06.10.2023
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Menschenwürde statt Degradierung Foto: Markus Spiske / Unsplash

Kein Ende der Debatte: Merz, Dürr, Söder und Co. wollen die Sozialleistungen für Geflüchtete kürzen. Doch das verbieten sowohl der menschliche Anstand als auch die Verfassung. Die aktuellen Äußerungen dagegen zeugen von Empathielosigkeit und völliger Unkenntnis der Lebensrealität von geflüchteten Menschen

Die Debat­te über die For­de­rung nach Sach­leis­tun­gen und nach Leis­tungs­kür­zun­gen für Geflüch­te­te reißt nicht ab. Vor allem aus der Bun­des-FDP kommt die For­de­rung nach Bezahl­kar­ten, um den Men­schen Bar­geld zu ent­zie­hen, CSU-Chef Söder hat eine sol­che Bezahl­kar­te für Bay­ern ange­kün­digt. Dass CDU-Chef Fried­rich Merz mit fal­schen Behaup­tun­gen über die angeb­li­che Vor­zugs­be­hand­lung von Geflüch­te­ten bei Zahn­ärz­ten ver­sucht hat, in der Öffent­lich­keit zu punk­ten, fiel noch weit­ge­hend auf ihn selbst zurück. Inzwi­schen hat er sich offen­bar über die Rechts­la­ge infor­mie­ren las­sen und for­dert jetzt, den Zeit­raum der nach dem Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz gekürz­ten Leis­tun­gen von der­zeit 18 Mona­ten erheb­lich auszudehnen.

All die­se Äuße­run­gen pas­sen in eine in Wahl­kampf­zei­ten auf­ge­heiz­te Flucht- und Migra­ti­ons­de­bat­te und sind offen­bar dem sinn­lo­sen Ver­such geschul­det, die poten­zi­el­le AFD-Wäh­ler­schaft mit nach rechts­au­ßen drif­ten­den, popu­lis­ti­schen Paro­len ein­zu­fan­gen. Dabei ent­beh­ren die For­de­run­gen nach Leis­tungs­kür­zun­gen jeg­li­cher Ver­nunft, Empa­thie und Mit­mensch­lich­keit und sind ein Angriff auf Arti­kel eins unse­rer Ver­fas­sung: die Menschenwürde.

Das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum

Aus der Ver­bin­dung von Arti­kel 1 (Men­schen­wür­de) mit Arti­kel 20 (Sozi­al­staats­prin­zip) ergibt sich das Recht jedes Men­schen auf ein men­schen­wür­di­ges Exis­tenz­mi­ni­mum – so hat es das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt 2012 fest­ge­hal­ten. Damals ver­ur­teil­te das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt die Grund­leis­tun­gen nach Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz als »evi­dent unzu­rei­chend« und hob sie auf annä­hernd das dama­li­ge »Hartz-IV«-Niveau an. In die­sem Zusam­men­hang mach­te das Ver­fas­sungs­ge­richt auch klar, dass der voll­stän­di­ge Ent­zug von Bar­geld nicht mit der Ver­fas­sung ver­ein­bar ist – ein Vor­schlag, den aus­ge­rech­net der Bun­des­jus­tiz­mi­nis­ter ernst­haft vor­brach­te. Zuletzt ver­ur­teil­te das höchs­te deut­sche Gericht eine erst 2019 ein­ge­führ­te 10-pro­zen­ti­ge Kür­zung der Grund­leis­tun­gen für allein­ste­hen­de Geflüch­te­te, die in »Gemein­schafts­un­ter­künf­ten« leben müs­sen, als ver­fas­sungs­wid­rig. Wei­te­re Ver­fah­ren gegen Asyl­be­wer­ber­leis­tun­gen sind vor dem Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt noch anhän­gig. Eine erneu­te oder wei­ter­ge­hen­de Kür­zung der Sozi­al­leis­tun­gen nach Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz dürf­te einer ver­fas­sungs­recht­li­chen Prü­fung nicht Stand halten.

Sachleistungen sind inakzeptabel

An Bedürf­ti­ge Sach­leis­tun­gen aus­zu­ge­ben anstel­le von Bar­geld, ist in mehr­fa­cher Hin­sicht inak­zep­ta­bel: Zum einen ent­mün­digt und dis­kri­mi­niert es die Betrof­fe­nen und zum ande­ren stellt es de fac­to eine Leis­tungs­kür­zung dar, weil Sach­leis­tun­gen nie den indi­vi­du­el­len Bedarf decken kön­nen, wie PRO ASYL und der Ber­li­ner Flücht­lings­rat 2022 umfas­send ana­ly­siert haben.  Bereits jetzt erhal­ten Geflüch­te­te vor allem in den Erst­auf­nah­me­ein­rich­tun­gen der Län­der neben einem Platz im Mehr­bett­zim­mer, Essen in der Kan­ti­ne, Hygie­ne­pa­ke­te und Klei­dung aus der Klei­der­kam­mer zumeist sehr wenig Bar­geld. Sach­leis­tun­gen sind über­dies durch den Ver­wal­tungs­auf­wand deut­lich teu­rer als die Gewäh­rung von Geld­leis­tun­gen. (Sie­he auch unse­re News War­um Sach­leis­tun­gen eine schlech­te Idee sind).

Kürzungen führen nicht zu weniger Asylsuchenden

Vor die­sem Hin­ter­grund ist auch die von Söder, Dürr, Merz und Co. vor­ge­brach­te Behaup­tung, die Zahl der Zuflucht­su­chen­den in Deutsch­land wür­den sich ver­rin­gern, wenn man die Lebens­be­din­gun­gen Geflüch­te­ter hier nur noch mise­ra­bler gestal­tet, falsch und als Begrün­dung unzulässig:

Men­schen flie­hen vor Kri­sen, Krieg oder Ver­fol­gung, allen vor­an aus Syri­en, Afgha­ni­stan oder der Tür­kei. Kei­ner die­ser Men­schen blie­be in sei­ner Not, weil er wüss­te, dass die Sozi­al­leis­tun­gen in Deutsch­land redu­ziert wären. Und auch mit Blick auf das Ziel­land hängt die Fra­ge, wo die Men­schen Schutz suchen, nicht pri­mär von der Fra­ge ab, ob es dort Gut­schei­ne oder Bezahl­kar­ten zum Über­le­ben gibt. Nach wis­sen­schaft­li­chen Unter­su­chun­gen, wie z.B. des Bun­des­amts für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge »War­um Deutsch­land?« spie­len dage­gen vor allem der Auf­ent­halts­ort von Freund*innen, Fami­lie oder Com­mu­ni­ty, die Spra­che, aber auch die mut­maß­li­chen Chan­cen auf dem Arbeits­markt eine grö­ße­re Rol­le. Sozi­al- und asyl­po­li­ti­sche Rege­lun­gen hin­ge­gen sind oft wenig bekannt und wir­ken sich nur bedingt auf sol­che Ent­schei­dun­gen aus.

»Die Men­schen­wür­de ist migra­ti­ons­po­li­tisch nicht zu relativieren«

Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt

Im Übri­gen setzt das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt auch mit Blick auf das vor­geb­li­che »Ziel« eine kla­re Gren­ze: »Die Men­schen­wür­de ist migra­ti­ons­po­li­tisch nicht zu rela­ti­vie­ren«, beschied das höchs­te deut­sche Gericht 2012. Mit ande­ren Wor­ten: Sozi­al­leis­tun­gen dür­fen gar nicht gekürzt wer­den, um Men­schen von der Zuflucht nach Deutsch­land abzuhalten.

Men­schen­wür­de statt Degradierung 

Rich­tig ist, dass die Sozi­al­leis­tungs­sys­te­me in den EU-Staa­ten unter­schied­lich aus­ge­prägt sind. Des­halb suchen auch sol­che Men­schen in Deutsch­land Schutz, die etwa schon in Ita­li­en oder Grie­chen­land Asyl gesucht haben, aber ohne Dach über dem Kopf und ohne Nah­rungs­ver­sor­gung auf der Stra­ße leben muss­ten. Aus die­sem Grund ver­hin­dern deut­sche Gerich­te zum Teil ihre Rück­schie­bung in ande­re Staa­ten Euro­pas, beson­ders wenn es sich um kran­ke oder beson­ders ver­letz­li­che Men­schen handelt.

Wir kön­nen stolz dar­auf sein, dass unse­re Ver­fas­sung und unse­re Geset­ze es nicht zulas­sen, dass Geflüch­te­te hier ein­fach auf die Stra­ße gesetzt und dem Hun­ger oder der Aus­beu­tung durch Kri­mi­nel­le über­las­sen wer­den. Die ein­zi­ge Lösung für die sozia­le Schief­la­ge liegt in einem soli­da­ri­schen und men­schen­wür­di­gen Euro­pa – und nicht in einem Wett­streit der Staa­ten um die mie­ses­te Behand­lung von schutz­su­chen­den Menschen.

Das Argu­ment, ver­hin­dern zu wol­len, dass Men­schen von ihrer Sozi­al­hil­fe Geld an ihre Fami­li­en oder Schlep­per in der Hei­mat schi­cken, zeugt davon, dass die­je­ni­gen, die das behaup­ten, kei­ne Vor­stel­lung davon haben, wie weit man als erwach­se­ner Mensch mit 182 Euro Bar­geld im Monat kommt. Rea­lis­tisch wird es, der in Not zurück­ge­blie­be­nen Fami­lie Geld zukom­men zu las­sen, wenn Men­schen hier aus­rei­chend Geld ver­die­nen kön­nen – aber nicht vor­her. Nach der jetzt bereits vor­han­de­nen Sach­leis­tungs­pra­xis und den gel­ten­den Regel­sät­zen des Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­set­zes ist die Behaup­tung rele­van­ter Geld­trans­fers schlicht realitätsfern.

Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen!

Das Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz war von Anfang an als Instru­ment zur Abschre­ckung von Geflüch­te­ten gedacht. Seit sei­nem Bestehen wen­den sich sämt­li­che Fach­ver­bän­de gegen die dis­kri­mi­nie­ren­de Ungleich­be­hand­lung – bis heu­te. 2023, im 30. Jahr sei­nes Bestehens, for­dern über 200 Orga­ni­sa­tio­nen, dar­un­ter bun­des­wei­te Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen, Wohl­fahrts­ver­bän­de und Anwält*innenverbände, glei­che Stan­dards für alle: Das Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz muss abge­schafft und die Betrof­fe­nen müs­sen in das regu­lä­re Sozi­al­leis­tungs­sys­tem ein­ge­glie­dert werden.

(ak)