich.
- Abschiebungen in so genannte »sichere Drittstaaten«: Das erneuerte europäische Asylsystem ermöglicht mit Abschiebungen in so genannte »sichere Drittstaaten« ohne vorherige Asylprüfung, dass sich die europäischen Staaten jeder Verantwortung für schutzsuchende Menschen entledigen können. Wenn ohne hinzuhören abgeschoben wird, bleibt vieles auf der Strecke – auch der Gewaltschutz von Frauen.
Das unter GEAS geplante Grenzregime konterkariert die Ansprüche geflüchteter Frauen nach der Istanbul Konvention.
Erkennung besonderer Schutzbedarfe?
Zwar ist nach GEAS die Erkennung von »besonderen Schutzbedarfen« per Screening vorgesehen – also inwiefern eine Person Hilfe und Unterstützung braucht bei Behinderung, eines Traumas oder auch aufgrund einer Gewalterfahrung. Dass ein solches Screening wirksam durchgeführt wird, ist aber zweifelhaft: In Deutschland soll nach den Regierungsplänen die Bundespolizei, im Landesinnern möglicherweise auch die Landespolizeien das erste Screening und eine Identifizierung von vulnerablen Personen übernehmen. Eine zuverlässige Erkennung von Schutzbedarfen ist so auch unter GEAS nicht zu erwarten. Zudem hat das Screening keine verbindlichen Konsequenzen. Somit können sogar Frauen mit ihren Kindern in De-facto-Haft landen. Aus Gewaltschutzperspektive ist das in keiner Weise zu rechtfertigen.
Freiheitsbeschränkungen: Gefangen im »Schutzraum«?
Auch die bereits existierenden Unterbringungsbedingungen von geflüchteten Frauen und Mädchen in Gemeinschaftsunterkünften im Bundesgebiet sind vielerorts mit Mängeln behaftet – an diesem Befund hat sich in den vergangenen Jahren nicht viel geändert. Leitlinien zur Identifizierung besonders schutzbedürftiger Personen sowie Gewaltschutzkonzepte existieren nicht flächendeckend und sind in vielen Fällen nicht verbindlich. Wenn geflüchtete Frauen vor Gewalt in besondere Schutzräume, insbesondere Frauenhäuser, weiterflüchten müssen, sehen sie sich nach wie vor mit strukturellen und institutionellen Hindernissen konfrontiert.
So dürfen von Gewalt betroffene Frauen den ihnen zugewiesenen Aufenthaltsort oft nicht ohne Weiteres verlassen. Wohnsitzauflagen und örtliche Bewegungseinschränkungen (»Residenzpflicht«) erschweren ihnen im akuten Fall den Zugang zu Schutzeinrichtungen: Denn dazu muss die Aufhebung der Auflage bei der Behörde beantragt werden, was regelmäßig mehrere Wochen dauert und mit überhöhten Anforderungen verbunden ist, die Gewalterfahrung glaubhaft zu machen. Zwar gibt es aufgrund des 2024 verabschiedeten Gewalthilfegesetzes künftig einen Rechtsanspruch auf Zugang zu Schutzräumen – ob der geflüchteten Frauen nützt, bleibt vor diesem Hintergrund jedoch mindestens fraglich.
Mit dem deutschen GEAS-Anpassungsgesetz wird die Situation für einen Teil der betroffenen Frauen noch deutlich schwieriger, denn es droht die Verschärfung der Residenzpflicht. Sie betrifft zum Beispiel Geflüchtete, die sich im europäischen Zuständigkeitsverfahren (alt: »Dublin-Verfahren«) befinden und sich deshalb in einem sogenannten Sekundärmigrationszentrum aufhalten müssen. Schon das unerlaubte Verlassen der Unterkunft soll künftig mit Sozialleistungsentzug sanktioniert werden können. Wie unter diesen Voraussetzungen gewaltbetroffene Frauen im Notfall schnelle und wirksame Hilfe erhalten sollen, ist völlig unklar.
Zugang zu Hilfe und Beratung?
Ähnlich gilt dies für sämtliche Beratungs- und Hilfsangebote für von Gewalt betroffene Frauen. Nach der Istanbul-Konvention müssen alle Unterstützungsangebote barrierefrei und diskriminierungsfrei zugänglich sein, auch für geflüchtete Frauen und Frauen und Mädchen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus. Das sind sie aber nicht – und unter den künftigen »Aufnahme«-Bedingungen von De-facto-Inhaftierung schon gar nicht.
Fortschreitender Sozialleistungsentzug
Wegen der nationalen Gesetzesverschärfungen in den letzten beiden Jahren kämpfen etliche Frauen mit drastisch verschlechterten Bedingungen der sozialen Versorgung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz – was bis hin zum völligen Unterkunfts- und Leistungsentzug geht. Im Februar 2025 hat PRO ASYL den Fall einer psychisch kranken Frau öffentlich gemacht, die von den Behörden auf die Straße gesetzt worden war – zuvor war sie Opfer von Gewalt geworden. Obwohl die Sozialgerichte diese Praxis in Eilverfahren regelmäßig stoppen, werden immer mehr Menschen, darunter auch Familien mit Kindern, von den Behörden die Sozialleistungen verweigert. Aber Armut schafft Abhängigkeitsverhältnisse, nimmt Möglichkeiten der Partizipation, fördert häusliche Gewalt und verschlechtert oft die sozial-ökonomische Gesamtlage. Auch hier bleibt aus Frauenperspektive nur die bittere Erkenntnis: Gewaltschutz sieht anders aus.
Verweigerte Asylverfahren, verweigerte Anerkennung
Wenn die Bundesregierung derzeit Asylsuchende an den Bundesgrenzen zurückweisen lässt, ohne sich weiter um ihr Wohlergehen und ein geregeltes Asylverfahren zu kümmern, verstößt sie damit schon heute nicht nur gegen das europäische Asylsystem, es droht auch die Verletzung der Istanbul-Konvention.
Artikel 60 der Istanbul-Konvention bekräftigt das Zurückweisungsverbot für Verfolgte, wie es die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) beinhaltet, ausdrücklich. Dazu gehört die Anerkennung geschlechtsspezifischer Gewalt als Fluchtgrund. Im vergangenen Jahr hat auch der Europäische Gerichtshof in mehreren wichtigen Entscheidungen klargestellt, dass Frauen, die (allein) aufgrund ihres Geschlechts verfolgt werden, den Flüchtlingsstatus erhalten können, und ausdrücklich eine Auslegung »im Lichte der Istanbul-Konvention« verlangt (Urteil vom Januar 2024, Urteil vom Oktober 2024.) Dennoch ist die aktuelle Anerkennungspraxis in Deutschland weiterhin restriktiv: Noch immer erkennen Behörden und Gerichte Frauen oft nicht als »soziale Gruppe« an und verweigern vielen von Gewalt betroffenen Frauen den Flüchtlingsstatus.
Forderungen an die Bundesregierung
Im Bereich Asyl und Migration empfiehlt das Bündnis Istanbul-Konvention der Bundesregierung unter anderem:
- eine Korrektur der Anerkennungspraxis gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union;
- bundesweit verbindliche Leitlinien zur Identifizierung von Betroffenen von Gewalt sowie Gewaltschutzkonzepte für alle Unterkünfte;
- verbindliche und einheitliche Maßnahmen zur Prävention und zum Schutz vor häuslicher und frauenspezifischer Gewalt in den Flüchtlingsunterkünften;
- Einführung eines gesetzlichen Anspruchs auf eine Befragung im Asylverfahren durch spezialisiertes Personal für gewaltbetroffene Antragsteller*innen;
- Verzicht auf die Einrichtung haftähnlicher Unterbringung für Dublin-Fälle und in anderen Ländern anerkannte Geflüchtete;
- Verzicht auf freiheitsbeschränkende Maßnahmen in den Unterkünften sowie auf Leistungsstreichungen oder ‑kürzungen.